Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Das „Haus mit den hundert Fenstern“.
0007 | 24. Februar 2021    TEXT: Julia Brandstätter

Das „Haus mit den hundert Fenstern“

120 Jahre Volkshochschule Ottakring

Am 24. Februar 1901 wird das Volksheim Ottakring als Einrichtung der Erwachsenen­bildung von den drei Universitätslehrern Ludo Moritz Hartmann, Emil Reich und Friedrich Becke gegründet. Das Volksheim, damals das erste seiner Art in Europa, will allen Menschen Zugang zu Wissen ermöglichen.

Die intellektuelle Aufbruch­stimmung der Jahrhundertwende begünstigt den Aufstieg der Volksbildungsidee. Über 60 prominente Persönlichkeiten unterzeichnen einen Aufruf zur Gründung eines Volksheims, darunter der Burgschauspieler Josef Lewinsky, die Schriftstellerin Marie Eugenie delle Grazie, der Physiker Ernst Mach und der spätere Bürgermeister Karl Seitz.

Nachdem der Antrag auf Gründung eines Vereins mit dem antiuniversitären und revolutionären Namen „Volkshochschule“ von der Behörde untersagt worden war – was hatte denn das Volk mit einer Hochschule zu tun –, findet man sich mit dem Namen „Volksheim Ottakring“ ab.

Im Gründungsjahr tritt Hartmann, der ewige Dozent, der Sozial­demokratischen Arbeiterpartei bei. Trotz seiner Affinität zur Sozialdemokratie hält das Volksheim am Neutralitätsgebot fest, das für die Wiener Volksbildung kennzeichnend sein wird.

Das Mekka einer neuen Religion

Der große Andrang – von Beginn an folgen fast 1.000 Interessierte den Vorträgen – sprengt bald die Kapazitäten der engen Kellerräumlichkeiten am Urban-Loritz-Platz, wo das Volksheim zunächst untergebracht ist. Die Vereinsleitung fasst daher den Beschluss, ein Grundstück am Koflerpark, dem heutigen Ludo-Hartmann-Platz, in Ottakring zu erwerben, um darauf ein geeignetes Haus errichten zu lassen.

Ein Dokument, das dem Grundstein des neuen Volksbildungshauses beigefügt wird, beginnt mit den Worten: Arbeiter, Bürger und Hochschullehrer gründeten den Verein Volksheim als eine Stätte höherer wissenschaftlicher Ausbildung und reichen künstlerischen Genusses für die breiten Schichten des werktätigen Volkes. Mögen in diesem Hause des Volksheims, als Heim der freien, hohen Schule des Volkes, durch die Strahlen des Lichtes die Köpfe erhellt und die Herzen erwärmt werden: Vertiefung und Erhebung des Lebens bedeute es allen Aufwärtsdringenden und diene den besten Hoffnungen der Zukunft.

Geweihter Grund dem jungen Wissenskeim...

Am 5. November 1905 öffnet das Volksheim Ottakring seine Pforten. Die Eröffnung wird medial und öffentlich mit Begeisterung aufgenommen.

Sogar die bürgerliche Neue Freie Presse berichtet enthusiastisch von der Eröffnungsfeier: Der große Saal, der nach dem Muster der modernen Hörsäle eingerichtet ist, war von Hunderten von Festgästen, unter denen sich viele Damen befanden, dicht gefüllt. Unterstützer und Geldgeber finden sich auch in bürgerlichen Kreisen, schließlich hängt der wirtschaftliche Fortschritt ja in hohem Maße von der Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte ab.

Zur Eröffnungsfeier trägt Marie Eugenie delle Grazie ihr Gedicht „Volksheim“ vor:

So wuchs es dir denn endlich aus der Erde,
Das lang erträumte, heiß umstritt’ne Heim –
Daß deiner Sehnsucht eine Stätte werde,
Geweihter Grund dem jungen Wissenskeim…

Neue Freie Presse, 6.11.1905


Dieses Haus der hundert Fenster, wie Alfons Petzold das Volksheim Ottakring nennt, steht den Universitäten in nichts nach. Es verfügt über eine eigene Bibliothek, eine Lesehalle für Kinder, ein chemisches und ein physikalisches Labor und sogar über ein experimentalpsychologisches Laboratorium.
 

