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Aktuelle Seite: „Das Bad im Proletenviertel.“
0026 | 8. JULI 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Das Bad im Proletenviertel.“

Es ist ein neues Geschlecht, das da nicht mehr „an der schönen blauen Donau“ heranwächst.

Parallel zur kommunalen Wohnbautätigkeit entwickelt die sozialdemokratische Stadt­verwaltung ein Bäderkonzept, das den hygienischen Erfordernissen einer Millionenmetropole Rechnung trägt.

Ein Symbol des Aufstiegs der Arbeiterklasse zu neuer Kultur.
Stadtrat Franz Siegel

Beispielgebend ist das in den Jahren 1923 bis 1926 errichtete Amalienbad in Favoriten, benannt nach der 1924 verstorbenen Wiener Gemeinderätin Amalie Pölzer: Früher, da hießen in Favoriten die Plätze nach den Mitgliedern der Familie Habsburg, die freilich den schmutzigen Proletenbezirk niemals betraten. Jetzt gibt es einen Viktor Adlerplatz [sic!], einen Reumannplatz und ein Amalienbad, das nicht nach einer Erzherzogin heißt, sondern nach einer Arbeiterin, schreibt die Arbeiter-Zeitung.

Und: Die Zinskasernen, Zeichen der Hausherrenherrlichkeit, von Anno dazumal, stehen noch. […] Aber zwischen den alten Zinshäusern erheben sich schon ein paar der neuen Volkswohnpaläste der Gemeinde. Und über die Gassen des Bezirkes, an dessen Elend Viktor Adler zum Sozialisten geworden ist, reckt sich stolz einer der schönsten neuen Bauten des neuen Wien: das Amalienbad.

Sport und Arbeiterklasse

Vom 4. bis zum 11. Juli 1926 findet in Wien das erste österreichische Arbeiter-Turn- und Sportfest statt, zu dem 60.000 Gäste aus den Bundesländern, aber auch aus Deutschland, Lettland, Belgien, der Schweiz, der Tschechoslowakei, Ungarn, Polen und Jugoslawien in die Bundeshauptstadt strömen.

Als Glanzpunkt der Sportwoche wird am 8. Juli 1926 das Amalienbad mit einem internationalen Schwimmeeting – Bewerben in Brust- und Rückenschwimmen, Kunst- und Turmspringen – eröffnet.

Die offizielle Feier findet aus Platzgründen auf dem Vorplatz statt. Bürgermeister Karl Seitz hält die Ansprache, der Arbeiter­sängerbund Favoriten trägt einen Festgesang von Josef Scheu vor, die Musikkapelle der städtischen Straßenbahnen einen festlichen Marsch.

Julius Tandler auf schwankender Grundlage

Die Begrüßungsansprache in der großen Schwimmhalle muss vom Fünfmetersprungbrett aus gehalten werden. Bravorufe und Hände­klatschen belohnten die Fixheit, mit der Stadtrat Tandler die unfreiwillige sportliche Übung des Hinaufkletterns vollführte. Oben angelangt, mußte er gestehen, daß er als Vertreter der Gemeinde Wien noch niemals auf so schwankender Grundlage gestanden sei, versprach aber, trotz der feuchten Umgebung in seiner Rede nicht zu „schwimmen“.

Die größte und modernste Sportschwimmhalle

Die Schwimmhalle ist das Prunk­stück des neuen Bades. Der Plan für die Schwimmhalle ist mit besonderer Rücksicht auf ihre Verwendung als Sportbad ausgearbeitet worden. Das Schwimmbassin ist 33,3 Meter lang und 12,5 Meter breit, so dass sechs Teilnehmer nebeneinander starten können und drei Längen 100 Meter ergeben. Für Staunen sorgt das große Glasdach über dem Bassin, das innerhalb von nur drei Minuten geöffnet werden kann.


In der Schwimmhalle finden 553 Besucherinnen und Besucher gleichzeitig Platz – genau so viele Umkleidegelegenheiten gibt es. Um Beschmutzungen hintanzuhalten, dürfen mit Schuhen Bekleidete und Bloßfüßige nicht dieselben Räume betreten. Die Kabinen sind zweiseitig zu öffnen, werden hinten betreten und vorne bloßfüßig verlassen. Links haben die Männer und rechts die Frauen ihre Abgangsstiegen. Beide sind gezwungen ein Reinigungsbad zu passieren, wo Duschen und Fußwannen zur Verfügung stehen. Aber auch an jene, die diesen Brausen ausweichen, wurde gedacht. Die Schwimmhalle ist nur durch sogenannte Fußbecken erreichbar. Hier werden die Füße freiwillig oder unfreiwillig gewaschen, denn nur gereinigten Fußes betritt man die große Halle.

