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Nach Inkrafttreten des liberalen „Preßgesetzes“ am 18. Mai 1848 erscheinen in ganz Österreich innerhalb kürzester Zeit über 300 periodische Druckwerke, darunter 86 Tageszeitungen. Die wenigsten von ihnen überdauern allerdings den Herbst dieses Revolutionsjahres. In den darauffolgenden 40 Jahren wetteifern zahlreiche Blätter um die Vormachtstellung als „Zentralorgan der Arbeiterbewegung“.
Bereits am 18. Mai kommt die erste Nummer des Wiener allgemeinen Arbeiter-Blatts heraus. Der Leitartikel stammt vom Buchbindergesellen und „Redaktionsgehilfen“ Friedrich Sander, der ganz bescheiden mit „ein Gesell“ zeichnet. Das Arbeiter-Blatt gibt es insgesamt nur achtmal, bei der Gründung von Sanders „Erstem Allgemeinen Arbeiterverein“ im Juni 1848 existiert es schon nicht mehr.
Andere Druckwerke des revolutionären Sommers von 1848 tragen so klingende Namen wie Der Ohnehose – in Anlehnung an die „Sansculotten“, wie Arbeiter ohne Kniebundhosen während der Französischen Revolution genannt wurden –, Der Proletarier, der Volksmann oder Der Radikale, in dem am 31. August auch über den Wienbesuch Karl Marx’ berichtet wird.
Ab 2. Juli 1848 erscheint die Österreichische Typographia als „Journal für Arbeiter von Arbeitern“ insgesamt zwölf Mal. Im September wird die Zeitschrift von Joseph Hermann Hillischer und Friedrich Sander unter dem Namen Arbeiter-Zeitung wiederbelebt.
Im Herbst 1848 ist es mit den Zugeständnissen an die freie Meinungsäußerung vorbei. Der junge Kaiser Franz Joseph I. macht die Reformen seines Vorgängers rückgängig und führt die Zensur wieder ein. Auf die frühe Arbeiterpresse des Jahres 1848 folgen Neoabsolutismus und zwanzig Jahre publizistisches Vakuum.
Als „Hilfspresse“ dienen der Arbeiterschaft ab Ende der 1850er-Jahre liberale Volksblätter, wie Die Arbeit,Die Zeit oder Der Agitator, die sich auch mit Arbeiterfragen beschäftigen, jedoch allesamt von bürgerlichen Kreisen herausgegeben werden.
Das liberale Vereinsgesetz von 1867 macht die neuerliche Gründung von Arbeiterbildungsvereinen möglich; in den darauffolgenden Jahren entstehen einige Vereinsblätter, die auch in den Lesezimmern der Bildungsvereine und der Gewerkschaften aufliegen. Weitere Abnehmer dieser Publikationen sind Gast- und Kaffeehäuser oder Trafiken. Der Direktvertrieb ist verboten.
Unter dem Motto „Durch Wissen zum Sieg!“ erscheint ab November 1867 der Vorwärts!, die wöchentliche Zeitschrift der Buchdrucker, herausgegeben vom„Fortbildungs-Vereinfür Buchdrucker und Schriftgießer in Wien“, ein „die Interessen der sämtlichen Arbeiter vertretendes politisches Journal“.
Die Buchdrucker gelten gemeinhin als die geistige Elite der Arbeiterbewegung...
Andere Blätter wie Selbsthilfe oder Der Pioniererscheinen alternierend, um die Kaution, die für alle mehr als zwei Mal im Monat erscheinenden Publikationen zu entrichten ist, zu umgehen, bringen es im Jahr 1868 aber nur auf einige wenige Ausgaben.
Die im Jahr 1855 gegründeteKonstitutionelle Vorstadt-Zeitung, eine liberal-demokratische Interessensvertretung des Kleinbürgertums, nimmt sich ab Februar 1868 mit ihrem zwei Mal wöchentlich erscheinenden Bei- und Extrablatt Wiener Arbeiter-Zeitung als erste auch direkt der „Arbeiterfrage“ an. Im Vordergrund stehen jedoch eindeutig kommerzielle Interessen. Heinrich Oberwinder, einer der Pioniere der gemäßigten österreichischen Arbeiterbewegung, veröffentlicht am 3. Dezember 1867 in der Vorstadt-Zeitung eine mit „O“ gekennzeichnete Abrechnung mit dem ersten Arbeitertag der linken Konkurrenz.
Von März 1868 bis Ende 1869 erscheint mit dem Arbeiter-Blatt als „Extrablatt“ zum liberalen Telegraf zwei Mal wöchentlich eine der ersten Zeitschriften, die eine dezidiert internationalistische Richtung vertritt und sich auch inhaltlich mit dem Marxismus befasst. Als Ziel definiert das Arbeiter-Blatt „Gleiches Recht für Alle!“ und druckt im Sommer 1868 sogar das „Manifest der Kommunistischen Partei“ ab.
