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Aktuelle Seite: Der „Apostel des Marxismus“
0129 | 17. OKTOBER 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Der „Apostel des Marxismus“


Am 17. Oktober 1938, einen Tag nach seinem 84. Geburts­tag, stirbt der „Apostel des Marxismus“ Karl Kautsky in Amsterdam...

Der 1854 in Prag geborene Sohn des tschechischen Theatermalers Jan Kautsky und der österreichischen Schauspielerin und Autorin Minna Kautsky kommt als Kind mit seinen Eltern nach Wien und studiert hier Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Schon als Schüler entwickelt er einen „tiefen Hass“ auf die Habsburgermonarchie. Während des Aufstands der Pariser Kommune begeistert er sich für deren Ideale der direkten Demo­kratie und der sozialen Gleichheit und tritt 1875 der Arbeiterbewegung bei.

Bereits während seiner Studienzeit macht Kautsky mit Vorträgen und Artikeln, die unter dem Pseudonym „Symmachos“ erscheinen, auf sich aufmerksam. Der Autor Karl Höchberg, ein in Zürich lebender Mäzen der frühen deutschen Sozialdemo­kratie, holt ihn zunächst in die Schweiz. 1883 begründet Kautsky die in Stuttgart erscheinende Zeitschrift Die Neue Zeit, die sich bald zum führenden theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie entwickeln und deren leitender Redakteur er bis 1917 bleiben wird.

1885 zieht Karl Kautsky weiter nach London, wo er Freundschaft mit Karl Marx, v.a. aber mit Friedrich Engels schließt, als dessen Privatsekretär er tätig ist. Nach dem Fall des Sozia­listen­gesetzes im Jahr 1890 kehrt Kautsky nach Deutschland zurück.

Hüter des Marx'schen Erbes

Gemeinsam mit August Bebel und Eduard Bernstein verfasst Karl Kautsky 1891 das „Erfurter Programm“ der Sozialdemo­kratischen Partei Deutschlands (SPD), das sich zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft bekennt.

Nach dem Tode von Friedrich Engels war das Heim Karl Kautskys […] durch zwei Jahrzehnte das geistige Zentrum des deutschen Sozialismus und des internationalen Marxismus.Friedrich Adler, 1938

Rasch entwickelt sich Kautsky zum führenden und einflussreichsten Theoretiker des Marxismus und, nach Engels' Tod 1895, zum „Hüter des Marx'schen Erbes“ und wichtigsten Interpreten der Marx'schen Werke. An der von Victor Adler verfassten „Prinzipien-Erklärung“ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) anlässlich des Hainfelder Parteitags 1888 wirkt Kautsky ebenfalls mit.

Kautsky vertritt zeitlebens einen „orthodoxen Marxismus“ und bekämpft sowohl die radikalen Linken innerhalb der Partei, die die „revolutionäre Aktion“ propagieren, als auch die rechtsstehenden „Revisionisten um seinen alten Freund Eduard Bernstein.

Nach Kriegs­ausbruch im Sommer 1914 distanziert sich die Parteilinke um Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin von Kautsky, da dieser ihrer Ansicht nach die Burgfriedenspolitik der SPD-Führung zu sehr mitträgt – und das, obwohl sich Kautsky schon früh gegen den Krieg positioniert und sich 1917 sogar der links der SPD stehenden Unabhängigen Sozialistischen Partei Deutschlands (USPD) anschließt.

Nach Kriegsende wirkt Karl Kautsky als Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt und als Vorsitzender der ersten Sozialisierungs­kommission, deren Vorschläge jedoch ohne konkrete wirtschaftspolitische Auswirkung bleiben. Die russischen Oktoberrevolution und die Gründung Kommunistischer Parteien lehnt Kausky in der Schrift „Die Diktatur des Proletariats“ entschieden ab.

