Am 18. Juni 1896 wird der Zentralverein der Wiener Lehrerschaft gegründet, der für die politische Unabhängigkeit der Lehrkräfte, die Verbesserung ihrer Bezüge, die Loslösung des Schulwesens vom Einfluss der katholischen Kirche und seine innere Erneuerung eintritt.
Die Schulstube ist das Schlachtfeld, auf dem entschieden wird, ob die Gesellschaft christlich bleibt oder nicht. Dieser Ausspruch geht auf Papst Leo XIII. (1810–1903) zurück und findet im gängigen „Kathederunterricht“ seinen Niederschlag. Die Kinder sollen zu gläubigen und nützlichen Untertanen erzogen werden.
Der Unterlehrer Otto Glöckel, der mit 18 Jahren zum Unterricht an einer Volksschulklasse auf der Schmelz zugelassen wird, kann von diesem Schulsystem ein Klagelied singen: Die Klasse ist mit über 60 Schülern heillos überfüllt, zwei Drittel davon sind „Repetenten“, die Mehrzahl schläft bereits zu Beginn des Unterrichts ein, weil sie von der Arbeit ermüdet und mit leerem Magen in die Schule kommt.
Den Lehrkräften geht es nicht viel besser. Viele leben mit ihren Bezügen unter dem Existenzminimum: Während der Staat für die Erhaltung eines Postpferdes den jährlichen Betrag von 400 fl. aussetze, dulde er es, daß die Lehrer, die Erzieher der heranwachsenden Generazion, mit einem ‚Jahres-Gehalt‘ von 200 fl. Darben, klagt die „deutschliberale“ Leitmeritzer Zeitung 1897.
Noch schlimmer ist die materielle Lage der Aushilfslehrer, die als Ersatzkräfte von einer Schule zur nächsten wandern müssen und deshalb von ihren Kollegen „mit billigem Spott“ fliegende Hunde genannt werden. Sie sind die Tagelöhner des Schulwesens, in der Ferienzeit verdienen sie gar nichts.
Auch die jüngsten Lehrkräfte, die „Unterlehrer“, können ihre Lebenshaltungskosten kaum bestreiten. Der Unterlehrer und spätere Wiener Bürgermeister Karl Seitz beruft deshalb 1892 eine erste Versammlung dieser pädagogischen Taglöhner in Wien ein; das war der Vorstoß zur Gründung des Zentralvereins.
Er, der bescheidene Unterlehrer,hat die Lehrer sehend gemacht […]. Es war die erste Berührung der Arbeiterschaft mit den intellektuellen Schichten […]; die erste große Eroberung des revolutionären Sozialismus in der intellektuellen Welt, schreibt die Arbeiter-Zeitung 1929.
Wer heute noch nicht eingesehen hat, wie nothwendig die Organisation für uns ist, ist entweder ein Schwachkopf oder ein ganz erbärmlicher Kerl. Arbeiter-Zeitung, 1896
Zur Unterstützung der politischen Agitation wird 1895 die Zeitschrift „Freie Lehrerstimme“ gegründet. Ein Jahr später, am 18. Juni 1896, findet im Sitzungssaal des Alten Rathauses in der Wipplingerstraße die Gründungsversammlung des Zentralvereins der Wiener Lehrerschaft statt. Obmann wird zunächst Franz Wichtrei, bald übernimmt jedoch Karl Seitz – der eigentliche Vater des Vereins – den Vorsitz.
Die Behörde glaubt, daß der Lehrer nicht nur für eine bestimmte Arbeitszeit seine Arbeitskraft verkauft, sondern für sein ganzes Leben seine ganze Persönlichkeit, beschwert sich der Lehrer Alexander Täubler bei der Gründungsversammlung. Wir gehen mit der Schulbehörde gerade so wie der Fabriksarbeiter mit seinem Unternehmer einen Arbeitsvertrag ein.
Frauen sind im Verein noch nicht vertreten. Um ihre Mitgliedschaft entwickelt sich die erste große Auseinandersetzung, die mit dem Austritt der „national“ gesinnten Lehrer endet, die nur männliche germanische Lehrpersonen als Mitglieder dulden wollen.
Den Frauen, deren eigentliche Aufgabe im Haus verortet wird, bleibt der Eintritt vorerst also versagt. Erst 1898 wird mit Auguste Fickert, die bereits einige Jahre zuvor die Gründung des Arbeiterinnen-Bildungsvereins tatkräftig unterstützt hatte, die erste Lehrerin aufgenommen.
Zur Jahreswende 1897/98 zählt der Zentralverein bereits über 1.300 Mitglieder und fungiert in erster Linie wie eine Lehrergewerkschaft, die sich für höhere Löhne und ein neues Dienstrecht einsetzt.
Obwohl der Zentralverein der Wiener Lehrerschaft zunächst völlig parteiunabhängig agiert, hängen viele Lehrer bereits sozialdemokratischen Ideen an, weil sie sich, so Alexander Täubler, bei ihrer elenden Lage für eine Kritik der Gesellschaft interessieren. Die Not lehrt denken und daß das Lehrerelend es gründlich lehrte, dafür haben die Schulhalter […] vorgebaut.
1898 beschließt eine Gruppe junger Aktivisten innerhalb des Zentralvereins, die sich „Die Jungen“ nennt, ein Programm, das für die sozialdemokratische Bildungsbewegung insgesamt richtungsweisend sein wird.
