Am 26. Juli 1959 stirbt einer der prominentesten Vertreter des Wiener „Gemeindebaustils“, der Architekt des Karl-Marx-Hofes, Karl Ehn in Wien.
Der 1884 in kleinbürgerlichen Verhältnissen geborene Ehn besucht ab seinem 15. Lebensjahr die Staatsgewerbeschule in Wien. Deren Direktor, der Stadtplaner Camillo Sitte, vertritt traditionelle, vielfach als „romantisierend“ kritisierte urbanistische Auffassungen. Im Anschluss daran studiert Karl Ehn von 1904 bis 1907 bei Sittes „Gegenspieler“ Otto Wagner an der Akademie der bildenden Künste.
Bereits während des Studiums erhält Karl Ehn für seine Projekte mehrere Auszeichnungen und gehört bald zu den erfolgreichsten Schülern Wagners. Von diesem übernimmt Ehn die repräsentative Monumentalität, die er später auf die sozialen Wohnbauten des Roten Wien anwenden wird. Ehn, der 1909, nur zwei Jahre nach seiner Ausbildung an der Akademie, eine Stelle im Wiener Stadtbauamt antritt, wird den typischen „Gemeindebaustil“ der großen „Superblocks“ entscheidend prägen.
Bemerkenswert an Karl Ehns Karriere ist, dass er seinen Posten im Stadtbauamt – ab 1921 in führenden Funktionen – über alle politischen Wechsel von den letzten Jahren der Monarchie über das Rote Wien der Ersten Republik, den christlich-sozialen Ständestaat und die anschließende NS-Zeit bis in die ersten Nachkriegsjahre der Zweiten Republik ausüben und 1950 als Senatsrat in Pension gehen wird.
In seiner Funktion als Stadtbaurat errichtet Karl Ehn ab 1924 mehrere große und stilprägende soziale Wohnbauten. In seinem Baustil verbinden sich Elemente der frühen Moderne und der expressionistischen Architektur mit traditionellen „heimischen“ Bauformen zu einem eklektischen Ganzen – typisch für den selbstbewussten Pathos und das Selbstverständnis des Roten Wien.
Ehn, der zu Beginn seiner Laufbahn die recht konventionelle Siedlungsanlage Hermeswiese in Lainz, die sich formal eher am Heimatstil orientiert, sowie die sehr sachlich gehaltene und von kubistischen Anklängen geprägte Aufbahrungshalle III des Wiener Zentralfriedhofs errichtet, widmet sein weiteres Schaffen ganz dem Wohnbau und entwickelt hier schrittweise die für ihn so typische Handschrift – etwa beim Lindenhof (1924/25), beim Bebelhof (1925/26) oder beim Emil-Svoboda-Hof (1926).
Am vollkommensten spiegelt sich Ehns Stil in seinem Hauptwerk wider, dem in den Jahren 1926 bis 1930 errichteten Karl-Marx-Hof in Heiligenstadt, der wie kein anderer Bau zur Mythologisierung des Roten Wien beiträgt. Der über einen Kilometer lange Wohnblock bildet eine kleine Stadt in der Stadt und stellt durch die großen, von hohen Fahnentürmen flankierten Torbögen, eine raffinierte städtebauliche Inszenierung dar.
Durch sie strömen die vom Bahnhof Heiligenstadt kommenden Arbeitermassen, wenn sie zu einem Fußballspiel auf der Hohen Warte oder zu einer Feier im großen „Ehrenhof“ der schlossähnlichen Anlage kommen. Auch die Gliederung und Rhythmisierung der langgestreckten Fassaden durch unterschiedliche Bauelemente – Erker, Loggien und die an japanische Torii erinnernden Stiegenhauseingänge –, Materialien wie Klinker und unterschiedliche Farbgebungen zeigen die hohe Könnerschaft des Architekten.
Karl Ehn behält seine Funktion im Stadtbauamt auch nach der Ausschaltung der Sozialdemokratie, er erhält im Ständestaat allerdings keine großen Bauaufträge mehr. 1944 wird er zum Oberbaurat und schließlich zum Senatsrat befördert. Seine späten Bauten sind von einer „unprätentiösen Schlichtheit“, und dennoch qualitätsvoll, wie etwa das Wohn- und Pfarrhaus in der oberen Wiedner Hauptstraße (1938) oder sein letztes Bauwerk, der Karl Schönherr-Hof am Alsergrund (1950–1952). Insgesamt plant Karl Ehn 2.716 Wohnungen in Wien. Die Arbeiter-Zeitung schreibt in ihrem Nachruf am 1. August 1959: Sein Andenken wird immer mit dem stolzen und gewaltigen Denkmal des sozialistischen Wohnbaues verknüpft bleiben.
Literatur: Sonja Kofler, Wohnen im Karl-Marx-Hof 1930–1934. Der kurze Traum von einem besseren Leben, 2004; Susanne Reppé, Der Karl-Marx-Hof. Geschichte eines Gemeindebaus und seiner Bewohner, 1993.