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Aktuelle Seite: Das „Haus der Zehntausend“
0071 | 16. JUNI 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Das „Haus der Zehntausend“


Fünf Jahre nachdem die Favoritner Sozialdemokraten das erste Arbeiterheim Wiens errichten, kann am 16. Juni 1907 auch das Arbeiterheim Ottakring in der Kreitnergasse feierlich eröffnet werden.

Die Arbeiter-Zeitung hat das„Bollwerk der Freiheit“ bereits vorab besichtigt undberichtet: In Ottakring ist heute Festtag. Das Arbeiterheim wird feierlich eröffnet und damit wird Wiens größter Saalbau seiner Bestimmung übergeben.

Im Mittelalter schuf man Burgen der Ritter, später baute man die Fabriken als Besitz der Kapitalisten und jetzt kommt die Zeit, da Heime der Arbeiter geschaffen werden. […] Möge es immer sein ein Bollwerk der Freiheit! Leopold Winarsky

Schon die neobarocke Fassade des von den Architekten Ernst Ornstein (1869–1925) und Ludwig August Fuchsik (1853–1920) errichteten Gebäudes beeindruckt durch ihren üppigen skulpturalen Schmuck. Zwei Frauengestalten symbolisieren Schönheit und Kraft, darüber stehen vier „Amorettengruppen“ für Arbeit, Rhetorik oder Schauspiel, Gesang und Musik sowie für die Bildende Kunst, dazu ein großes Karl-Marx-Relief und zwei Zitate: Proletarier aller Länder vereinigt euch! und Die Arbeiter sind der Fels, auf dem die Kirche der Zukunft erbaut werden soll (Ferdinand Lassalle).

Rekordverdächtig

Der Bau ist „in der modernsten Technik“ errichtet – eine Eisenkonstruktion. Der Saal, der bis zu 2.000 Menschen fassen kann, ist 16 Meter hoch, ausgestattet mit 1.400 Stühlen, auf der Galerie ist Platz für weitere 400 Besucher an Tischen, die Bühne ist 14 Meter hoch, elf Meter tief und ebenso breit. 200 Sängerinnen und Sänger sowie eine Kapelle können hier Platz finden, für Frischluft sorgt eine moderne Freiluftventilierung. Neben einer Reihe kleinerer Sitzungssäle erwähnt der Zeitungsbericht die große Schank, an der 6.000 Krügel- und 2.000 Seitelgläser bereit stehen, die Restauration und das Café Arbeiterheim mit Spielsaal.

Im ersten Untergeschoß befindet sich der Volkskeller mit Vortragszimmern, Klubzimmern, Turnsaal und eigener Kegelbahn, darunter liegt der Wein- sowie der Heizkeller, und im dritten Untergeschoß sind Kesselhaus, Bier- und Eiskeller untergebracht. Kurz: ein palastartiger Bau, bestimmt [...] allen Bildungsbestrebungen des Proletariats zu dienen [...] und bestimmt endlich als Ort geselligen Beisammenseins, in dem, alles in allem [...] gleichzeitig leicht zehntausend Personen in dem Hause und im Garten Platz finden könnten.

Schade nur, so der Verfasser des Artikels, der Meister der Sozialreportage und spätere Vizebürgermeister Max Winter, daß die Erbauer des Ottakringer Arbeiterheims dem Gebot der modernen Schule, das Material zu deklarieren, nicht Rechnung getragen haben...

Moderne Arbeiterwohnungen

Dem Saalbau sind noch fünf Wohnhäuser angeschlossen, die mit ihrer Ausstattung alle bisherigen Arbeiterwohnungen in den Schatten stellen – drei in der Klausgasse mit 30 Wohnungen, zwei in der Kreitnergasse mit 12 Wohnungen sowie einer Filiale des Niederösterreichischen Arbeiter-Konsumvereins. Die Architekten, so Winter, haben auch den Versuch unternommen, [...] Wohnungen zu errichten, die den heutigen, allzu bescheidenen Bedürfnissen des Proletariats voraus eilen. Und tatsächlich: Alle Wohnungen verfügen über ein eigenes Badezimmer mit Kalt- und Warmwasser, einen Abort und einen Staubsaugerauslauf, der an die zentrale Staubsaugeranlage angeschlossen werden kann. Die Küchen sind mit Sparherd und Gasrechaud ausgestattet und als Wohnküchen konzipiert, in jede Wohnung ist Gas eingeleitet, das ganze Haus wird zentralgeheizt. Und am Dach des Gebäudes sind sogar eigene Kinderspielplätze vorhanden! Geradezu revolutionär aber ist der eigene Haustor­schlüssel, so daß das Sperrgeld entfällt.

Eine Burg ist unser Heim

Die Eröffnung selbst wird zum Volksfest, zu Wort kommen neben Parteichef Victor Adler auch sämtliche Führer der Ottakringer Sozialdemokratie. Anton David, einer der engsten Vertrauten Franz Schuhmeiers, der sich selbst bescheiden im Hintergrund hält, bringt die Bedeutung des neuen Arbeiterheims auf den Punkt: Jawohl, eine Burg ist dieses unser Heim, eine Burg, in der Bildung, Kunst und Wissenschaft eine Stätte haben sollen.