Mit dem Erstarken der jungen Arbeiterbewegung wächst das Bedürfnis nach einer eigenen Parteipresse als Gegengewicht zur überwiegend bürgerlichen Presse. Jedoch: Die wenigen und kleinen Arbeiterblätter, die der Verbreitung des Sozialismus dienen sollten, fristeten ein kümmerliches Dasein, konstatiert der Parteihistoriker Ludwig Brügel 1922 in seiner Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie.
Am 11. April 1869 – dem 44. Geburtstag des bereits verstorbenen Ferdinand Lassalle – erscheint die erste Nummer der Volksstimme, gegründet von Heinrich Oberwinder mit Unterstützung eines Schweizer Revolutionsfonds. Dieses „Organ der sozial-demokratischen Partei“ fordert in seinem ersten Leitartikel unter anderem das allgemeine direkte Wahlrecht, das unbeschränkte Vereins- und Versammlungsrecht sowie das Koalitionsrecht der Arbeiter.
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Andreas und Heinrich Scheu
Nach einer Arbeiterdemonstration im Dezember 1869 reagieren die staatlichen Behörden mit einem Hochverratsprozess gegen Oberwinder. Die Volksstimme verstummt nach nur 17 Ausgaben.
Das Nachfolgeorgan lässt jedoch nicht lange auf sich warten: Zu Beginn des Jahres 1870 gründet Andreas Scheu den Volkswillen mit einer Auflage von immerhin 6.000 Stück. Als Scheu im Zuge des Hochverratsprozesses 1870 ebenfalls angeklagt und verurteilt wird, übernimmt sein jüngerer Bruder Heinrich interimistisch die Herausgabe des Blattes.
Zwar werden Oberwinder und Scheu bereits 1871 amnestiert, allerdings verschärft sich der Konflikt zwischen den „Radikalen“ um die Brüder Scheu, die sich verstärkt dem Marxismus zuwenden, und den „Gemäßigten“ um Oberwinder, die zusehends ins liberale Lager abdriften.
Der Volkswille existiert mehr als vier Jahre lang, erscheint zunächst wöchentlich, dann zwei Mal wöchentlich und gilt als „scharfe Waffe“.
Wegen Überschuldung muss die Zeitschrift 1874 – kurz nach dem „geheimen“ Gründungsparteitag der österreichischen Sozialdemokratie im niederösterreichischen Neudörfl – ihr Erscheinen einstellen.
Die Presseorgane der Sozialdemokratie waren mehr als nur ein Sprachrohr der Partei, vielmehr waren sie die Partei. Marion Gusel, 1991
Am 12. Januar 1870 wird in Wiener Neustadt die Gleichheit als Lokalblatt gegründet. Die erste Ausgabe bleibt eine Eintagsfliege. Ab 1. Dezember 1870 erscheint die Gleichheit, wieder bei Nummer eins beginnend, im Zweiwochentakt. Ihre Ausrichtung ist liberal-demokratisch und antiklerikal.
Ab 1872 ändert sie jedoch die Blattlinie, die Gleichheit ist nunmehr ein dezidiert sozialdemokratisches Blatt. Mit dem Wechsel Andreas Scheus zur Gleichheit im Mai 1873 steigt auch deren Auflage. Nach dem „geheimen“ Parteitag von Neudörfl, an dessen Organisation Scheu federführend beteiligt ist, versteht sich auch die Gleichheit als „Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Oesterreich“ und bildet ein Gegengewicht zu den „gemäßigten“ Blättern Volkswille, Die Zeit und Agitator, allesamt herausgegeben von Heinrich Oberwinder. Im Juni 1874 emigriert Andreas Scheu nach England, die Wiener Neustädter Gleichheit wird unter wechselnden Herausgebern weitergeführt.
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Heinrich Oberwinder
Oberwinders privates Nachfolgeorgan des Volkswillen ist Die Zeit. Sie ist ein „auch“ für Arbeiter redigiertes Blatt, das sich jedoch sehr stark an der liberal-demokratischen Presse orientiert und sogar um kommerzielle Anzeigen wirbt. Oberwinders „Allgemeiner österreichischer Arbeiterverein“ gibt ab Mai 1875 auch den Agitator heraus. Während Die Zeit Aufklärungs- und Bildungsarbeit leisten soll, steht der Agitator für „Kampf und Polemik“.
