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Aktuelle Seite: Der Kampf gegen den „Unverstand der Massen“
0043 | 19. OKTOBER 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Der Kampf gegen den „Unverstand der Massen“

Für die junge Arbeiterbewegung ist die eigene Zeitung weit mehr als ein bloßes Informations­medium oder Kommunikations­mittel. Die „eigene Zeitung“, das ist ein Versprechen und eine Verheißung.

Kein Wunder, dass der „Eifer für die Presse“ in der Arbeiterbewegung von Anfang an sehr groß ist. Bereits im Revolutionsjahr 1848 und dann – nach fast zwei Jahrzehnten der strengen Zensur – wieder ab 1867 erscheinen zahllose, meist nur kurzlebige Blätter mit klingenden Titeln wie Der Ohnehose – in Anlehnung an die „Sansculotten“, wie die Arbeiter ohne Kniebund­hosen während der Französischen Revolution bezeichnet wurden –, Der Proletarier, Der Radikale, Vorwärts!, das Arbeiter-Blatt, die Volksstimme und der Volkswille, der Agitator, die Freiheit, die Zukunft oder die Wahrheit. Konterkariert werden alle diese Bemühungen lange Zeit durch interne Querelen, wirtschaftliche Probleme und behördliche Schikanen.

Unausgesetzter Kampf

Erst 1889 kann sich mit Victor Adlers Arbeiter-Zeitung eine lebensfähige und überregional verbreitete Zeitung etablieren, die ab 1895 schließlich täglich erscheint. Der Parteigründer Adler betont bereits 1891 die politische und erzieherische Aufgabe der Arbeiterpresse: In jedem Lande ist die Leistung eines Arbeiterblattes unausgesetzter Kampf: Kampf gegen die Ausbeuterklasse und ihre Organe, Kampf gegen die Übergriffe einzelner Ausbeuter, Kampf gegen den Feind, den wir am tiefsten hassen, gegen den systematisch gezüchteten, mit allen gesetzlichen und unge­setzlichen Mitteln aufrechterhaltenen Unverstand der Massen.

Der Stil der Arbeiter-Zeitung trifft nicht nur auf Zustimmung, er wird als „abgehoben“ kritisiert, die Redakteure werden aufgefordert, auf den Gebrauch „schwer verständlicher“ Fremdwörter zu verzichten.

Mit Brudergruß und Handschlag

Um die beschworenen „Massen“ auch zu erreichen, erscheint am 19. Oktober 1891 die erste Nummer der Volkstribüne, das „Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes“. Programmatisch heißt es da: Die ‚Volkstribüne’ wird scharf und derb geschrieben sein, ohne roh zu werden, und sie wird sich eindringlich und anfeuernd ausdrücken, ohne in dummes Poltern zu verfallen, das unseren Feinden nur ein Lachen abringt. Unterzeichnet: Mit Brudergruß und Handschlag, Franz Schuhmeier, Herausgeber – Emil Kralik, Redakteur.

Der Volkstribun der Volkstribüne

Vom ersten Tag an war er der beliebteste und gefürchtetste Redner, beliebt wegen seines wienerischen Humors und seines gutmütigen Spotts, gefürchtet wegen seines beißenden Witzes und der wuchtigen Schläge, die er gegen seine Gegner führte.Arbeiter-Zeitung

Herausgeber der neuen Volks­zeitung ist Franz Schuhmeier, der „Volkstribun von Ottakring“. Schuhmeier, der von seinen Gegnern oft als „Hutschen­schleuderer“ und „Demagoge“ verunglimpft wird, eckt mit seiner derb „proletarischen“ Art auch innerhalb der eigenen Partei an, besonders bei Victor Adler, der Schuhmeiers „Radau-Opportunismus“ außerhalb von „Wildwest“, den westlichen Wiener Arbeitervorstädten, „ganz unmöglich“ findet. Dennoch: Als begnadeter Rhetoriker liefert sich Schuhmeier legendäre Wort­gefechte mit dem ebenso rede­gewandten Bürgermeister Karl Lueger.

