Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Aussprechen, was ist
0089 | 20. NOVEMBER 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Aussprechen, was ist

Am 20. November 1942 stirbt die österreichische Sozialwissen­schafterin Helene Bauer im kalifornischen Berkeley. Die Frau „an Otto Bauers Seite“ verfügt selbst über umfassende Bildung und einen scharfen Verstand.

Helene Gumplowicz wird 1871 in der damals zu Österreich gehörenden polnischen Stadt Krakau geboren, wo ihr Vater Buchhändler und Inhaber einer Leihbibliothek ist. Sie selbst soll, so der Journalist Alfred Magaziner, eine der eifrigsten Benützerinnen der väterlichen Bücherei gewesen sein und las bereits als Kind sowohl polnische als auch deutsche und französische Bücher durcheinander und sammelte so in vergnüglicher und verhältnismäßig müheloser Weise eine Menge Wissen an.

Die Familie entstammt einer alteingesessenen Dynastie galizischer Rabbiner und bringt eine Reihe bedeutender Persönlichkeiten hervor. Am bekanntesten ist Helenes Onkel Ludwig Gumplowicz (1838–1909), einer der Pioniere der europäischen Soziologie. Gumplowicz' Thesen sind von einem tiefen Pessimismus gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Karl Marx glaubt er nicht an eine stetige historische Weiter­entwicklung des Menschen. Das „soziale Naturgesetz“ besage vielmehr, dass jedes mächtigere ethnische oder soziale Element danach strebt, das in seinem Machtbereich befindliche oder dahin gelangende schwächere Element seinen Zwecken dienstbar zu machen. Krieg, Unterjochung und Ausbeutung seien deshalb auch in Zukunft nicht auszulöschen. Realpolitisch tritt Gumplowicz für die Freiheit unterdrückter Nationen ein, nicht nur der Polen, sondern etwa auch der Italiener in der Habsburger-Monarchie, weshalb er in Italien deutlich positiver rezipiert wird, als in Österreich-Ungarn.

Frau Doktor

Helene Gumplowicz absolviert das Lehrerinnenseminar in Krakau und studiert anschließend Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Wien. Da in Österreich ein juristisches Doktorat für Frauen noch unmöglich ist, schließt sie ihre Studien in der Schweiz ab, wo sie 1905 mit der Dissertation „Die Entwicklung des Warenhandels in Österreich – ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des Absolutismus“ zum „Doktor“ der Staatswissenschaften promoviert.

Noch während des Studiums heiratet sie 1895 den angehenden Rechtsanwalt Max Landau, mit dem sie eine Tochter und zwei Söhne bekommen wird. Helene, die sich bereits in Krakau der sozialistischen Bewegung angeschlossen und unter dem Pseudonym „Ławska" politisch-agitatorische Beiträge veröffentlicht hatte, knüpft nach der Übersiedlung der Familie nach Wien Kontakte mit Vertretern der österreichischen Arbeiterbewegung. In ihrer Wohnung in der Laudongasse, die ein Treffpunkt der sozialistischen polnischen Exilanten ist, macht sie auch Bekanntschaft mit Karl Renner und Otto Bauer.

Die Frau an seiner Seite

1911 übersiedelt Max Landau gemeinsam mit den Kindern nach Lemberg, Helene bleibt „studienbedingt“ in Wien zurück und arbeitet unter der Leitung von Otto Bauer als Redakteurin bei der Zeitschrift Der Kampf. Sie schließt sich den linken Kriegsgegnern um Friedrich Adler an, lässt sich im Oktober 1918 von Max Landau scheiden und heiratet Anfang 1920 ihren aus russischer Kriegsge­fangenschaft zurückgekehrten, zehn Jahre jüngeren Lebensgefährten Otto Bauer.

Als „die Frau an seiner Seite“ steht sie meist im Schatten ihres berühmten Mannes, und das, obwohl Helene eine überaus belesene Frau mit umfassender Bildung und scharfem Verstand ist. Sie unterrichtet, neben Max Adler, Otto BauerOtto Neurath, Karl Renner, Josef Luitpold Stern und anderen, an der Arbeiterhoch­schule in Döbling, ist Gründerin und Leiterin der Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft für Wirtschaft und Politik und Mitglied des Wiener Stadtschulrates, des maßgeblichen Gremiums der Wiener Schulreform.

In ihren sozialwissenschaftlichen und journalistischen Veröffentlichungen, die sich mit einer großen Bandbreite von Themen, von Fragen der Familien- und Frauenpolitik, der Nationalökonomie und der Weltwirtschaft, aber auch mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen beschäftigen, übt sie scharfe Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, aber auch an so manchem Mitstreiter.

