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Aktuelle Seite: Aus den Steuern der Stundenhotels
0051 | 11. DEZEMBER 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Aus den Steuern der Stundenhotels

Zur Eröffnung des neuen Entbindungs­heimes der Stadt Wien

Am 11. Dezember 1926 wird das ehemalige Brigittaspital nach umfangreichen Umbauarbeiten als neues Entbindungsheim der Stadt Wien wiedereröffnet. Es ist nur einer von vielen kleinen Mosaiksteinen zur Senkung der Säuglingssterblichkeit in Wien, die nach Kriegsende noch bei 15 Prozent liegt.

1909 eröffnet der Verband der Krankenkassen in der Peter-Jordan-Straße die erste „Arbeiterinnen­gebähranstalt“ der Welt. Die meisten Geburten finden damals noch zu Hause statt, wie Marianne Pollak in der Arbeiter-Zeitung schildert: Ratlos, mit weit aufgerissenen Augen stehen die Kinder um die Mutter, die sich in Qualen vor ihnen windet; draußen in der Küche wäscht die Hebamme die Instrumente in einem Kochtopf; eine Nachbarin schaut neugierig bei der Tür herein; der Mann, die Pfeife im Mund, kommt mit einer heißen Tasse Tee ans Bett.

Im ersten Monat entbinden gerade einmal sechs Frauen im neuen Frauenhospiz. 1928 erblickt hier bereits das 20.000ste Arbeiterkind das Licht der Welt. Auch in anderen ähnlichen Anstalten steigen die Geburtenzahlen stark an. 1922 bringen etwa 40 Prozent der bei der Allgemeinen Arbeiterkrankenkasse versicherten Frauen ihre Kinder in Entbindungsanstalten zur Welt, 1924 sind es bereits 54 Prozent. Geburten in muffigen, finsteren, überbevölkerten und infektiösen Wohnungen nehmen also dank der organisierten Aktion von Kranken­kassen und Gemeinden immer mehr ab. Das bedeutet: für Mutter und Kind sinken Gefahrenmoment und Sterblichkeitsziffer!

Ein Verein zur Errichtung eines Spitals

Die Anfänge des Brigittaspitals gehen auf eine private Initiative zurück. Im Oktober 1914 eröffnet der „Verein zur Begründung und Errichtung eines Spitales im XX. Wiener Gemeindebezirke, Brigittaspital“ dieses mit 37 Betten.

Nach dem Krieg gerät das private Spital in finanzielle Turbulenzen und wird 1924 von der Gemeinde übernommen, die es nach Plänen des Architekten Josef Joachim Mayer um- und erheblich ausbauen lässt. Architektonisch fügt sich das neue Entbindungsheim in der Pasettistraße in den zeitgleich errichteten Winarskyhof ein: Das stattliche Gebäude ist in den mächtigen Wohnbaukomplex des Winarsky-Hofes eingebaut und gibt mit ihm ein Stadtbild von monumentaler Wirkung.

Den Müttern des Volkes für ihre schwerste Stunde!

… von der Stadt betreut und behütet, gepflegt und befürsorgt

An der Fassade des neuen Entbindungsheimes verewigt sich Stadtrat Julius Tandler mit folgender Widmung: Die Sorge für die Existenz und das Wohlergehen der nächsten Generation ist die vornehmste Aufgabe zielstrebiger Fürsorge. Den großen Ring der Jugendfürsorgeanstalten schließt würdig dieses Haus, in welchem Mütter ihre Kinder unter den denkbar besten Bedingungen, unter der Obhut des Arztes und dem Beistand der Pflegerin, auf die Welt bringen sollen. Daher widmet die Gemeinde dieses Haus als Entbindungsheim den Müttern des Volkes, damit sie in diesem Hause die schwerste Stunde ihres Lebens, von der Stadt betreut und behütet, gepflegt und befürsorgt, überstehen und der Stadt zukünftige, kräftige, freie Bürger gebären mögen.

Die engagierte Frauenrechtlerin Marianne Pollak möchte das nicht unkommentiert stehen lassen: Bei den Damen nennt man das die „schwerste Stunde“, mit Sanatorien, Krankenschwestern, Blumen und Geschenken als mildernden Beigaben. Bei den „gewöhnlichen Frauen“ sei die Geburt nur ein „natürlicher Vorgang“, der sich in die „Tausendfältigkeit” der täglichen Pflichten einzuordnen hätte.

