Im November 1919 beschließt der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei die Einrichtung einer eigenen Kunststelle. Mit ihrer Leitung wird der Kulturredakteur der Arbeiter-Zeitung David Josef Bach betraut.
Der 1874 in Lemberg geborene David Josef Bach wird nach seinem Studium in Wien Nachfolger von Josef Scheu als Musikkritiker der Arbeiter-Zeitung, wo er sich für die zeitgenössische „Neue Musik“ einsetzt.
1905 initiiert Bach die legendär gewordenen Arbeiter-Symphoniekonzerte. Das erste Konzert findet am 29. Dezember im Großen Musikvereinssaal statt und wird zu einem unvergesslichen Ereignis mit großer Symbolkraft: Die Wiener Arbeiterschaft hatte den Zugang zu den Stätten und Inhalten bürgerlicher Kultur errungen.
Das ist eine revolutionäre Tat im rechten Sinne des Wortes. Alle Kunst, alle echte große Kunst ist revolutionär, das heißt über die Gegenwart hinaus in die Zukunft weisend, neue Elemente schaffend. Eine Beethoven-Sinfonie ist ewig, ist revolutionär, und Goethes Iphigenie ist es auch. Danach haben wir unsere Kunstpolitik gerichtet, nicht nach dem, was sich für modern oder revolutionär schon deshalb hält, weil es dieses Wort ausspricht oder sich so gebärdet. Der Sozialismus, der sich als Träger der Zukunft fühlt, seiner Sendung sich bewusst ist, wird allemal die Kunst wählen, die in die Zukunft weist, auch wenn sie in vergangener Zeit entstanden ist; er wählt die Zukunft und nicht die Gegenwart.
Am Höhepunkt der Konzerttätigkeit vor dem Ersten Weltkrieg besuchen über 10.000 Menschen jährlich die Veranstaltungen, die auch in anderen Sälen, v.a. in den großen Arbeiterheimen, geboten werden.
1906 folgt – nach dem seit 1890 bestehenden Berliner Vorbild – die Gründung der Wiener Freien Volksbühne, deren Ziel es ist, der Arbeiterschaft den Besuch von anspruchsvollen und leistbaren Theatervorstellungen zu ermöglichen, und die auch eine eigene Kulturzeitschrift, „Der Strom“, herausgibt.
Im Juni 1919 entscheidet der Wiener Gemeinderat, von sämtlichen Aufführungen, Wettbewerben, Belustigungen und sonstigen Darbietungen 10 Prozent „Lustbarkeitsabgabe“ einzuheben, um damit Musik- und Theaterveranstaltungen für Arbeiter, Angestellte, Lehrlinge und Schüler zu subventionieren. Dies führt zur Gründung mehrerer Kunststellen, die entweder parteipolitisch geprägt oder an berufsständische Interessensvertretungen gebunden sind.
Die Kunststellen der Parteien – Sozialdemokraten, Christlichsoziale, Deutschnationale – übernehmen eine zentrale Vermittlungs- und Organisationsfunktion durch den Ankauf größerer Kartenkontingente. Die Sozialdemokratische Kunststelle sieht ihre vorrangige Aufgabe darin, den Arbeiterinnen und Arbeitern Zugang zu einem kulturellen Angebot zu ermöglichen, das ihnen bis dahin verschlossen geblieben war. Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, gibt es nur einen Mann – David Josef Bach. Die Arbeiter-Symphoniekonzerte stehen somit an der „Wiege“ der Kunststelle.
Angeboten werden Museumsführungen, Tanzveranstaltungen, Filmvorführungen, kulturpolitische Vorträge und Dichterlesungen, wie z.B. jene von Karl Kraus, und natürlich die Vermittlung verbilligter Theaterkarten, mit deren Vertrieb sich die Kunststelle einen gewissen Einfluss auf die Programmgestaltung sichern kann.
Bald ist die Sozialdemokratische Kunststelle die mit Abstand größte und zählt 1922 bereits 40.000 Mitglieder. 1924 verkauft sie rund zwei Millionen Eintrittskarten, davon 1,4 Millionen für Theateraufführungen, 377.000 für Oper und Operette, 200.000 für Orchesterkonzerte.
Über seine Arbeit in der Kunststelle schreibt Bach: Es sollten die Bestrebungen nach künstlerischer Volkserziehung innerhalb der geistigen und manuellen Arbeiterschaft zusammengefasst und einheitlich geführt werden, um dem Kunstwillen des Volkes Wirkung und Verwirklichung zu schaffen. Nach uns, nach unserem Muster, haben sich dann andere, kleinere Gruppen zusammengetan, teils nach beruflicher, teils nach politischer Zusammengehörigkeit, die auch den Namen Kunststelle von uns übernommen haben. Wir haben es alle anderen gelehrt, den Anspruch des Volksganzen auf die Kunst nicht preiszugeben.
Neben Konzerten mit anspruchsvoller „ernster“ Musik von Bach bis Beethoven wird das Publikum auch mit der Musik von Arnold Schönberg – mit dem David Josef Bach persönlich befreundet ist – konfrontiert.