Umfassend gebildet

In „Aussprechen, was ist. Zur Gründung der neuen Linken“ (Der Kampf, 1919/15), verteidigt sie den Eintritt der Sozialdemokratie in eine Koalition mit den Bürgerlichen und ruft den Kritikern innerhalb der Linken zu: Der Verzicht auf die revolutionäre Phrase ist vielen schwer... In „Zur Frage der proletarischen Agrarpolitik“ (Der Kampf, 1921/1) schreibt sie:  Die [...] Vernachlässigung des flachen Landes bedeutete für die Sozialdemokratie nicht nur den Verzicht auf die Gewinnung breiter Schichten, die bisher dem politischen Leben fernstanden, sondern auch ihre Preisgabe zugunsten eines gefährlichen Gegners!

Dem National­ökonomen Othmar Spann, einem der theoretischen Wegbereiter des Austrofaschismus, schleudert sie in „Herrn Othmar Spanns Tischlein-deck-dich“ (Der Kampf, 1922/6) entgegen: Auch die übrigen Einwände Spanns [...] sind so grotesk, daß ihr Entstehen nur durch die Annahme eines konsequenten Nicht-weiter-Lesens überhaupt möglich erscheint.

In „Ehe und soziale Schichtung“ (Der Kampf, 1927/7) versucht sie ihren Genossen ein differenziertes Bild „der Ehe“ zu vermitteln, denn aus dem Nebeneinander und Durcheinander von alten, neuen und neuesten Formen im Kapitalismus ergibt sich eine Vielgestaltigkeit der Lebensformen, also auch eine Vielheit der Ehen...

Und zum „Geburtenrückgang“ schreibt sie in Der Kampf (1928/4): Die Verhütung der Empfängnis ist ein Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit, das heißt ein Stück der bewußten Lebensgestaltung. Der Kapitalismus hat sie erzwungen und wird sie nicht mehr los, weil er der arbeitenden und denkenden Frau zu wenig Raum und zu wenig Illusionen für Mutterfreuden übrig läßt.

Flucht und Exil

1934 fliehen Helene und Otto Bauer nach Brünn, beide setzen die Arbeit an den in Österreich bereits verbotenen Zeitschriften Der Kampf und Arbeiter-Zeitung fort. 1938 geht das Paar nach Paris, wo Otto Bauer im Juli des Jahres einem Herzinfarkt erliegt. Helene Bauer übersiedelt 1939 zu ihrer Tochter Wanda Lanzer (1896–1980) nach Stockholm und emigriert 1941 schließlich in die USA.

Der spätere Nationalrats­abgeordnete Ernst Winkler, der selbst die Arbeiterhochschule absolviert hatte, beschreibt 1967 in einem Artikel „Helene Bauers letzte Lebenstage“: Nun lebte sie an ihrem Lebensabend in einem Lande, wo es fast keine sozialistische Bewegung gibt; und sie lebte in einer kleinen Stadt, die nach ihren eigenen Worten‚ so ruhig ist, daß sich hier nicht einmal die Hunde laut zu bellen getrauen.

Helene Bauers sterbliche Überreste werden 1950 gemeinsam mit der Urne Otto Bauers in jenem Ehrengrab am Wiener Zentral­friedhof bestattet, das 1926 von Hubert Gessner für Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer geschaffen worden war. 2014 wird die Verkehrs­fläche vor dem Café Sperl in der Lehargasse Helene-Bauer-Platz benannt. Die frühere Kasernengasse, in der das Ehepaar Bauer lange Zeit gewohnt hatte, heißt seit 1949 Otto-Bauer-Gasse.

Literatur
Dvorák, Johann (2002): Helene Bauer, geb. Gumplowicz. In: Brigitta Keintzel, Ilse Korotin (Hrsg.), Wissenschafterinnen in und aus Österreich; Hofstadler, Annemarie (2006): Helene Bauer im Spiegel ihrer publizistischen Tätigkeit 1918–1940. In: Andrea M. Lauritsch (Hrsg.): Zions Töchter. Jüdische Frauen in Literatur, Kunst und Politik; Winkler, Ernst (1967): Helene Bauers letzte Lebenstage. In: Auf den Zinnen der Partei. Ausgewählte Schriften.

OTTO BAUER

„Nicht die Köpfe einschlagen, die Köpfe gewinnen!“

Fuss ...