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Aktuelle Seite: „Der führende Kopf beim Aufbau des neuen Wien“
0033 | 25. AUGUST 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Der führende Kopf beim Aufbau des neuen Wien“


In der Nacht vom 25. auf den 26. August 1936 verstirbt Julius Tandler im Moskauer Kreml-Krankenhaus an „Herzschwäche und Darmlähmung“.

Der umtriebige Julius Tandler prägt das Aufbauwerk des Roten Wien wie kein anderer. Der Wiener Stadtrat für das Gesundheits- und Wohl­fahrtswesen ist aber auch ein Wissenschaftler von internatio­nalem Ruf – und als solcher gerne auf Reisen.

Im Juni 1929 wird er zum ersten „Hospitalkongress“ nach Atlantic City (USA) eingeladen. Bei der Überfahrt nimmt er, eigenen Erzählungen nach, nur Dinge zu sich, die „hinauf und hinunter gleich schmeckten“.

Der Korrespondent der Arbeiter-Zeitung berichtet: Bei seiner Ankunft in Neuyork [sic] wurde Dr. Tandler von dem Amtsauto des Bürgermeisters von Neuyork abgeholt. Das Auto war von Polizisten auf Motorrädern begleitet, die dem Auto in dem dichten Straßenverkehr Platz machten. […] ‚Wohin ich immer kam’, erzählt Professor Tandler, ‚wurde ich herzlich willkommen geheißen; das ist nicht allein darauf zurückzuführen, daß in Amerika viele ehemalige Schüler von mir sind und daß ich auch viele ärztliche Freunde drüben habe, sondern ich wurde vor allem als Vertreter der Gemeinde Wien mit großer Herzlichkeit empfangen.’

Sondern weil wir arm sind...

Tandler lobt den technischen Stand der Amerikaner, kritisiert aber die Tatsache, dass alles in privater Hand sei – öffentliche Fürsorge ist in den USA nahezu unbekannt. Mit seinen Ausführungen zur Wiener Jugend­fürsorge erregt er einiges Aufsehen. Der Gesundheitssekretär der Stadt New York […] bekannte freimütig: ‚Wir sind höchlichst überrascht und bewundern diese Leistungen der Wiener Gemeindeverwaltung auf sozialem Gebiet. Etwas Ähnliches existiert in New York bis heute nicht. Dieses Wohlfahrtswerk ist um so erstaunlicher, als es nur dadurch ermöglicht werden konnte, daß für den Einzelmenschen in Wien siebenmal so viel an Abgaben für Wohlfahrtswesen erwachsen als in New York.’ […] ‚Der Aufwand für die Wohlfahrtspflege in Wien ist nahezu 30 Prozent des Gesamtaufwandes unserer Stadt’, stellte Prof. Tandler im Laufe des Vortrages fest. ‚Wir geben für den Wiederaufbau unseres durch Krieg und Hungersnot arg heimgesuchten Bevölkerungskörpers nicht deshalb so viel Geld aus, weil wir reich, sondern weil wir arm sind.

Ab 1930 ist Tandler auch im Rahmen des Völkerbundes tätig. Anfang 1931 reist er nach Athen, um bei der Reorganisation des Gesundheits- und Wohlfahrtswesens zu assistieren – das Vorhaben scheitert allerdings an Missver­ständnissen, Intrigen und nicht zuletzt an der Überempfindlichkeit der griechischen Stellen gegenüber Kritik.

Der vierte Jude

Im Ausland hoch geschätzt, ist Tandler in Wien wegen seiner „jüdischen Herkunft“ bereits seit langem Ziel antisemitischer Attacken. Schon anlässlich seiner Bestellung zum Institutsleiter im Jahr 1910 erscheint im Deutschen Volksblatt ein Artikel über die „Verjudung der Wiener Universität“. Darin heißt es, Emil Zuckerkandl habe den Lehrstuhl zu einem „Judenhort“ gemacht.

Nach seiner Bestellung zum Unterstaatssekretär und Leiter des Volksgesundheitsamtes gibt es erneut Hetze. In derchristlich-sozialen Reichspost vom 10. Mai 1919 heißt es lapidar, aber unmissverständlich: Mit Dr. Tandler zieht der vierte Jude unter 17 Regierungsmitgliedern ins Kabinett ein.

