Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Der „Jahrhundertjurist“
0107 | 19. APRIL 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Der „Jahr­hundertjurist“

Am 19. April 1973 stirbt der „Architekt“ der österreichischen Verfassung, Hans Kelsen, in der kalifornischen Kleinstadt Orinda. Seinem Wunsch entsprechend wird sein Leichnam eingeäschert, die Asche im Pazifik verstreut.

Hans Kelsen wird am 11. Oktober 1881 in Prag in eine deutsch­sprachige jüdische Familie geboren. Die Eltern stammen aus dem ostgalizischen, heute ukrainischen Brody bzw. aus Jindřichův Hradec (Neuhaus) in Böhmen. Die Familie übersiedelt nach Wien, wo der Vater als Lampenfabrikant tätig ist. Der Sohn soll es einmal besser haben und studieren. Er besucht das Akademische Gymnasium; Ludwig Heinrich Mises, später einer der wichtigsten Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und des Wirtschafts­liberalismus, ist sein Schul­kamerad.

1901 inskribiert Hans Kelsen Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Wien und tritt 1905 aus pragmatischen Gründen zum römisch-katholischen Glauben über; 1912 wechselt er zur Evangelischen Kirche.

In dieser Zeit erscheint seine bahnbrechende Schrift „Haupt­probleme der Staatsrechtslehre“, in der er eine, wie er später schreiben wird, reine, das heißt: von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte, ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie zu entwickeln sucht. Kurz vor Kriegsende, im Juli 1918, erhält er, gegen alle antisemitischen Widerstände, eine Professur für Staatsrecht an der Universität Wien.

Vom Wesen und Wert der Demokratie 

Persönlich steht Kelsen seit seiner Studienzeit der damals noch jungen Sozialdemokratie nahe; mit den Vordenkern des Austromarxismus Max Adler, Otto Bauer und Karl Renner ist er befreundet. Früh engagiert er sich auch in der politischen Erwachsenenbildung, die er als unerlässlich für eine funktionierende Demokratie betrachtet. Dem Marxismus selbst steht er allerdings zeitlebens kritisch gegenüber.

Hans Kelsen ist von Beginn an für die neue „deutschösterreichische“ Staatsführung, insbesondere für Staatskanzler Karl Renner, beratend tätig. Sein Rechtsgutachten, wonach „Deutschösterreich“, ebenso wie die Tschechoslowakei oder der jugoslawische Staat, ein neuentstandener Staat und nicht Rechtsnachfolger der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und somit auch nicht mitschuldig am Ausbruch des Ersten Weltkrieges sei, wird von den Siegermächten allerdings nicht anerkannt.

L'Autriche, c’est ce qui reste – Österreich ist das, was übrig bleibt. Georges Clemenceau, französischer Ministerpräsident, 1919 (zugeschrieben)

Deutschösterreich“ wird im Friedensvertrag von St. Germain auf das kleine „Österreich“ zusammen­gestutzt, der von vielen gewünschte Zusammenschluss mit der Deutschen Republik kommt nicht zustande. Statt Teil eines größeren Bundesstaates wird Österreich nun selbst ein solcher, am besten, so Kelsen, nach dem Muster der Schweiz.

Wer soll der Hüter der Verfassung sein?

Im März 1919 erhält Hans Kelsen den Auftrag zur Ausarbeitung der Verfassung des neuen Staates. Kelsen, der heute gemeinhin als „Vater“ der österreichischen Bundesverfassung gilt, obwohl diese nicht von ihm alleine erarbeitet wird, legt mehrere Varianten vor. Schließlich einigen sich Sozialdemokraten und Christlichsoziale, Bund- und Landes­regierungen nach zähem Ringen auf einen Kompromiss. Neu geschaffen wird das Amt des Bundes­präsidenten, allerdings erhält dieser in erster Linie repräsentative Aufgaben. Und auch die Länderkammer des Parlaments, der Bundesrat, besitzt nur wenig politisches Gewicht im Verhältnis zum direkt vom Volk gewählten Nationalrat.

Die neue Verfassung wird am 1. Oktober 1920 von der kurz zuvor gewählten Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen. 
Besonderen Stellenwert besitzt der neu geschaffene Verfassungs­gerichtshof, der das exklusive Recht erhält, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls aufzuheben – eine neuartige und vielfach zum Vorbild genommene Praxis, die auf Kelsen zurückgeht.

Hans Kelsen ist ein vehementer Verfechter des Parlamentarismus, in seinen Augen die einzig mögliche reale Form […], in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann. Es sei deshalb unerlässlich, dass das Parlament möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen entsprechend ihrem Kräfte­verhältnis widerspiegle. Ein Verhältnis­wahlrecht mit Wahlkreisen, das in erster Linie große Parteien begünstige, lehnt er ab, ebenso wie die Fiktion eines Staatspräsidenten als „Hüter der Verfassung“.

Als Verfassungsrichter angefeindet

Ab 1919 fungiert Kelsen auch als parteiunabhängiger Experte an dem von ihm mitgestalteten Verfassungsgerichtshof (VfGH). In dieser Funktion prägt er dessen Rechtsprechung und gerät bald ins Kreuzfeuer der Konservativen, die nach dem Ende der Großen Koalition ab 1920 die Regierungen auf Bundesebene stellen.