Von 1922 bis 1934 leitet der Schönberg-Schüler Anton Webern, der als Dirigent beim Österreichischen Rundfunk auch für die „Neue Musik“ zuständig ist, die Wiener Arbeiter-Symphoniekonzerte und ab 1923 den Arbeitersingverein. Unter seiner Führung entwickelt sich der gemischte Chor bald zu einem der wichtigsten des Wiener Musiklebens und wirkt bei zahlreichen Chor-Orchester-Produktionen im Rahmen der Arbeiter-Symphoniekonzerte mit. Besonders großer Beliebtheit erfreut sich die Musik Gustav Mahlers, der durch die Arbeiter-Symphoniekonzerte zum meistaufgeführten neuen Komponisten avanciert.
Ende der 1920er Jahre richtet die Kunststelle ein eigenes Kammerorchester unter der Leitung eines weiteren Schönberg-Schülers, dem Musikredakteur der Arbeiter-Zeitung Paul A. Pisk, ein. Die Kunststelle engagiert sich aber auch für das aktive Musizieren.
Der Verein für volkstümliche Musikpflege, gegründet im Mai 1919, fungiert als eine Art Volks-Konservatorium, in dem bis zu dreißig Lehrende fast 500 Schüler und Schülerinnen in insgesamt 39 Kursen unterrichten. Die Kunststelle unterhält einen eigenen Sprechchor und organisiert Kurse für rhythmische Gymnastik.
Die damals beliebten Sprechchöre treten auch im Rahmen der sozialdemokratischen Fest- und Feierkultur, etwa bei den Feiern zum 1. Mai oder anderen Großveranstaltungen, auf. 1928 wird sogar eine eigene Abteilung für Arbeiterfeste eingerichtet, deren Leitung Josef Luitpold Stern übernimmt.
Ab Mitte der 1920er Jahre konzentriert sich die Kunststelle auf Theater- und Operettenaufführungen im Raimundtheater sowie im Deutschen Volkstheater. Das Vorhaben, im Carltheater in der Praterstraße eine sozialistische Bühne zu etablieren, scheitert am mangelnden Publikumsinteresse.
Bach belässt es jedoch nicht bei der „Eroberung“ der Hochkulturstätten. Er fördert auch zahlreiche Wanderbühnen, die „Volkstheater“, aber auch revolutionäres Agitproptheater in die Arbeiterbezirke, die über keine etablierten Häuser verfügen, bringen sollen.
Begleitet wird diese Kulturoffensive durch die Publikation kulturpolitischer Zeitschriften wie „Bildungsarbeit“ oder „Kunst und Volk“. Besonders in letzterer werden nicht nur die von der Kunststelle ausgewählten Werke vorgestellt und besprochen, sondern auch inhaltliche Auseinandersetzungen geführt. Dabei prallen nicht selten traditionelle Positionen der Arbeitsbildungsbewegung mit modernen, wie dem von Robert Ehrenzweig begründeten „Politischen Kabarett“ oder den von Fritz Rosenfeld vorgestellten avantgardistischen Filmen aufeinander.
Die kulturpolitische Tätigkeit der Sozialdemokratischen Kunststelle ist, wie gerade diese Debatten zeigen, eine Gratwanderung zwischen dem Anspruch auf Vermittlung der etablierten Hochkultur, der Förderung der zeitgenössischen, aber auch der sozialistisch motivierten Kunst und dem zum Teil doch recht konservativen Ansprüchen des Publikums und den kommerziellen Interessen der Wiener Theater- und Konzertveranstalter.
Die harscheste Kritik an den Aktivitäten der Sozialdemokratischen Kunststelle kommt, wenig überraschend, nicht von „bürgerlich“-konservativer Seite, sondern von links. In der kommunistischen Roten Fahne von 19. Februar 1926 heißt es, die Arbeiter-Symphoniekonzerte seien „sicherlich die einzigen Veranstaltungen der sozialdemokratischen ‚Kunststelle‘, die sich bisher von Kitsch haben frei halten können“.
Wenig später urteilt Otto Pragan im selben Medium: Während sie in ihrer Politik, Theorie und Wissenschaft eine […] eigene Methode, den berüchtigten Austro-Marxismus entwickelt hat, unterscheidet sie sich in ihrer Kunstpolitik in nichts von den Revisionisten ärgsten Schlages. Letztlich sei diese sozialdemokratische Kultur nichts anderes „als der ödeste Abklatsch der bourgeoisen Kunst.“
Das letzte Konzert der Sozialdemokratischen Kunststelle findet übrigens am 11. Februar 1934 – dem Vorabend der Februarkämpfe – im Großen Musikvereinssaal statt.
David Josef Bach muss Österreich 1938 verlassen. Er emigriert nach England und lebt ab 1940 in London, wo er regelmäßig „kulturelle Abende“ im Klub der österreichischen Sozialisten organisiert. Nach Kriegsende wird nichts unternommen, um Bach eine Heimkehr zu ermöglichen.
Literatur: D. J. Bach, Kunst und Volk. Eine Festgabe der Kunststelle (1923); Alfred Markowitz: Die soziale Bedeutung der Kunst. In: Der Kampf 1927, 96-97; Oskar Pollak: Warum haben wir keine sozialdemokratische Kunstpolitik? In: Der Kampf, 1929, 83-86; Henriette Kotlan-Werner, Kunst und Volk, David Josef Bach 1874-1947, 1977; Harald Troch (Hrsg.): Wissen ist Macht! Zur Geschichte sozialdemokratischer Bildungsarbeit, 1997.