Naziüberfall im Anatomischen Institut

Erste antisemitische Vorfälle an Tandlers Institut ereignen sich bereits 1923. 1927 legt sich Tandler sogar mit der Universitätsver­waltung an, die untätig bleibt: In meinem Lehrauftrag steht nichts davon, daß ich mich prügeln lassen muß und nichts davon, daß ich das Institut mit Brachialgewalt verteidigen muß.

Zu den schlimmsten Ausschrei­tungen kommt es im Frühjahr 1933. Nach einer regelrechten Saal­schlacht am 17. März ereignet sich am 9. Mai ein zweiter Überfall mit Verletzten.

Tags darauf berichtet die Arbeiter-Zeitung über den Naziüberfall im Anatomischen Institut:Schwerbe­waffnet drangen die braunen Banditen in großer Überzahl in Vorlesungen ein und fielen über die lernenden Studenten mit viehischer Brutalität her. Am ärgsten trieben sie es im Anatomischen Institut. Mit Totschlägern, Stahlruten und Gummiknütteln [sic!] schlugen sie die andersdenkenden Studenten blutig und verletzten viele von ihnen schwer. Und das Österreichische Abendblatt vom 9. Mai meldet unter dem Titel Blutbad in der Währingerstraße: Die Nazi überfielen besonders Frauen, die sie blutig schlugen.

Die Welt in hundert Jahren

Anlässlich eines Interviews in der Bunten Woche antwortet Tandler im Sommer 1933 auf die Frage Wie denken Sie sich die Welt in hundert Jahren?:Inhundert Jahren aber wird die Welt nicht mehr von Europa aus gelenkt werden, ja vielleicht auch nicht von Amerika aus. […] Denn in hundert Jahren wird es eine europäische Menschheit nur dann geben, wenn sie heute […] anfängt, Einkehr zu halten, den Mord zu verabscheuen, die Freiheit aller zu achten, Menschenwürde zu ehren und nicht des Besitzes halber zu leben, zu streben, zu stehlen und zu morden.

Den ganzen Tag zu Hause

Tandler, wohl ermüdet und entnervt, nimmt eine Einladung des National College of Medicine in Shanghai an. Er bittet um Urlaub – seine Vertretung in der Stadtregierung übernimmt Karl Honay – und sticht im September 1933 in Triest in See. Als er in China von den Februar­kämpfen erfährt, beschließt er – ganz Tandler, wie Bürgermeister Karl Seitz anmerkt –, umgehend heimzureisen. Er notiert in sein Tagebuch: Und ich sitze hier fern von alldem und kann nicht mitkämpfen, nicht mitleiden [...] Ich kann die Arbeiter nicht allein lassen, ich gehöre zu ihnen; daher Nachhause – so rasch als möglich.

Am 24. Februar 1934 fährt Julius Tandler mit der Transsibirischen Eisenbahn zunächst nach Prag, wo er seinen Sohn besucht. In Wien angelangt, wird Tandler am 17. März umgehend verhaftet. ‚Hier bin ich’, sagte er, ‚Es ist mir eine Ehre, das Schicksal meiner Freunde und Genossen zu teilen’ (zit. nach Richard Berczeller,1983). Man nimmt ihm Brille, Hosenträger und Schuh­bänder ab. Tandler ist darüber sichtlich empört: Glauben Sie wirklich, daß ich aus China gekommen bin, um mir in der Rossauer Lände die Pulsadern aufzuschneiden? Seinen Sarkasmus behält er bei. Als Professor Carl von Noorden anfragen lässt, wann er ihn besuchen könne, erhält dieser zur Antwort: Ich bin den ganzen Tag zu Hause.

Gegen die Verhaftung Julius Tandlers gibt es zahlreiche Interventionen, v.a. aus dem Ausland. In Wien tagt gerade ein internationaler Ärztekongress, amerikanische Ärzte, die von Tandlers Verhaftung erfahren, schicken eine Abordnung zu Dollfuß. Zwei Stunden später, erinnert sich Grete Schütte-Lihotzky viele Jahre später, war er frei.

