Am 28. September 1923 meldet die Arbeiter-Zeitung in der Rubrik „Tagesneuigkeiten“: Im Zustand des Genossen Hanusch ist gestern keine Veränderung eingetreten. Tags darauf erscheint das Blatt mit Trauerflor und einer mehrseitigen Würdigung des nach einer schweren Operation verstorbenen Genossen.
„Aus den tiefsten Tiefen des Proletarierelends“ sei er aufgestiegen, heißt es im Nachruf. Ferdinand Hanusch wird am 9. November 1866 als viertes Kind einer Weberfamilie in dem kleinen österreichisch-schlesischen Ort Oberdorf bei Wigstadtl (Horní Ves/ Vítkov) geboren. Der Vater stirbt einige Tage vor seiner Geburt an Tuberkulose, die Hausweberei der Mutter reicht kaum zum Lebensunterhalt. Der kleine Ferdinand arbeitet bereits als Sechsjähriger nach der Schule am Spulrad. Nach fünf Klassen Volksschule verdingt er sich als Tagelöhner, später als Fabrikarbeiter.
Mit 17 Jahren begibt sich Hanusch auf eine mehrjährige Wanderschaft, die ihn durch halb Europa und sogar bis in die Türkei führt. Zurück in Wigstadtl heiratet er 1891 und tritt im selben Jahr dem Arbeiterverein „Eintracht“ bei. Seine Frau Anna erliegt bereits 1895 ihrem Lungenleiden, im Jahr darauf stirbt auch das zweijährige Kind. Ferdinand Hanusch heiratet ein zweites Mal.
1897 wird Hanusch Partei- und Gewerkschaftssekretär in Sternberg (Šternberk), damals ein Zentrum der Textilindustrie in Nordmähren. Auf seine Anregung hin gründet sich eine gesamtösterreichische Union der Textilarbeiter, und im Jahr 1900 wählen ihn die Delegierten zu ihrem Sekretär. So gelangt Ferdinand Hanusch schließlich nach Wien. Mit Organisationstalent, rhetorischem Können und unermüdlichem Fleiß arbeitet sich Hanusch in der Gewerkschaftsbewegung hoch.
1903 wird er einer der Vorsitzenden der Reichskommission, dem Leitungsorgan der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften. Nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer zieht Hanusch 1907 als sozialdemokratischer Abgeordneter in den Reichsrat ein, wo er sich mit Verve für den Achtstundentag engagiert. 1916 wird auf seine Initiative eine gesetzliche Arbeitslosenunterstützung für Textilarbeiter eingeführt, 1918 die sechsstündige Arbeitszeit an Samstagen.
Zum Vergnügen sitze ich nicht im Staatsamt; wenn ich nichts für die Arbeiterklasse tun könnte, würde ich noch heute demissionieren. So lange ich das Staatsamt leiten werde, werde ich für die Arbeiterklasse tun, was ich kann. Ferdinand Hanusch während eines Gewerkschaftskongresses 1919.
Nach der Gründung der Republik ist es mit der Politik der kleinen Schritte vorbei. Ferdinand Hanusch wird Mitglied der Provisorischen, ab 1919 der Konstituierenden Nationalversammlung und ab November 1920 Abgeordneter zum Nationalrat, dem er bis zu seinem Tod angehört. Als Staatssekretär für soziale Fürsorge beziehungsweise ab 1919 für soziale Verwaltung – und damit erster Sozialminister Österreichs – ist er die treibende Kraft beim Umbau des Landes zu einem modernen Sozialstaat.
Hanusch ist ein Politiker, der die sozialen Verhältnisse aus eigener Erfahrung kennt und auch als Sozialminister für die einfachen Menschen erreichbar bleibt. Sein Büro war Tag und Nacht von Deputationen und einzelnen Bittstellern umlagert. Für alle hatte er ein gütiges, beruhigendes Wort, allen wußte er mit Rat und Tat beizustehen. […] Zu seiner Zeit gab es keine Bewachung des Ministeriums durch Polizeimannschaften. Auch in den gefährlichsten Situationen lehnte er jeden Schutz seiner Person ab, verhandelte immer persönlich, ehrlich und offen, heißt es in „Ferdinand Hanusch, Der Mann und sein Werk“, 1924.
Ende 1918 kann die seit Jahrzehnten erhobene Forderung nach Einführung des Achtstundentages und der 48-Stunden-Woche verwirklicht werden. „8-8-8. Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf“ lautet die Parole der Arbeiterbewegung.