Im Kapitalismus, so der Tenor, wird einesteils die Überproduktion an Intelligenz gehemmt und andernteils das ausschließliche Recht der Besitzenden auf höhere Bildung gestärkt und befestigt. Daher müsse das Bildungswesen für eine gleichmäßige, nur von den persönlichen Fähigkeiten des Individuums abhängige Bildung von Arm und Reich sorgen.
Die Talente der Armen sind zur Verkümmerung verurteilt.
Gefordert werden außerdem die Abschaffung der Kinderarbeit, die Unentgeltlichkeit des Unterrichts sowie die vollständige Trennung von Schule und Kirche.
Für den christlich-sozialen Bürgermeister Karl Lueger ist der Verein ein rotes Tuch. Kein Lehrer hat das Recht, so Lueger 1901, Sozialdemokrat zu sein.Sie müssen aus den österreichischen Schulen hinausgejagt werden.
Otto Glöckel, Alexander Täubler und Arnold Riese werden ohne Angabe von Gründen aus dem Schuldienst entlassen. Auch Karl Seitz wird mehrmals „diszipliniert“ und zum Unterlehrer zurückversetzt, 1926 wird er rückblickend über Lueger sagen: Seine Methoden waren kleinlich, spießbürgerlich, ihr Erfolg hat ihn nicht überlebt.
Mit dem Zerfall der Monarchie und der Ausrufung der Ersten Republik gewinnt der Zentralverein wieder an Bedeutung. Einige seiner Mitglieder erlangen staatstragende Funktionen: Karl Seitz wird am 15. März 1919 zum Präsidenten der Republik und der Nationalversammlung gewählt, Otto Glöckel wird Unterrichtsminister. Nun bekennt sich der Verein auch offen zur Sozialdemokratie. Die Forderungen der jungen Lehrer von 1896 […] fanden, beschleunigt durch die Revolution, jetzt ihre Erfüllung, schreibt die Arbeiter-Zeitung 1926.
Der Zentralverein hat an den Schulreformen Otto Glöckels maßgeblichen Anteil. Er unterstützt die „Innere Schulreform“, die eine Neuformulierung der Lehrpläne, eine Modernisierung der Unterrichtsmethoden und die Unentgeltlichkeit des Unterrichts vorsieht ebenso wie die Ideen der Arbeitsschule und der „Einheitsschule“ für alle 10- bis 14jährigen. Einige dieser modernen Vorstellungen können auch tatsächlich umgesetzt werden, manches fällt der Realität der politischen Kräfteverhältnisse zum Opfer.
In der Ersten Republik tobt ein regelrechter parteipolitischer Schul- und Kulturkampf. Die Vorstellungen der Christlich-Sozialen und der Deutschnationalen weichen grundlegend von denjenigen der Sozialdemokraten ab. Vor allem der christlich-soziale Bundeskanzler Ignaz Seipel vertritt die Meinung, Schulfragen seien von der katholischen Kirche zu entscheiden. Aus Sicht der Linken will der Prälat die Bildungspolitik wieder auf die Grundsätze des Kirchenrechts aus dem 14. Jahrhundert stellen.
Am 12. Februar 1933 druckt das antisemitische und rechtsgerichtete humoristische Blatt „Kikeriki“ ein Republikanisches Schauspiel in 5 Akten ab, in dem Karl Seitz die Hauptrolle zufällt:
Unterlehrer Karl Seitz: „Also wiederholen wir, was Ihr heute gelernt habt. Maier, sage mir einen Hauptsatz!“
Schüler Maier: „Eigentum ist Diebstahl!“
Unterlehrer Karl Seitz: „Sehr gut! Setz dich! Und Du Müller, sage mir einen Ausübesatz!“
Schüler Müller: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Unterlehrer Karl Seitz: „Brav! Huber, bilde Du einen Fragesatz!“
Schüler Huber: „Seid ihr schon alle organisiert?“
Unterlehrer Karl Seitz: „Ausgezeichnet! Schmidt, nun verbinde Du einen Hauptsatz mit einem Bedingungsnebensatz!“
Schüler Schmidt: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!“
Unterlehrer Karl Seitz: „Note 1 mit Stern!“
Bereits am 12. Februar 1934 werden zahlreiche sozialdemokratische Schulleiter ihrer Stellung enthoben und durch klerikal gesinnte ersetzt. Die Polizei dringt in die Kanzlei des Zentralvereins ein und beschlagnahmt dessen Vermögen.
Nach dem behördlichen Verbot des Vereins setzen viele seiner Mitglieder ihre Arbeit in getarnten Organisationen fort, etwa im „Lehrerverein Paul Natorp“, der 1936 ebenfalls aufgelöst wird. Dann fliegt auch die letzte Zufluchtsstätte in einer Bücherei in Ottakring auf – der Bücherbestand zur Reformpädagogik wird größtenteils vernichtet.
Der Zentralverein der Wiener Lehrerschaft wird am 20. April 1945 unter Josef Enslein wiedererrichtet. Er besteht bis heute als Wiener Landesgruppe des Sozialistischen Lehrervereins Österreichs (SLÖ). Die künftige Schule, so der Lehrer Carl Furtmüller 1947, wird mehr als bisher eine Erziehungsschule sein müssen, die es sich zur Aufgabe macht, nicht nur Bildung zu vermitteln, sondern Menschenbildung zu gewährleisten.
Literatur
Heinrich Salfenauer, Der Zentralverein der Wiener Lehrerschaft von seiner Gründung bis 1934, Salzburg 1978.