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Aktuelle Seite: „Das europäische China“
0123 | 27. AUGUST 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Das europäische China“


Am Sonntag, den 27. August 1848, rollt – nach 31-stündiger Fahrt – gegen 18 Uhr der Zug aus Berlin in den Wiener Nordbahnhof ein. Unter den Reisenden befindet sich ein dreißigjähriger Mann aus Köln. Einige Tage später scheint sein Name in der Rubik „Angekommen“ der Wiener Zeitung auf: „Hr. Carl Marxe, Dr. der Philosophie, von Paris“.

Es ist ein turbulentes Jahrzehnt für den jungen Karl Marx: 1841 wird er an der Universität Jena zum Doktor der Philosophie promoviert, 1842 übernimmt er die Redaktion der Rheinischen Zeitung in Köln, 1843 heiratet er seine jahrelange „heimliche“ Verlobte Jenny von Westphalen und zieht mit ihr wenig später nach Paris. Dort arbeitet er für die opposi­tionellen Deutsch-Französischen Jahrbücher, schließt Freundschaft mit Friedrich Engels und veröffentlicht gemeinsam mit diesem 1845 die Streitschrift „Die heilige Familie“ sowie seine berühmten, erst postum veröffentlichten „Thesen über Feuerbach“, in denen er sich von seinem frühen Ideengeber, dem Philosophen Ludwig Feuerbach, kritisch abgrenzt.

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ 11. These über Feuerbach

In Paris arbeitet Marx am dort erscheinenden deutschen Wochenblatt „Vorwärts!“ mit. Seine scharfen Attacken gegen den preußischen Absolutismus provozieren schließlich seine Ausweisung aus Frankreich. Anfang 1845 übersiedeln Karl und Jenny Marx nach Brüssel, Friedrich Engels folgt ihnen.

Ein Gespenst geht um in Europa

Bereits im darauffolgenden Jahr gründen Marx und Engels das Kommunistische Korrespondenz-Komitee. Ziel der Vereinigung ist der organisatorische Zusammenschluss der revolutionären Arbeiter Deutschlands und anderer Länder. 1847 werden sie Mitglieder in dem von deutschen Emigranten gegründeten „Bund der Gerechten“, der seinen Sitz mittlerweile nach London verlegt hat.

Noch im selben Jahr setzt der energische Marx dessen Umbenennung in „Bund der Kommunisten“ durch und erhält den Auftrag, ein Manifest zu verfassen, das die Anschauungen und Ideen des Bundes zusammenfassen soll. Das zu Beginn des Revolutions­jahres 1848 in London veröffentlichte Manifest der Kommunistischen Partei ist ein flammender Aufruf und eine präzise Darlegung der Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus. Darüber hinaus stellt es ein sprachliches Meisterwerk dar.

Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung’. [...] Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.

Eine Revolution in Europa

Als die Auswirkungen der bürgerlich-demokratischen Februarrevolution von 1848 auch Brüssel erreichen, wird Marx aus Belgien ausgewiesen und kehrt auf Einladung der neuen Regierung der Französischen Republik nach Paris zurück. Nach dem Überspringen der Revolution auf die deutschen Länder im März geht Marx nach Köln, wo er die „Neue Rheinische Zeitung – Organ der Demokratie“ herausgibt. Das Blatt existiert bis zum 19. Mai 1849, dann unterbindet die preußische Reaktion seine Veröffentlichung. Die letzte Nummer erscheint, gleich einer „fliegenden Fahne“, ganz in Rot gedruckt.

Marx in Wien

Marx wird im Sommer 1848 zehn Tage in Wien bleiben. Er hält drei Vorträge, trifft Vertreter der revolutionären Bewegung und muss erkennen, dass sich die politische Lage seit dem Ausbruch der Revolution im März grundlegend verändert hat. Nach der blutigen Praterschlacht vom 23. August herrscht „gespannte Ruhe“ in der Stadt.

Am ersten Tag seines Aufenthalts in Wien, dem 28. August, nimmt Marx an einer vom „Demokratischen Verein“ organisierten Diskussion über die Arbeiterfrage im Gasthaus „Zum Engländer“ in der Währinger­straße teil. Zur Versammlung erscheinen nicht nur die wichtigsten Wiener Mitglieder des Vereins, auch deutsche Gäste wie der demokratische Verleger Julius Fröbel und der Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Arnold Ruge sind anwesend.