Ein Bad der Schönheit, der Größe und der Zweckmäßigkeit

Auch sonst spielt das Amalienbad alle Stückeln. Im Untergeschoß gibt es Kohlensäure-, Sauerstoff- und Luftperlbäder, elektrische Bäder, Schlamm-, Sol- und andere Zusatzbäder. Im Erdgeschoß sind die Dampfbäder mit Kalt- und Warmwasserbassins, die Räume für Massage, Hand- und Fußpflege, ein Erfrischungsraum und die Zimmer des Arztes untergebracht. Im ersten Stock gibt es Warte-, Umkleide- und Ruheräume für Gäste des Dampfbades sowie einen Friseur.

Mögen die Alten und Kranken, die hier die Heilbäder aufsuchen, Gesundheit finden, mögen die Gesunden sich hier stärken nach harter Arbeit.Karl Seitz in seiner Eröffnungsrede

Brause- und Wannenbäder „erster und zweiter Klasse“ findet man im zweiten und dritten Stockwerk, im vierten sind die Kaltwasser­abteilungen für Frauen und Männer, die Schwitzbäder und elektrischen Lichtbäder sowie weitere Massageräume untergebracht, im fünften die Abteilungen für Luft- und Sonnenbäder.

Auch die technischen Daten sind beindruckend. 24.000 m2 Wandflächen wurden mit Fliesen verkleidet, 10.000 m2 Bodenflächen mit Klinkersteinen gepflastert, 35 Kilometer Rohrleitungen für die Beheizungs-, Bade- und Trinkwasseranlage verlegt. Die keramische Ausstattung stammt von der namhaften Firma Brüder Schwadron.

Kritik von rechts

Das Bad, schreibt die Arbeiter-Zeitung, ist mit aller Pracht ausgestattet. Gewiß, so wollte es die Gemeindeverwaltung. Denn schließlich sei hier eine Kulturstätte geschaffen worden.

Von konservativer Seite wird das Amalienbad heftig kritisiert. Die Gemeindeverwaltung trieb einen Luxusaufwand, der mit ihrem Vernichtungskrieg gegen allen Luxus in schreiendstem Widerspruch stand […]. Auch Proletarier brauchen Bäder. Also baute man ihnen einen kostspieligen Badepalast, in dem sie sich gar nicht heimisch fühlen, geifert die christlich-soziale Reichspost.

Schwimmunterricht für Groß und Klein

Die erwähnten „Proletarier“ nehmen das neue Bad begeistert an. Schon im ersten Jahr wird es von über einer Million Besuchern gestürmt. 1928 zählt man 1,3 Millionen Besucher; 75.000 Menschen nützen die Kuranstalt, mehr als 11.000 lernen im Amalienbad schwimmen, und die Sozialdemokratische Bildungszentrale nimmt das Bad sogar in ihr Exkursionsprogramm auf.

„Armenbadegäste“ sowie Schulkinder mit Begleitpersonen erhalten Freikarten. Für Kinder ist ein eigenes Badebecken vorhanden, und mit dem Schuljahr 1926/27 beginnt der planmäßige Schwimmunterricht an den Schulen. Den Kindern wird die Badewäsche unentgeltlich zur Verfügung gestellt, berichtet der Präsident des Wiener Stadtschulrates Otto Glöckel

Der „obligate Schwimmunterricht“ lässt die christlich-soziale Reichspost wieder einmal holprige Reime schmieden:

Schwimmen.
Der Körpersport wird obligat,
Dem ist nur zuzustimmen;
Man lehrt jetzt im Amalienbad
Die Jugend auch das Schwimmen.

Es ist der Vorteil ganz enorm,
Sieht selbst ein Fortschrittshasser,
Doch scheint deshalb die Schulreform
Noch lang nicht aus dem Wasser.

Das Schwimmen wird in Strom und Meer
Im Lehrplan aufgenommen,
Die Glöckel-Schüler sind bisher
Beim Lesen bloß geschwommen.

Die Arbeiter-Zeitung kontert den rechten Kritikern: Der Proletarier und die Proletarierin haben die stolze Entdeckung gemacht, daß ihr schönster Schmuck ihr eigener, kraft- und schönheitstrotzender Körper ist: seitdem legen sie am Sonntag nicht mehr den armseligen Sonntagsstaat an, der eine schale Nachahmung der Geschmacksrichtungen der Bourgeoisie war, sondern die Sportdreß.

BRÜDER SCHWADRON

Orte und Spuren in Wien

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