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Aktuelle Seite: Das „Haus der Kinder“
0070 | 7. JUNI 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Das „Haus der Kinder“


Am 7. Juni 1952 eröffnet Bürgermeister Franz Jonas den 150sten städtischen Kinder­garten. Benannt ist er nach dem deutschen Pädagogen Friedrich Fröbel (1782–1852), dem „Schöpfer der Kindergartenidee“ – in Abgrenzung zu den damals üblichen „Kinderbewahr­anstalten“. Jonas würdigt in seiner Ansprache die Verdienste Fröbels, dessen Kindergärten zu seiner Zeit sogar als „zu aufrührerisch“ galten und deshalb verboten wurden.

Der „gelungenste der Wiener Kindergärten.“Friedrich Achleitner

Der neue Kindergarten befindet sich am Kapaunplatz, inmitten der großen, von Rudolf Perco in den Jahren 1930 bis 1933 errichteten Wohnhausanlage in der Brigittenau. In seiner Begrüßungsansprache führt der für Bauangelegenheiten zuständige Stadtrat Leopold Thaller aus, der neue Kindergarten sei ein Beispiel für die Baugesinnung der Stadt Wien, die vor allem eine soziale Gesinnung ist. Darum wurde auch in diesem Kindergarten bewusst auf alle sogenannte „ästhetische“ Architektur verzichtet.

Weitgehend ungewürdigt in den Ansprachen bleibt die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000). Die Erfinderin der „Frankfurter Küche“ war nach ihrer Internierung im bayerischen Frauenzuchthaus Aichbach 1946 nach Wien zurückgekehrt und hatte 1950 den Auftrag erhalten, im Zuge der Erweiterungsarbeiten am unvollendet gebliebenen Hof am Friedrich-Engels-Platz einen Kindergarten zu errichten.

„Architektur für Kinder“

Die Architektin, die im Roten Wien nicht gerade mit Aufträgen verwöhnt worden war, ist eine ausgewiesene Expertin für Kindergärten. Seit den frühen 1920er Jahren hat sich Margarete Schütte-Lihotzky immer wieder dieser Aufgabe gewidmet und entsprechende Einrichtungen in Deutschland, in der Sowjetunion, in Bulgarien und in Kuba geplant – immer in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Ärzten und Pädagogen.

Der Architekt muß wissen, welche Größen für das Kind optisch faßbar, überschaubar sind, welche Höhen es bedrücken und welche dem Raum die wohnliche Atmosphäre nehmen.

Schütte-Lihotzkys Leitgedanke ist es, eine funktionale und ästhetisch ansprechende „Architektur für Kinder“ zu schaffen. Die Räume und ihre Einrichtung sind den Körpern der Kinder angepasst, Sessel und Tische kindgerecht gestaltet; durch die tiefer gelegten Fenster können auch die Kleinsten ins Freie blicken, breite Fensterbänder und Glastüren gewährleisten eine natürliche Belichtung und eine optimale Sichtverbindung zwischen den einzelnen Räumen. Die freundlichen und hellen Räume sind zur leichteren Orientierung der Kinder in unterschiedlichen Farben gehalten. Es gibt separate Ruhe-, Hauswirtschafts- und Waschräume, ein Gruppenzimmer, eine Garderobe, einen Abstellraum und ein eigenes Arztzimmer. Die Möbel sind praktisch, klapp- und stapelbar, leicht und auch einfach zu reinigen.

Bei ihrem Kindergarten knüpft Schütte-Lihotzky nahtlos an Projekte der 1920er Jahre an, etwa an Franz Schusters Kindergarten am Rudolfsplatz oder an jenen von Franz Singer und Friedl Dicker im Goethehof, die die pädagogischen Grundsätze der italienischen Ärztin Maria Montessori architektonisch umsetzten.

Der Kindergarten am Kapaunplatz steht also noch ganz in der Tradition des Roten Wien.

Vogelgruppe und Fischgruppe

Das ebenerdige Gebäude ist als symmetrischer, H-förmiger Baukörper errichtet, zu dessen beiden Seiten sich jeweils zwei große Räume für jeweils 30 Kinder befinden. Um das Gefühl der Zugehörigkeit und den Gemeinschaftssinn zu stärken, sind die Kinder jeweils einer Gruppe mit eigenem Merkzeichen, eigener Farbe und spezieller Aufgabenverteilung zugewiesen. Die blaue Vogelgruppe etwa kümmert sich um die Vögel im Käfig, die grüne Fischgruppe füttert die Fische in der Eingangshalle, eine weitere Gruppe betreut die Blumenbeete im Garten.

Dieser ist großzügig gestaltet – mit Sandspielplätzen und einem Planschbecken, das heute nicht mehr existiert. Die Natur in die Erziehung des Kindes einzubeziehen und zwar in die Natur, die das Kind selbst, durch den Ausbau lebendiger Naturzeugnisse und durch eigene Leistung pflegt, ist der Architektin besonders wichtig.

Der häufige Aufenthalt im Freien ist auch ein wirksames Mittel gegen die in Wien immer noch weit verbreitete Tuberkulose, der Mittagsschlaf soll deshalb so oft wie möglich im Freien stattfinden.

„Beschäftigungsnischen“ als „Spielbezirke“

Jeder Gruppenraum verfügt über drei Nischen, von denen zwei als  Atelier, Spiel-, Lese- oder Ruheräume verwendet werden. Die niedrigen Nischen erlauben es einzelnen Kindern auch, sich vorübergehend zurückzuziehen, denn auch diese Kleinen haben zeitweise ungestörte Konzentration nötig! Vermittelt wird ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit und des „Ungestörtseins“.

Die dritte Nische ist die mit einem Waschbrunnen ausgestattete Waschnische. Regelmäßiges Händewaschen soll die Kleinen früh mit hygienischen und gesundheitserhaltenden Maßnahmen vertraut machen.

Das Zentrum des Kindergartens bildet – als Ort des Gemeinschaftslebens – ein Saal, der gegebenenfalls alle Kinder des Kindergartens gleichzeitig aufnehmen kann. Hier können Feste gefeiert, hier kann Theater gespielt, gesungen, musiziert und getanzt werden. Und im Winter wird der große Raum für die täglichen Bewegungsspiele wie Laufen, Springen und Gymnastik genutzt.

Der unter Denkmalschutz stehende Kindergarten wird 2014 um ein weiteres Gebäude ergänzt.
 

LinkMargarete Schütte-Lihotzky Netzwerk

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