Der Jockey im Stundenhotel

Entbindungsheime sind Tempel der Mutterschaft. Vernünftigerweise müßte sich jede Geburt unter allen Vorkehrungen der Hygiene und der Wissenschaft überhaupt vollziehen. Wir brauchten also viele solcher Tempel.Karl Seitz

Die Kosten für die Errichtung des Entbindungsheimes werden übrigens – so Stadtrat Hugo Breitner in seiner legendär gewordenen Rede – mit den Steuern der Stunden­hotels aufgebracht: Mögen sich die Christlichsozialen mit ihren Anträgen nur die Gunst und die Stimmen der Besitzer der Wiener Stundenhotels erwerben. Jede Frau aus dem Volke aber, die in dem aus der Steuer der Stundenhotels geschaffenen Entbindungsheim gewesen ist, wird diese Einrichtung nie vergessen. Aber auch um die Betriebskosten dieses Entbindungsheims braucht uns nicht bange zu sein, so Breitner, würden diese doch vom Jockeyklub durch die Besteuerung der Pferderennen bezahlt.

Der Tempel der Mutterschaft

Die feierliche Eröffnung des neuen Brigittaspitals erfolgt am 11. Dezember 1926. Zu diesem Zeitpunkt beherbergt das Heim 24 Mütter mit ihren Säuglingen, insgesamt verfügt es über 123 Betten.

Mit Absicht sind alle dekorativen Ornamente und jede bildhauerische Ausschmückung vermieden worden. […] Zweckmäßig und schön wie die äußere Anlage aller Räume ist auch die Innenausstattung. Sämtliche Räume, mit Ausnahme der Wohnräume, sind in hellen Farben gehalten, berichtet die Arbeiter-Zeitung.

Ein Rundgang durch das Gebäude

Verwaltungskanzlei und Aufnahme befinden sich im Erdgeschoß. Gegen vorherige Bezahlung der Verpflegungskosten für jeweils zehn Tage werden Schwangere ohne Unterschied der Heimatszuständigkeit aufgenommen. Für mittellose Frauen ist die Wiener Heimatsberechtigung Voraussetzung für die kostenlose Aufnahme. Mittellose Frauen, die nicht nach Wien zuständig sind, werden nur dann aufgenommen, wenn die Aufnahme sofort notwendig ist.

Außerdem sind hier ein kleiner Operationssaal, fünf Kreißzimmer mit acht Betten und ein Röntgenraum untergebracht. Im ersten und zweiten Stock gibt es Wöchnerinnen- und Krankenzimmer – mit einem, zwei, vier oder sechs Betten. Alle Krankenzimmer sind mit Signalanlagen ausgestattet, von jedem Bett aus kann eine rote Alarmlampe zum Leuchten gebracht werden. Darüber hinaus gibt zwei große Operationssäle, eine Spitalsbücherei und eine offene Terrasse mit Sitzgelegenheiten.

Ganz besonders reizvoll findet Marianne Pollak die Säuglingszimmer, diese strahlend hellen Säle, in denen jeder quiekende kleine „Patient“ stolz in seiner Glaskoje liegt, über sich das Glaskästchen mit eigener Puderbüchse und eigenem Lutscher. Wer weiß, zu Hause müßte das Kind vielleicht mit einem alten Wäschekorb vorliebnehmen…

Es bestehen drei Verpflegungskassen.

Die Küche ist im Kellergeschoß des Gebäudes untergebracht; die Mahlzeiten gelangen mit einem Speisenaufzug bis in den letzten Stock. Die Verpflegungskosten betragen 15 S täglich in der ersten Klasse, 11 S in der zweiten und 7 S 50 g in der dritten Klasse. Die Gemeinde gibt aber nur sechs Prozent der Betten in jeder der beiden Abteilungen für die zwei höheren Klassen frei, und auch die nur dann, wenn diese Betten nicht für die allgemeinen Gebührenklassen benötigt werden. Die Anstalt ist eben in allererster Linie für die breiten Schichten bestimmt.

Inmitten des Proletarierbezirkes

Wir haben das Heim inmitten eines Proletarierbezirkes gebaut, weil im Proletariat die Wohnungsverhältnisse besonders schlimm sind, und weil wir wollen, daß die Frauen die Garantie haben, ohne Gefährdung ihrer Gesundheit und ihres Lebens hier entbinden zu können, erklärt Bürgermeister Karl Seitz in seiner Eröffnungsrede und verweist darauf, dass auch ledige Mütter hier Aufnahme fänden – und keine der anderen Frauen wird sie geringer achten.

Tatsächlich gelingt es dem Roten Wien durch die systematische „Hospitalisierung” der Geburten die Säuglingssterblichkeit innerhalb weniger Jahre zu halbieren. Erreicht wird dies auch durch ein dichtes Netz an Mutterberatungsstellen – 1930 werden 240.000 Beratungsgespräche durchgeführt –, mittels der „Mutterhilfe”, einem vierwöchigen Betrag von je zehn Schilling, sowie durch die Einführung des Säuglingswäschepakets.

Anfang der 1930er Jahre kommen bereits 90 Prozent der Wiener Kinder unter den hygienisch einwandfreien Bedingungen der Geburtskliniken zur Welt.

JULIUS TANDLER

Sonderausstellung im Waschsalon 2016/17

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