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Aktuelle Seite: Der „Lehrer des Proletariats“
0073 | 28. JUNI 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Der „Lehrer des Proletariats“

Am 28. Juni 1937 stirbt der Jurist, Politiker und Gesellschafts­philosoph Max Adler in Wien. Anlässlich seiner Beerdigung erklärt der seines Amtes enthobene frühere Bürgermeister Karl SeitzDas Werk Max Adlers, heute in Österreich und Deutschland nicht anerkannt, wird in der Welt, weit über Europa hinaus gewürdigt. Dieses Werk wird weiterleben. Adler gehört der Geschichte der Idee an, der er gedient hat.

Max Adler, der mit den führenden Persönlichkeiten der österreichischen Arbeiter­bewegung gleichen Namens nicht verwandt ist, wird am 15. Januar 1873 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Wien geboren. Bereits während seiner Studentenzeit an der Universität Wien engagiert sich Adler politisch und gründet die „Freie Vereinigung Sozialistischer Studenten“. Nach seiner Promotion zum Dr. jur. im Jahr 1896 arbeitet er zunächst als Anwalt.

Kant und Marx verbinden

Max Adlers Hauptinteresse gilt jedoch den gesellschaftlichen Prozessen und Problemstellungen. Als überzeugter Marxist bemüht er sich um eine Synthese zwischen der Philosophie Immanuel Kants und der Lehre Karl Marx'. Zutiefst überzeugt, dass sich die Geschichte notwendigerweise auf den Sozialismus zubewege, bleibt Adler zeitlebens ein orthodoxer Marxist; gleichzeitig aber räumt er als philosophischer Idealist dem Geist den Vorrang vor der Materie ein.

Von 1904 bis 1923 fungiert Max Adler, gemeinsam mit Rudolf Hilferding, als Herausgeber der „Marx-Studien. Blätter zur Theorie und Politik des wissenschaftlichen Sozialismus“, einer Publikations­reihe zur Sammlung der wichtigsten Texte des Austromarxismus.

Daneben schreibt Adler für die Arbeiter-Zeitung sowie für das theoretische Organ der Sozial­demokratie, Der Kampf, und engagiert sich in der Volksbildung. Regelmäßig hält er im Athenäum, einer im Jahr 1900 ins Leben gerufenen Frauenakademie, Kurse für Frauen und Mädchen ab. Max Adler wird als mitreißender Redner beschrieben, dessen Vorträge vor allem bei der Jugend großen Zuspruch finden.

Linker Antibolschewist

Die „Kommunisten“ halten den Weg des russischen Bolschewismus für den allein richtigen. Wir lehnen dies ab, da der russische Weg eben nur in Rußland gegangen werden konnte, übrigens auch dort keineswegs zu dem ersehnten Ziel geführt hat. Max Adler, Neue Menschen, 1924

1909 heiratet Max Adler die aus Riga stammende Ärztin Jenny Herzmark (1877–1950). Das Paar hat zwei Kinder. Leonore Adler-Suschitzky (1910–1988) wird ebenfalls Ärztin und 1938 nach Großbritannien emigrieren; Robert Adler (1913–2007), der 1939 über Großbritannien in die Vereinigten Staaten von Amerika auswandert, wird als Chefphysiker des Elektrokonzerns Zenit Karriere und als Miterfinder der Fernbedienung Furore machen.

Während des Ersten Weltkriegs gehört Max Adler als deklarierter Kriegsgegner der linken Opposition innerhalb der Sozialdemokratie an. 1918 wird er Mitglied des Wiener Arbeiterrates, ist dabei allerdings stets ein exponierter Gegner der Kommunisten. 

Sozialistische Erziehung

Ab dem Frühsommer 1919 wirkt Adler gemeinsam mit dem Philosophen und Pädagogen Wilhelm Jerusalem, dem Psychotherapeuten Alfred Adler, der Journalistin und Lehrerin Marianne Pollak, dem Dichter und Volksbildner Josef Luitpold Stern und dem Pädagogen Otto Felix Kanitz an der Schönbrunner Erzieherschule. Hier sollen junge Menschen zu fortschrittlichen Pädagoginnen und Pädagogen ausgebildet werden.