Vergessen sind alle Schwierigkeiten und Querelen. Schon die Finanzierung des Riesenbaus hatte sich als problematisch erwiesen – erst ein Kredit der Ottakringer Brauerei, die im Gegenzug das Monopol für die Belieferung des Buffets mit Bier erhielt, machte seine Errichtung möglich. Zudem war es während der Bauarbeiten zu einem offenen Konflikt zwischen den Arbeitern und dem Baumeister gekommen, der sogar in einem Streik mündete. Der junge Rädelsführer ist niemand geringerer als der spätere ÖGB-Präsident Johann Böhm. Der Arbeitskonflikt, der von der Illustrierten Kronen Zeitung angeheizt wird, löst innerhalb der Ottakringer Parteiorganisation eine schwere Krise aus und verhindert beinahe die Fertigstellung des Heims. Erst unter dem massiven Druck Franz Schuhmeiers muss Böhm schließlich nachgeben.

1910 wird im Arbeiterheim Ottakring eine eigene Jugendbibliothek eröffnet. Wir wissen, wie schwer es dem Arbeiter gemacht wird, sich auf eine höhere geistige Stufe emporzuarbeiten, so Franz Schuhmeier im Rahmen der Eröffnungsfeier. Ich sage immer, daß das Wissen der Besitzenden mir nicht imponiert und daß es nichts bedeutet gegenüber dem Wissen, das sich der Arbeiter unter harter Mühe und aus eigener Kraft erarbeitet. Es ist keine Kunst, gebildet zu werden, wenn der Vater alle möglichen Professoren dafür zahlt.

Ab 1911 finden im großen Saal des Arbeiterheims auch „kinematografische Vorstellungen“ statt. 1914 wird hier ein Lazarett für verwundete Soldaten eingerichtet, das Kino in den „gartenseitigen Parterresaal“ verlegt. Nach Kriegsende wird der große Saal unter dem Namen „Thalia Theater“ an drei Tagen in der Woche für Theater- und Operetten­aufführungen genutzt, an den restlichen vier Tagen strömen die Kinofreunde in den über 1.000 Personen fassenden Raum.

1933 zieht auch der Tonfilm in das Arbeiterheim ein, das Kino erhält den fashionablen Namen „Plaza“. Auch Ausstattungs-Revuen, wie etwa „Küsst österreichische Frauen“ von Karl Farkas und dem 1944 in Auschwitz ermordeten Franz Engel, kommen zur Aufführung.

Die Burg fällt

Bis 1934 ist das Ottakringer Arbeiterheim das wichtigste Veranstaltungszentrum der Wiener Sozialdemokratie und der kulturelle Hotspot des Bezirks. Unzählige Gewerkschafts­versammlungen tagen im Arbeiterheim, große Kongresse, wie etwa jener der Sozialistischen Arbeiter-Internationale 1929, finden hier statt, politische und populär­wissenschaftliche Vorträge, Proben von Arbeitergesangsvereinen, ja sogar die Ausscheidungskämpfe im Radball sowie im Kunst- und Reigenfahren für die Arbeiter-Olympiade in Frankfurt am Main. Und zu Beginn des Jahres 1923 findet auch das Komitee für die italienischen Flüchtlinge, die vor den schweren Übergriffen der faschistischen Squadristen nach Wien geflohen waren, hier einen Unterschlupf.

Am Abend des 12. Februar 1934 errichten Schutzbündler in der Hasnerstraße, der Koppstraße, der Kreitnergasse und der Klausgasse Barrikaden. Ein Angriff von Polizei und Bundesheer kann zweimal zurückgeschlagen werden, dann gelingt es den Angreifern, bis zur Ecke Koppstraße-Klausgasse vorzudringen. In Nacht zum 13. Februar nehmen sie das Arbeiterheim aus mehreren Richtungen unter Beschuss. Am frühen Morgen – das II. Bataillon des Infanterieregiments Nr. 3 war nach Ottakring beordert worden – kommt um 6.30 Uhr der Befehl zum Sturm.

Als die Angreifer um 8.30 Uhr das Tor in der Kreitnergasse aufsprengen, fallen aus dem Arbeiterheim keine Schüsse mehr. In der Wohnung Albert Severs findet man dessen schwer verletzte Frau Ida, die kurz nach ihrer Einlieferung ins Spital stirbt. Ihre Nachbarin Mathilde Skoda ist ebenfalls tot. Ein weiterer Hausbewohner hat sich während der Belagerung erhängt.

Bei den Kämpfen in Ottakring fallen die Genossen Karl Christ, Heinrich Friesenecker, Josef Krasser, Franz Ludvicek und Leopold Umyssa. Vier Schutzbündler, die an der Verteidigung des Arbeiterheimes teilgenommen haben – Josef Dangl, Ludwig Tuma, Josef Fidra und Anton Prybil – werden zum Tode verurteilt und erst nach Intervention der englischen Labour-Party zu Kerkerstrafen begnadigt.

Das einst prachtvolle Gebäude ist nur noch eine Ruine und wird bald darauf zum Abbruch freigegeben. An seiner Stelle errichtet die Städtische Versicherung ein Wohnhaus. An das frühere Arbeiterheim erinnert heute nur noch eine Gedenktafel.

Zwei Teile eines gestempelten Essbestecks aus den Beständen der Gastwirtschaft des Arbeiterheimes Ottakring werden bei der Erstürmung von einem Polizeioffizier mitgenommen und 1985 an die Bezirksorganisation zurückgegeben. Heute sind sie im Waschsalon Karl-Marx-Hof ausgestellt.

Literatur
Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919–1934, 1985/2002

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