Kautsky war ein Österreicher und ein Marxist, aber er war – kein „Austromarxist“. Friedrich Adler, 1938

Rückkehr zu den Wurzeln

1922 kehrt Kautsky zur SPD und 1924 auch nach Wien zurück. Hier widmet sich er sich in erster Linie der philosophisch-theoretischen Arbeit und nimmt Einfluss auf die programma­tischen Grundlagen der österreichischen wie der deutschen Sozialdemokratie, so etwa bei der Verfassung des „Heidelberger Programms“ von 1925, das sich zwar auf die Grundsätze des „Erfurter Programms“ beruft, allerdings klar zum demokratischen Reformweg bekennt.

Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 emigriert Karl Kautsky nach Amsterdam, wo er im Oktober des Jahres stirbt.

Ohne Kautsky kein Marxismus

Am 8. November 1938 verfasst der russische Revolutionär Leo Trotzky einen ausführlichen Nachruf – allerdings mehr eine persönliche Abrechnung denn eine Würdigung Kautskys: Aber er besaß nicht den universellen schöpferischen Geist eines Marx, Engels oder Lenin; Kautsky war im Grunde sein Leben lang nur ein talentierter Kommentator. Seinem Charakter und seinem Denken fehlte jene Kühnheit und jener Gedankenflug, ohne die eine revolutionäre Politik unmöglich ist. [...] Wir gedenken Kautskys als unseres alten Lehrers, dem wir seinerzeit viel zu verdan­ken hatten, der sich aber von der proletarischen Revolution lossagte und von dem wir uns folglich lossagen mußten.

Harald Koth, der die jüngste Kautsky-Biographie verfasst hat, sieht die Bedeutung des „fast vergessenen“ Theoretikers in einem ganz anderen Licht: Ohne Marx kein Kautsky. Aber auch: Ohne Kautsky kein Marxismus – ohne ihn hätte der Marxismus ein anderes Gesicht, falls es ihn überhaupt gegeben hätte.

Karl Kautsky, der in zweiter Ehe mit Luise Kautsky (1864–1944) verheiratet ist, hat drei Söhne: den Frauenarzt Karl Kautsky (1891–1938), Felix Kautsky (1892–1953) und den Ökonom Benedikt Kautsky (1894–1960), der die Arbeit seines Vaters als Theoretiker des Marxismus fortsetzt. Luise Kautsky wird 1944 in Amsterdam verhaftet und im Konzen­trationslager Auschwitz ermordet.

1994 werden die Kautskygasse inFloridsdorf und der in den Jahren 1972–1975 errichtete Karl-Kautsky-Hof in Donaustadt nach dem Theoretiker der Arbeiterbewegung benannt.

Werk (Auswahl): Karl Marx' ökonomische Lehren, 1887; Thomas More und seine Utopie, 1888; Gegen die Diktatur, 1889; Das Erfurter Programm, 1892; Die Vorläufer des neueren Sozialismus, 2 Bd., 1895; Friedrich Engels, 1895; Die Vereinigten Staaten Mitteleuropas, 1916; Die Befreiung der Nationen, 1917; Die Diktatur des Proletariats, 1918; Habsburgs Glück und Ende, 1918; Die proletarische Revolution und ihr Programm, 1922; Das Werden eines Marxisten, 1924;Die materialistische Geschichtsauffassung, 2 Bd., 1927; Grenzen der Gewalt, 1934.

Literatur:Dick Geary, Karl Kautsky, 1987; Beate Häupel, Karl Kautsky – seine Auffassungen zur politischen Demokratie, 1993; Reinhold Hünlich, Karl Kautsky und der Marxismus der II. Internationale, 1981; Otto Jenssen, Der lebendige Marxismus (Festschrift), 1924; Benedikt Kautsky (Hrsg.), Friedrich Engels' Briefwechsel mit Karl Kautsky, 1955; Karl Kautsky Jr. (Hrsg.), August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, 1971; Harald Koth (Hrsg.), Karl Kautsky oder: Der Kirchenvater des Marxismus, 2022; Hans-Jürgen Mende, Karl Kautsky. Vom Marxisten zum Opportunisten, 1985; Karl Renner, Karl Kautsky, 1929; Jürgen Rojahn (Hrsg.), Marxismus und Demokratie, 1992; Massimo L. Salvadori, Sozialismus und Demokratie, 1982.

Ausstellung im Wasch­salon Karl-Marx-Hof

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