Am 28. September 1864 gründen knapp 2.000 Vertreter aus 13 europäischen Ländern und den USA in der Londoner St. Martin’s Hall die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA), auch Erste Internationale genannt.
Bereits zwei Jahre zuvor knüpfen Vertreter englischer und französischer Arbeiter auf der Weltausstellung in London erste Kontakte und beschließen, ein Komitee von Arbeitern „zum Austausch von Mitteilungen über internationale Industrie“ zu gründen. Im Sommer 1863 verhandeln englische Gewerkschaftsführer mit einer Delegation von Pariser Arbeitern konkret über die Gründung einer Arbeiter-Internationale.
Im November desselben Jahren erscheint die „Address of English to French Workmen“. In ihr heißt es: Die Vertreter Frankreichs, Italiens, Deutschlands, Polens, Englands, ja aller Länder, wo sich ein Wille zum Wohle der Menschheit regt, sollen zusammentreten […] Lasst uns über die großen Fragen sprechen, von denen der Friede der Völker abhängt!
Aktueller Anlass ist die Solidarisierung von Arbeitern und Intellektuellen aus allen Teilen Europas mit der kurz zuvor blutig niedergeschlagenen polnischen Unabhängigkeitsbewegung. Vor allem aber soll die neue „Assoziation“ die Arbeiter Europas über die nationalen Grenzen hinweg zusammenschließen – denn der internationalen Lohnkonkurrenz könne nur durch den Aufbau „einer regulären, systematischen Verbindung der arbeitenden Klassen aller Länder“ begegnet werden.
Politische Macht zu erobern ist daher jetzt die große Pflicht der Arbeiterklassen. Prinzipienerklärung der IAA
Der Gründungskongress im Herbst 1864 findet schließlich auf Einladung britischer Gewerkschafter statt. Der große Versammlungsraum der St. Martin's Hall ist „dicht bis zum Ersticken besetzt, denn es geht hier jetzt offenbar ein Wiederaufleben der Arbeiterklassen vor sich“, schreibt Karl Marx in einem Brief an Friedrich Engels. Marx gehört zwar nicht zu den Initiatoren der Ersten Internationale, er spielt allerdings eine wichtige Rolle als Ideengeber, und er verfasst auch die Statuten, in denen es heißt: „In Erwägung, daß die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden muß“ und auch eine Prinzipienerklärung, die „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation“.
Marx wird deshalb auch in das provisorische Zentralkomitee, den aus 32 Delegierten bestehenden Generalrat, gewählt.
Sie erklären, daß diese Internationale Assoziation und alle Gesellschaften und Individuen, die sich ihr anschließen, Wahrheit, Gerechtigkeit und Sittlichkeit anerkennen als die Regel ihres Verhaltens zueinander und zu allen Menschen, ohne Rücksicht auf Farbe, Glauben oder Nationalität. Statuten der IAA
Die Mitglieder der Ersten Internationale bestehen aus einer Vielzahl politisch divergierender Gruppen, die gänzlich unterschiedliche Konzepte des Sozialismus vertreten – die von Pierre-Joseph Proudhon inspirierten „Mutualisten“, die eine solidarische und genossenschaftliche Organisation der Arbeiter propagieren, die kollektivistisch-anarchistischen Anhänger des russischen Revolutionärs Michail Alexandrowitsch Bakunins und jene von Karl Marx und Friedrich Engels, die die IAA zentralistisch gestalten wollen. Die Anhänger Louis-Auguste Blanquis, der ähnlich wie Lenin später, die soziale Revolution „von oben“ durch die Verschwörung einer kleinen, konspirativen Gruppe ohne Massenbasis herbeiführen möchte, werden bereits 1866 aus der Internationalen ausgeschlossen.
In den Jahren nach ihrer Gründung finden einmal jährlich Treffen der IAA an verschiedenen Orten statt – 1866 in Genf, 1867 in Lausanne, 1868 in Brüssel und 1869 in Basel. Die Konferenzen sind durchwegs von heftig geführten Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen „linken“ Positionen geprägt. Frauen werden erst 1865 als Mitglieder zugelassen. Zwei Jahre später schafft es auch die erste Frau in den Generalrat: die Britin Harriet Law.
Auf dem 3. Kongress der IAA in Brüssel im September 1868 wird angesichts der wachsenden Spannungen zwischen der französischen und der deutschen Regierung erstmals das Verhalten der Arbeiter im Falle eines Kriegsausbruches diskutiert. Einstimmig wird beschlossen, dass die Arbeiter „sofort jede Arbeit einzustellen“ und sich mit allen Mitteln dem Krieg widersetzen sollen.