Die Streitfälle sind meist nur symbolischer Natur, etwa die Weigerung des Wiener Bürgermeisters Jakob Reumann, Arthur Schnitzlers Skandalstück „Reigen“ zu verbieten, oder die Errichtung eines Krematoriums in Wien. In beiden Fällen scheitert die von der Bundesregierung gegen Reumann erhobene Anklage vor dem Verfassungs­gerichtshof.

Besondere Empörung löst ein familienrechtliches Erkenntnis des VfGH aus. Obwohl die Ehescheidung in Österreich verboten ist, gestattet der sozialdemokratische nieder­österreichische Landeshauptmann Albert Sever per Dispens die standesamtliche Wiederver­heiratung nach einer Trennung.
Der von der Bundesregierung angerufene Oberste Gerichtshof erklärt diese Eheschließungen zwar für ungültig, der Verfassungs­gerichtshof hingegen hebt die Dispensehen nicht auf und entfacht damit wütende Reaktionen. Katholische Kirche und Christlichsoziale beschuldigen den „Juden“ Kelsen, der geistige Vater dieser Erkenntnisse gewesen zu sein.

Auf der „gelben Liste“

Ab 1927 drängen die austrofaschistischen Heimwehren auf eine Verfassungsreform, die das parlamentarisch-demokratische System zugunsten eines „starken Mannes“ beseitigen sollte. Um der drohenden Gefahr eines Putsches zuvorzukommen, einigen sich Christlichsoziale und Sozialdemokraten 1929 auf eine Reform, die das politische Gewicht des Bundes­präsidenten im Verhältnis zum Nationalrat deutlich aufwertet. Hans Kelsen ist an diesen Verfassungsarbeiten zwar nicht beteiligt, allerdings persönlich davon betroffen, da nun sämtliche Richter des Verfassungsgerichts­hofes nach einem veränderten Modus neu bestellt werden. Das Angebot der Sozialdemokraten, ihn auf die Liste der vom Nationalrat zu wählenden Verfassungsrichter aufzunehmen, lehnt er ab.

Auch an der Universität Wien werden die Zustände zunehmend unhaltbar. Unter den Studierenden kursieren „gelbe Listen“, die vor dem Besuch von Vorlesungen jüdischer Professoren warnen.

Gastspiele

Hans Kelsen verlässt Wien im Jahr 1930 und folgt dem Ruf der Universität Köln. Der damalige Kölner Oberbürgermeister und spätere Kanzler Konrad Adenauer hatte sich persönlich für ihn eingesetzt.

Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers im Januar 1933 wird Kelsen von seinem Amt als Hochschul­lehrer beurlaubt. Noch im selben Jahr tritt er eine Professur für Völkerrecht am Institut Universitaire de Hautes Études Internationales in Genf an. 1936 folgt er außerdem einer Berufung der tschecho­slowakischen Regierung zum Ordinarius für Völker­recht an der Prager Karl-Ferdinands-Universität und erwirbt sogar die tschechoslowakische Staats­angehörigkeit. Doch auch in Prag löst seine Bestellung gewalttätige Proteste „deutsch-völkischer“ und nationalsozialistischer Studenten aus. Das Münchener Abkommen und die Zerschlagung der Tschechoslowakei 1939 beenden Kelsens kurzes „Prager Gastspiel“.

Exil ohne Heimkehr

1940 ist es Zeit für Hans Kelsen, Europa zu verlassen. Er geht zunächst nach Harvard und wechselt schließlich als Gastprofessor an die University of California in Berkeley, wo er bis 1957 Politikwissenschaft lehrt. In Österreich wird Kelsen nach 1945 in die  Akademie der Wissen­schaften aufgenommen, eine Einladung zur Rückkehr nach Wien bleibt jedoch aus. Für sein Lebenswerk erhält er insgesamt elf Ehrendoktorate.

Noch heute, mehr als 100 Jahre später, preisen Verfassungsjuristen die „Schönheit und Eleganz“ von Kelsens Schöpfung.

Anlässlich des 90. Geburtstages von Hans Kelsen beschließt die österreichische Bundesregierung 1971, eine Stiftung mit dem Namen Hans Kelsen-Institut zu gründen. Aufgabe ist es, die Reine Rechtslehre und ihren wissenschaftlichen Widerhall im In- und Ausland zu dokumentieren und ihre weitere Entwicklung zu fördern. Weitere „Hans-Kelsen-Forschungsstellen“ existieren an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und an der Universität Kiel.
In der Wickenburggasse 23 im 8. Bezirk erinnert eine Gedenktafel mit Porträtrelief daran, dass Hans Kelsen von 1912 bis 1930 in diesem Haus wohnte. Seit 1981 gibt es in Wien-Landstraße eine Kelsenstraße. 

Werk Sozialismus und Staat, 1920; Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920; Grundriß einer allgemeinen Theorie des Staates, 1926; Reine Rechtslehre, 1934; The Law of the United Nations, 1950; Was ist Gerechtigkeit?, 1953; Naturrechtslehre und Rechtspositivismus, 1961.

Literatur Jochen von Bernstorff, Der Glaube an das universale Recht, 2001; Karl Bruckschwaiger, Die Rolle von Philosophie und Politik bei Hans Kelsen, 2002; Clemens Jabloner (Hrsg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre, 2001; Adolf Merkl (Hrsg.), Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag, 1971; Robert Walter (Hrsg.), Hans Kelsens stete Aktualität, 2003.

Fuss ...