Immer in Bewegung

Tandler wird entlassen und zwangspensioniert. Im Spätsommer 1934 beschließt er, nach China zurückzukehren. Über New York und Hawaii reist er nach Shanghai, wo ein Spital nach seinen Vor­stellungen errichtet werden soll. Sein Tagebuch der China-Reisen wird 1935 unter dem Titel „Volk in China“ erscheinen. Prophetisch schreibt er da: Weltgeschichte aber wird gespielt werden am Stillen Ozean und an seinen Küsten und wird entscheidend sein für das Schicksal der gesamten Menschheit. Verblendet von den kleinlichen Auseinander­setzungen in Europa, sehen die Verantwortlichen nicht, was in den Millionenvölkern Asiens sich vorbereitet.

Nach einem Zwischenstopp in Java – „ein Jugendtraum“ – kehrt er im Mai 1935 nach Wien zurück und nimmt – um „in Bewegung“ zu bleiben – im August 1935 an einem Kongress in der Sowjetunion teil. Der Polizei sind Tandlers Reisen nicht geheuer, er wird regelmäßig perlustriert und muss Reise­genehmigungen einholen. Im November 1935 – Tandler ist gerade in den USA – erreicht ihn eine Einladung aus Moskau. Er kehrt heim und fährt Anfang Februar 1936 über die Tschechoslowakei nach Russland, wo er als Konsultant für Spitalsbauten und Medizinerausbildung wirken soll.

Die letzte Reise

Am 1. Mai 1936 ist Julius Tandler Ehrengast der sowjetischen Regierung. Es war die großartigste Massenkundgebung, die ich gesehen. [...] Kraftvoll, sieghafte Menschheit einer neuen Welt (Brief vom 9.5., unbekannter Adressat). Von Moskau aus, schreibt er noch an Hugo Breitner, nehmen sich die Menschen und die Dinge ganz anders aus. Mitte August erleidet Tandler, dem die Sommerhitze in Moskau sehr zu schaffen macht, erste Anfälle von Angina pectoris. Dann verschlechtert sich sein Zustand rapide...

Beispielgebend für ausländische Stadtverwaltungen

Sein Name bleibt für alle Zeiten mit der ruhmvollen Geschichte des Roten Wien verbunden. Nachruf, Arbeiter-Zeitung, 30.8.1936

Selbst seine politischen Gegner zollen ihm nun Respekt. In der Reichspost heißt es: Seine Leistungen auf dem Gebiete der Fürsorge waren beachtenswert. Er schuf Schulzahnkliniken, Kinder­übernahmsstellen, Schulaus­speisungen und Kinderheime, Gründungen, die schöner gewesen wären, würden sie nicht, wo es ging, parteipolitisch durchtränkt worden sein. Und die bürgerliche Neue Freie Presse würdigt Tandler in ihrem Nachruf als einen vortrefflichen Lehrer und hinreißenden Redner, der seine Vorträge oft durch einen zutreffenden Witz würzte und der zum Wohle der Wiener Bevölkerung zahlreiche Reformen einführte, deren manche beispielgebend für ausländische Stadtverwaltungen wurden.

Margarete Schütte-Lihotzky, die in den späten 1930er Jahren Schulen und Kindergärten in der Sowjetunion errichtet, gibt Tandler ein letztes Geleit.
In der Volksstimme erinnert sie sich 1986: Tandlers Leiche mußte nach Wien gebracht werden. Mit dem damaligen Polen hatten wir die größten Schwierigkeiten. Nicht einmal den Toten wollte das faschistische Pilsudski-Polen durch das Land fahren lassen. Endlich war es so weit. In der dunklen Bahnhofshalle wurde der Sarg in einen Waggon verladen, knarrend rollten die Türen zu und traurig blickten wir dem langsam sich in Bewegung setzenden Zug nach.

In Wien angekommen, wird Julius Tandlers Leichnam am 8. September 1936 eingeäschert und zwei Tage später bestattet.

Sonderausstellung im Waschsalon 2016/17

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