Die Journalisten Hermann Jellinek und Andreas Stifft, die sich in der Zeitung „Der Radikale“ für die Anliegen der Arbeiter engagieren, schildern die dramatischen Ereignisse der vergangenen Tage. Dann ergreift Karl Marx das Wort. Ähnlich wie in Paris, betont Marx, handle es sich auch in Wien vor allem um einen Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Man hat bis jetzt nur von zwei hohen Gewalten gesprochen, […] den Reichstag und […] den Kaiser, die höchste Gewalt hat man aber vergessen – das Volk! Wir müssen uns an das Volk wenden und es mit allen Mitteln bearbeiten. Jellinek entgegnet Marx, dass die Wiener Arbeiter noch keine sozialen Anschauungen hätten, ihnen der Wille, die Überzeugung, aber auch die nötige Intelligenz fehle, um zu einem selbständigen, entscheidenden politischen Faktor zu werden.

An die tausend Personen und ein „Fragekasten“

Am 30. August und am 2. September spricht Marx auf Einladung von Friedrich Sanders „Erstem Allgemeinen Arbeiterverein“, der seine Treffen im geräumigen Saal „Zum Sträußl“ im Parterre des Josefstädter Theatergebäudes abhält, über „Die sozialen Verhältnisse in Westeuropa“ und über „Lohnarbeit und Kapital“.

Bei der ersten Veranstaltung sitzen an die tausend Personen dicht gedrängt in knapp aneinander­gestellten Sesselreihen. In der Nähe des Rednerpultes steht eine kleine Holzkiste, der sogenannte „Fragekasten“. Darin können die Zuhörer auf Zetteln ihre Fragen deponieren. Die Versammlung dauert ungewöhnlich lange, von 9 Uhr vormittags bis 5 Uhr nachmittags. Nach zwei Vorträgen von Wiener Professoren wird Karl Marx das Wort erteilt. Er erläutert den Anwesenden die Bedeutung der organisierten internationalen Arbeiter­bewegung, schildert die jüngsten Entwicklungen in Deutschland, England, Frankreich und Belgien und geht näher auf die Demonstration der Pariser Arbeiter vom 22. Juni ein, die von der französischen Regierung mit Hilfe des Militärs niedergeschlagen worden war.

Alle Revolutionen sind soziale Revolutionen.

Am Abend des 2. September finden sich erneut zahlreiche Zuhörer in der Josefstadt ein. Diesmal erläutert Karl Marx seine Auffassungen über das Wesen der Lohnarbeit in der kapitalistischen Gesellschaft: Die Arbeitskraft sei zur käuflichen Ware geworden, eine Ware, die gehandelt werde, wie jede andere auch. Der Arbeitslohn sei der Preis; der Lohnarbeiter verkaufe also seine Arbeitskraft, um überhaupt leben zu können, während die von den Arbeitern produzierten Werte das Kapital ständig vermehrten. Diese Vermehrung des Kapitals, so Marx, führe zu einer Vermehrung des Proletariats. Marx bemüht sich, seine ökonomischen Auffassungen auf einfache und verständliche Weise zu vermitteln und den Anwesenden zu erklären, warum „alle Revolutionen soziale Revolutionen sind.“ Doch die Wiener Arbeiterschaft ist für seine Ideen scheinbar noch nicht reif…

Abreise

Am 7. September 1848 reist Karl Marx aus Wien wieder in Richtung Berlin ab. Er ist von Wien enttäuscht, da es ihm nicht gelungen ist, größeren Einfluß auf die Wiener Arbeiterschaft auszuüben, die „noch ganz unter der geistigen Vormundschaft des Bürgertums“ steht, so Leopold Winarksy, 1913.

Von den revolutionären Geschehnissen in Wien hält Karl Marx ohnedies nicht viel. Wien bleibt für ihn eine wenig bedeutende Etappe auf dem Weg zur Revolution. Er stuft Österreich als despotisch und rückständig ein, ähnlich dem zaristischen Russland, zwei Länder, in denen die Errungenschaften der „technischen Revolution“ noch nicht durchgedrungen sind.

Österreich ist „das europäische China, das einzige Land, dessen innere Einrichtungen nicht durch die französische Revolution erschüttert wurden und dem selbst Napoleon nichts anhaben konnte“, wie Marx bei einem Vortrag in London meint, um allerdings hoffnungsvoll hinzuzufügen: Den „Dampf“, d.h. die Industrialisierung und die damit verbundenen Entwicklungen, „hält es nicht aus“.

Die in den Jahren 1926 bis 1930 nach Plänen von Karl Ehn als Musterbeispiel eines monumentalen Superblocks errichtete Wohnhausanlage in Heiligenstadt wird Karl-Marx-Hof benannt.

Literatur
Günther Haller, Marx und Wien. Von den Barrikaden zum Gemeindebau, 2017.

Illustriert von P.M. Hoffmann

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