Nachdem die Kinderfreundeschule Schönbrunn 1924 aus finanziellen Gründen schließen muss, unterrichtet Adler an der 1926 gegründeten Arbeiterhochschule in Döbling.

Der nachhaltige Einfluss Max Adlers ist weniger seinen philosophischen Arbeiten als seiner Rolle als Pädagoge und Mentor einer sozialistischen Kultur- und Erziehungspolitik zu verdanken. Der Sozialismus, so sein Credo, sei mehr als eine bloße Reformbewegung, er sei berufen, die Erschaffung einer ganz neuen Ordnung der Dinge vorzunehmen.

Der „bloße Lohnstandpunkt“ sei kein Klassen-, sondern bestenfalls ein Berufs- oder Brancheninteresse, „eine Zünftlergesinnung“: Überall dort nämlich, wo das Interesse der augenblicklichen Verbesserung der Lebensverhältnisse zum führenden und entscheidenden Gesichtspunkt für den Proletarier geworden ist, hat der Geist des Sozialismus keine Stätte mehr.Neue Menschen, 1924

Neue Menschen

Neue Menschen! – Das also ist das eigentliche Ziel einer revolutionären Erziehung, einer Erziehung, die jene neue Gesellschaft auch in den Seelen der Menschen vorbereitet. Neue Menschen, 1924

Adler will sich nicht mit der Aussicht auf eine bloße „Verbesserung der Lebens­verhältnisse“ der Arbeiterschaft zufrieden geben. Seine Vision ist der „Neue Mensch“, der sich qualitativ vom bisherigen unterscheidet. Hier gerät er allerdings in Gegensatz zum materialistischen Modell des Marxismus: Wenn das Sein tatsächlich das Bewusstsein bestimme, dann könne der „Neue Mensch“ nur durch eine neue Gesellschaftsordnung entstehen. Ohne den „Neuen Menschen“ aber, so Adler, könne die neue Ordnung erst gar nicht erschaffen werden.

Im Roten Wien – mit seiner sozialen Fürsorge- und Wohnbaupolitik und der aufklärerischen Bildungs- und Kulturpolitik – sieht Adler ein „Laboratorium“ zur Schaffung des „Neuen Menschen“ und einer sozialen Demokratie, in der mit den Klassengegensätzen auch die Unterdrückung abgeschafft und an ihre Stelle eine „solidarische Verwaltungsreform“ der Gesellschaft treten würde.

Opfer der Realpolitik

1919 tritt Adler selbst für einige Jahre in die Politik ein und gehört bis 1921 als sozialdemokratischer Abgeordneter dem Niederöster­reichischen Landtag an. Nach diesem kurzen Intermezzo widmet er sich als außerordentlicher Professor für Gesellschaftslehre an der Universität Wien wieder verstärkt der wissenschaftlichen Arbeit. Seine Ernennung zum Ordinarius wird von der antisemitischen „Deutschen Gemeinschaft (Österreich)“, einer konspirativen Vereinigung namhafter Mitglieder katholischer und deutschnationaler Studentenverbindungen, verhindert. 

Im Zuge der Februarkämpfe 1934 wird auch Max Adler, der sich bereits von allen Parteiaktivitäten zurückgezogen hatte, vorübergehend verhaftet, seine Bücher werden aus den Bibliotheken entfernt. In den letzten Lebensjahren widmet sich Adler seinen soziologischen und philosophischen Studien, muss jedoch aus ökonomischen Zwängen Teile seiner Bibliothek an das „Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis“ (Internationales Institut für Sozialgeschichte) in Amsterdam verkaufen.

An Max Adlers Geburtshaus in der Waschhausgasse 1a in der Leopoldstadt erinnert seit 1974 eine Gedenktafel an den Theoretiker des Austromarxismus.

Werk (Auswahl)
Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung, 1924; Kant und der Marxismus, 1925; Politische oder soziale Demokratie. Ein Beitrag zur sozialistischen Erziehung, 1926; Der Arbeiter und sein Vaterland, 1929; Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung, 1930.
Literatur
Alfred Pfabigan, Max Adler, 1982
Münchener Digitalisierungs Zentrum. Digitale Bibliothek

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