Die neue Wochenzeitung ist, wie es in der ersten Nummer heißt, volksthümlich geschrieben und leicht verständlich, das genaue Gegenteil der anspruchsvollen Arbeiter-Zeitung. Schuhmeiers „Raucherklub“ Apollo, ein getarnter Bildungs­verein, steuert 50 Gulden für den Gründungsfonds der Volkstribüne bei.

Die Redaktionsräumlichkeiten – ausgestattet mit zwei alten Schreibtischen, einem Verkaufspult und ein paar Stellagen – befinden sich in einem kleinen Gassenlokal in der Hundsturmstraße.
Ab dem 1. November 1894 erscheint die Volkstribüne drei Mal wöchentlich, ab Jahresbeginn 1900 bereits täglich, und erreicht mit einer Auflage von 60.000 Stück bald das Vierfache der Arbeiter-Zeitung.

Die Volkstribüne unter Schuhmeiers Leitung ist eine scharfe Waffe, weshalb viele Nummern konfisziert werden. Meist ist die Auflage da schon in die Hände der Leser gelangt. Schuhmeier lässt eine zweite Auflage mit nur wenigen Exemplaren drucken und setzt anstelle des konfiszierten Artikels den Hinweis: Aus dem Staatsgrundgesetze vom 21. Dezember 1867, Artikel 13: Jedermann hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern. Die Presse darf weder unter Zensur gestellt, noch durch das Konzessionssystem beschränkt werden.

Die Presse, die es verdient...

Am 2. Januar 1900 betritt mit der Österreichischen Kronen-Zeitung erstmals ein durch und durch „kleines Blatt“ den Zeitungs­boulevard – in Aufmachung, Stil und Inhalt. Die Krone ist ein Kleinformat, das seinen geringen Preis – eine Krone monatlich – sogar im Titel trägt und mit Sensationsberichterstattung – etwa über den „Königsmord von Belgrad“ – und ersten Gewinnspielen bald zum auflagenstärksten Blatt der Monarchie avanciert.

Die meisten Arbeiter wählen sich heute noch selbst Blätter zur Lektüre, die ihnen bei jeder Gelegenheit frech ins Gesicht spucken.Volkstribüne, 1892

Durch Massenblätter wie dieses gerät die sozialdemokratische Presse mehr und mehr unter Druck. Zugeständnisse, etwa beim Preis, bei der Aufmachung oder im Bezug auf eine leichtere Lesbarkeit werden nicht gemacht.

Im Kampf gegen die „bürgerliche“ Boulevardpresse erscheint in den Jahren 1912 und 1913 zusätzlich alle zwei Wochen Das Volk. Für die „breiten Schichten der Bevölkerung“ gedacht, erreicht das nur vierseitige „2-Heller-Blatt“ eine Auflage von 70.000 Stück und soll, so Georg Emmerling beim Parteitag 1912, Aufklärung in die großen Massen der noch indifferenten Arbeiter tragen.

Nicht nur die Presse, die es verdient, hat das Volk: die Presse, die es hat, will es auch.Friedrich Austerlitz, 1926

Es nützt alles nichts: 1919 muss die Volkstribüne aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt werden. Die Sozialdemokratie wird sich erst 1927, nach langen internen Diskussionen, dazu durchringen können, wieder eine „volkstümliche“ kleinformatige Tageszeitung herauszugeben. Diese soll „sauber geschrieben“ sein und als Ergänzung zur Arbeiter-Zeitung neue Leserschichten erschließen.

Am 1. März 1927 heißt es: „Das Kleine Blatt ist da!“ Ähnlichkeiten des „Covermodels“ mit Volkstribun Schuhmeier sind wohl rein zufällig.

PRESSE UND PROLETARIAT

Sozialdemokratische Zeitungen im Roten Wien

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