Bildungslücken schließen und Bildungsneuland erobern

Die Sozialforscherin Lotte Radermacher kommt in ihrer 1930 fertiggestellten Dissertation „Die Sozialpsychologie des Volkshochschulhörers“ zu dem Ergebnis, dass die überwältigende Mehrheit der Kursteilnehmer nur die Grundschule besucht hatte und im Volksheim Bildungslücken schließen und Bildungsneuland erobern möchte.

Dementsprechend werden neben Sprach- und Elementarkursen auch Abendkurse und Vorträge aus so unterschiedlichen Gebieten wie Kunstgeschichte, Philosophie oder Naturwissenschaften angeboten. Alfred Adler etwa, der Begründer der Individualpsychologie, referiert über die Neue Seelenkunde. Der Kunst- und Musikunterricht kommt ebenfalls nicht zu kurz. Neben dem Wissensdurst können im Volksheim aber auch die leiblichen Bedürfnisse gestillt werden – in einer alkoholfreien Gaststätte, die vom Verein abstinenter Frauen geführt wird.

Hochblüte der Volksbildung im Roten Wien

Von der Arbeit ihrer Hände ermüdet, von der Sorge des Tages gedrückt und der Not der Zeit, flüchten Tausende in dies Haus, die Last von sich zu werfen und sich zu erheben an den großen Gedanken der Menschheit; sich zu erfrischen an den unsterblichen Werken der Dichtkunst, der Musik und der Bildner; die vielfältigen Gänge der menschlichen Seele zu erkunden und die nicht minder verzweigten Labyrinthe des körperlichen Seins.
Karl Ziak, in seinem Roman „Wien“

Um dem Ansturm des bildungs­hungrigen Proletariats genügen zu können, werden im Laufe der Jahre weitere Filialen errichtet: 1931 gibt es Volkshochschulen in den Bezirken Leopoldstadt, Landstraße, Favoriten, Simmering und Brigittenau. Die Zahl der Kursteilnehmer ist auf 12.000 gestiegen, die der Lehrkräfte auf 200.

… aber viele geben nichts.

Sämtliche Veranstaltungen des Volksheims sind allgemein zugänglich. Die Teilnahme ist gegen einen geringen Unkostenbeitrag möglich, Arbeitslose können die Kurse gratis besuchen. 1931 zählt man etwa 3.000 arbeitslose Mitglieder, die Ausgaben übersteigen die Einnahmen. Wohl leistet die Stadt Wien einen Finanzierungsbeitrag, auch Gewerkschaften unterstützen das Volksheim, aber viele geben nichts, und der Bund, der für manche unnütze Dinge Geld hinauswirft – man denke nur an die militärischen Brieftauben, die 25.000 S kosten –, spendet großmütig jährlich 1.200 S dem Wiener Volksheim! (Die Unzufriedene, 1931)

Vertreibung und Vernichtung der Vernunft

Nach der Errichtung des austrofaschistischen Regimes im Jahr 1934 wird Viktor Matejka, der spätere Kulturstadtrat, zum Obmann des Volksheims bestellt. Trotz Personal- und Programm­säuberungen sowie der ständigen Bespitzelung durch die Bezirksorganisation der Vaterländischen Front kann er eine gewisse Liberalität gegenüber den sozialdemokratischen Vortragenden walten lassen. Das Volksheim avanciert zu einem der letzten widerständigen Rückzugsorte oppositioneller Intellektueller.

Nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich wird der Verein Volksheim aufgelöst, alle Agenden werden der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude eingegliedert.

Einen Monat später kommt Viktor Matejka mit dem sogenannten Prominententransport ins KZ Dachau. Als Häftlingsbibliothekar gelingt es ihm, die ahnungslosen SS-Leute auszutricksen, indem er die beschlagnahmten Bücher neu eintreffender Häftlinge in die Lagerbibliothek einschmuggelt. Darunter befinden sich auch Werke von Friedrich Engels, Robert Musil und Karl Kraus. Aus Zeitungsausschnitten produziert Matejka darüber hinaus seine sogenannten Pickbücher, die sich heute im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes befinden.

Das Volksheim Ottakring übersteht als einziges der großen Volksbildungshäuser den Krieg weitgehend unbeschadet und kann den Unterrichtsbetrieb bereits im April 1945 wieder aufnehmen. Viele seiner FunktionärInnen, Vortragenden und HörerInnen wurden allerdings in die Emigration gezwungen oder kamen in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern ums Leben.

Weiterführend
Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes
NS-Opfer im Bereich der Wiener Volkshochschulen
Nationalsozialismus und Volksbildung

Video zur 120 Jahr-Feier

Fuss ...