Es folgen das Verbot der Kinderarbeit, die Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit für Frauen und Jugendliche, die sechswöchige Karenzzeit für Gebärende, der Urlaubsanspruch für Arbeiter, die Arbeitslosenversicherung, der durch Kollektivvertrag garantierte Mindestlohn, das weltweit erste Betriebsrätegesetz, mit dem die Arbeitnehmer ein Mitspracherecht in betrieblichen Angelegenheiten erhalten, sowie das Arbeiterkammergesetz. Vorbereitet, aber erst nach Hanuschs Amtszeit beschlossen werden auch die Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversicherung der Arbeiter, das reformierte Angestelltengesetz und die Neugestaltung des Krankenkassengesetzes.
Ferdinand Hanusch legt damit wesentliche Fundamente der modernen Sozialpolitik und der Sozialpartnerschaft in Österreich. Verwehrt bleibt ihm, die Einführung der Alters- und Invalidenpension der Arbeiter zu erleben – eines der großen sozialpolitischen Streitthemen der Ersten Republik.
Jedes dieser Gesetze allein hätte genügt, seinem Urheber unvergänglichen Ruhm und Dank der Arbeiterschaft zu sichern.
Revolutionär ist Ferdinand Hanusch jedoch nicht. Seine Sozialpolitik zielt auf die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterschaft ab, eine „sozialistische Revolution“ lehnt Hanusch ab.
Das schafft auch ein gewisses Vertrauen beim politischen Gegner, der diese Reformen aus Angst vor "ungarischen Verhältnissen" mitträgt. Die Opfer, die die Industrie bringen muß, fallen gegenüber den Milliardenschäden, die ein Tag Revolution in einer Großstadt bedeutet, nicht sehr in die Waagschale, erklärtHanusch im Dezember 1919 in seiner Rede vor der Industriekonferenz.
Ich muß schon sagen, mir ist die Einheit der Partei und der Gewerkschaften lieber als die ganze Regiererei.Ferdinand Hanusch, Juni 1923
Nach dem frühen Ende der Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen am 22. Oktober 1920 endet auch die Amtszeit des ersten Sozialministers der Republik.
Ferdinand Hanusch bleibt im Nationalrat Vorsitzender des sozialpolitischen Ausschusses und ist ab 1921 als Direktor der von ihm begründeten Wiener Arbeiterkammer tätig.
So lautet das Urteil des Historikers Richard Charmatz (1879–1965) über Ferdinand Hanusch als Arbeiterdichter und Volksschriftsteller. Hanusch, der trotz seiner spärlichen Schulbildung bereits als Jugendlicher zu dichten beginnt, hinterlässt neben seinen theoretischen Schriften zur Sozialpolitik insgesamt mehr als 3.000 Seiten an Prosatexten, Dramen und Gedichten. Daneben ist Ferdinand Hanusch, so wie sein Mentor Franz Schuhmeier, auch ein prominentes Mitglied der Freimaurerloge „Lessing zu den drei Ringen“.
1924, ein Jahr nach seinem Tod, wird die Hanuschgasse im 1. Bezirk nach ihm benannt. Auch der 1925 fertiggestellte Hanusch-Hof sowie das Hanusch-Krankenhaus tragen seinen Namen. 1928, zum zehnten Jahrestag der Gründung der Republik, wird Ferdinand Hanusch als einer von drei sozialdemokratischen Politikern auf dem Denkmal der Republik verewigt. Der heutige Kopf Hanuschs ist eine Nachbildung der im Austrofaschismus zerstörten Originalbüste Carl Wolleks von Mario Petrucci. Sein Ehrengrab befindet sich im Urnenhain der Feuerhalle Simmering.
Nach Ferdinand Hanusch benannte Straßen oder Plätze finden sich in Salzburg, St. Pölten, Knittelfeld, Leoben, Steyr, Brunn am Gebirge und Wimpassing.
Literatur: Otto Staininger (Hrsg.): Ferdinand Hanusch. Ein Leben für den sozialen Aufstieg (1886-1923), 1973; Walter Göhring, Brigitte Pellar: Ferdinand Hanusch. Aufbruch zum Sozialstaat, 2003.
Werk (Auswahl):Auf der Walze, 1907; Die Namenlosen, 1911; Lazarus, o.J.; Aus der Heimat, 1916.