1877 kommt es zur Aussöhnung der „Radikalen“ mit Oberwinders Arbeiterverein, die Wiener Neustädter Gleichheit avanciert vorübergehend zum Organ der gesamten Bewegung. Noch im selben Jahr werden sowohl der Agitator als auch die Gleichheit eingestellt und vom Sozialist, dem neuen „Zentral-Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Oesterreichs“ abgelöst. Der Sozialist, in dem auch der Theoretiker Karl Kautsky unter einem Pseudonym schreibt, geht 1879 jedoch an Abnehmermangel zugrunde; die Leser werden an den Reichenberger Volksfreund verwiesen.
Nachdem seitJanuar 1877 auch Der Gewerkschafter als „Organ für die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter Oesterreichs“ erscheint und auf dem Parteitag von Atzgersdorfim selben Jahr die Gründung der Sozialpolitischen Rundschau als Mitgliederzeitschrift beschlossen wird, verfügt die noch in den Kinderschuhen steckende Sozialdemokratie 1878 vorübergehend sogar über drei Parteiblätter gleichzeitig.
Infolge einer neuerlichen Spaltung der Bewegung in sozialrevolutionäre Radikale und sozialdemokratische Gemäßigte lancieren die „Linken“ 1879 ihr neues Organ, Die Freiheit. Zur Umgehung derKautions- und Stempelpflicht soll sie alternierend mit dem Proletarier erscheinen. Der Versuch, die Kautionsbestimmungen mit einem derart plumpen Trick zu umgehen, wird von den Behörden freilich durchschaut, zumal beide Blätter dieselbe Redaktionsadresse aufweisen.
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Nachfolgerin wird im Oktober 1879 die ebenfalls vierzehntägig erscheinendeZukunft, ein weiteres „Zentralorgan der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs“. In ihrer Ausrichtung zunächst radikal, gleitet Die Zukunft allmählich in den Anarchismus ab und wird nach der Verhängung des Ausnahmezustands Anfang 1884 verboten.
Parallel zur Zukunft erscheint ab Juli 1881 als Publikation der „Gemäßigten“ die Wahrheit, ab Oktober 1882 ebenfalls mit dem Untertitel „Organ der Sozialdemokratischen Partei Österreichs“. Einer der Mitherausgeber ist Karl Kautsky. Wegen Problemen mit der Zensur wird auch sie im Februar 1885 eingestellt. Als Ersatz für die verbotene Zukunft wird den Lesern Der Radikale, das „Organ der Arbeiter Nordböhmens“ empfohlen; den „Gemäßigten“ bleibt nach der Einstellung der Wahrheit nur der Volksfreund aus Brünn.
Ende 1886 schließlich steigt der Arzt und spätere „Gründervater“ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Victor Adler (1852–1918) ins Zeitungsgeschäft ein und lässt am 11. Dezember die Gleichheit wiederaufleben.
In der „Probenummer“ heißt es: In Oesterreich, besonders in Wien unter dem Ausnahmszustand [sic!] ein Blatt herauszugeben, welches auf dem Standpunkte der sozialdemokratischen Arbeiterpartei steht, ist bekanntlich keine leichte Aufgabe. […] Der Arbeiterschaft ohne Rücksicht auf Fraktionsunterschiede eine nun in Wien schon lange und schwer entbehrte Waffe im Kampfe für ihr gutes Recht und die von ihr erkannte Wahrheit zuzuführen, ist die offene Ansicht und der einzige Zweck dieses Unternehmens.
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Die neue Gleichheit versteht sich als überfraktionell, erscheint immer samstags, und ist einer Tageszeitung bereits sehr ähnlich. Als Feuilleton beigelegt ist der Gleichheit ein „Illustriertes Unterhaltungsblatt für das Volk“. Illuster ist auch der Kreis der Mitarbeiter – Hermann Bahr, Friedrich Engels, Klara Zetkin, August Bebel, Eduard Bernstein, Wilhelm Liebknecht und die Brüder Scheu.
Im Dezember 1888 erscheinen ebendort Victor Adlers aufsehenerregende Berichte über „Die Lage der Ziegelarbeiter“, zum Jahreswechsel 1888/89 informiert die Gleichheit über den Einigungsparteitag in Hainfeld und druckt am 5. Januar 1889 die „Prinzipen-Erklärung“, also das künftige Parteiprogramm, ab. Als im April 1889 ein Bericht über den Streik der Tramwaykutscher in Wien erscheint, werden Victor Adler und der Verwalter des Blattes, Ludwig Bretschneider, angezeigt, Adler zu vier Monaten Kerker verurteilt.
Die Gleichheit, die in den dreißig Monaten ihres Bestehens insgesamt 45 Mal beschlagnahmt und um zahlreiche Artikel „erleichtert“ wird, muss infolge der Arbeiterunruhen in Steyr und der daraus resultierenden Ausnahmegesetze ihr Erscheinen am 14. Juni 1889 einstellen.
Nur einen knappen Monat später wird sie als Arbeiter-Zeitung wiederauferstehen...