Nachdem der Einfluss der Anhänger Proudhons zurückgedrängt ist, spitzt sich der Konflikt innerhalb der IAA auf zwei gegensätzliche Positionen zu: Während Marx für eine straffe Organisation aller Arbeiterparteien unter der zentralen Führung der Internationalen votiert, propagiert der Kollektivist Bakunin eine strikte Herrschaftslosigkeit und tritt entschieden gegen jegliche Form der Führung durch eine Partei oder Klasse ein.
Der für September 1870 in Mainz geplante 5. Kongress muss wegen des Deutsch-Französischen Krieges abgesagt und auf unbestimmte Zeit vertagt werden – was ganz im Sinne von Karl Marx ist, der zu diesem Zeitpunkt eine Mehrheit für die Anarchisten befürchtet.
In der kurzlebigen Zeit der Pariser Kommune – die erste „Diktatur des Proletariats“ hält sich im Frühjahr 1871 nur 72 Tage an der Macht – werden bei den Wahlen zum Gemeinderat 17 Vertreter der Pariser IAA-Föderation gewählt, die Mehrheit der Mandate geht allerdings an die Anhänger Blanquis und an Jakobiner. Die Niederlage der Pariser Arbeiter Ende Mai stürzt die gesamte Arbeiterbewegung in eine tiefe Depression. Gleichzeitig verlagert sich der Schwerpunkt der europäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland und damit von den Bakunisten zu den Marxisten.
Die Tatsache, dass auch 1871 kein Kongress, sondern lediglich eine nicht öffentliche Konferenz in London abgehalten wird, vertieft die Spaltung innerhalb der Internationale. Die IAA bekundet im Nachhinein ihre Solidarität mit der Pariser Kommune und hält fest, dass die „Konstituierung der Arbeiterklasse als politische Partei unerlässlich ist für den Triumph der sozialen Revolution und ihres Endzieles – der Abschaffung der Klassen“. Beschlossen werden auch eine straffere Organisation des Generalrats, der Föderalräte der einzelnen Länder und der lokalen Sektionen sowie die Verlagerung des Sitzes der IAA nach New York.
Im Jahr darauf kommt es in Den Haag zum endgültigen Bruch zwischen Marx und Bakunin, der die Ideen seines Widersachers als autoritär bezeichnet und voraussagt, dass die Machtergreifung einer marxistischen Partei am Ende ebenso schlimm wäre, wie die Herrschaft der Kapitalisten. Bakunin und sein Schweizer Mitstreiter James Guillaume, der den Aufbau nationaler Parteien forciert, werden ebenso ausgeschlossen wie die US-amerikanische „Sektion 12“ um William West und Victoria Woodhull. Diese setze sich zu sehr für die Frauenemanzipation ein…
Die anitautoritären und anarchistischen Sektionen der Internationale hatten 1871 einen Gegenkongress im Schweizer Jura veranstaltet und die Fortführung der Internationalen auf föderalistischer Grundlage beschlossen. Bald schließen sich Landesföderationen aus Belgien, England, Holland, Italien und Spanien, die die zunehmende Macht des Generalrats ablehnen, dieser „Juraföderation“ an. Fortan bestehen zwei Organisationen, die den Namen IAA für sich reklamieren: die sogenannte Antiautoritäre Internationale und der ursprüngliche Generalrat, dem vorwiegend nur noch deutschsprachige Lokalsektionen angehören. Die IAA verliert damit sukzessive an Bedeutung. Marx selbst bezeichnet den 1873 in Genf abgehaltenen Kongress als „Fiasko“ und erklärt die Internationale für gescheitert.
Der Generalrat löst sich schließlich 1876 auf seiner Tagung in Philadelphia offiziell auf, die antiautoritäre IAA besteht formal noch bis zum Beginn der 1880er Jahre. Von der Bildung einer neuen Internationale schrecken viele zurück – die Arbeiterbewegung sei in den meisten Ländern noch nicht reif dafür…
1889 wird in Paris die Zweite oder Sozialistische Internationale gegründet. Aufgrund der Zustimmung der meisten Parteien zur Kriegspolitik ihrer jeweiligen Regierungen löst sie sich bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs wieder auf.
Die 1919 in Moskau ins Leben gerufene sogenannte Dritte oder Kommunistische Internationale wird von Stalin 1942 als ein Zugeständnis an die westlichen Kriegsalliierten aufgelöst.
Auf Initiative der österreichischen Sozialdemokratie entsteht 1921 in Wien die Internationale Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien – auch als „Wiener Internationale“ oder „Zweieinhalbte Internationale“ bekannt –, die die unterschiedlichen Strömungen der Arbeiterbewegung wieder zusammenzuführen möchte. Ihr gehören die deutsche USPD, die französische Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO), die englische Independent Labour Party (ILO), die Sozialdemokratische Partei der Schweiz sowie weitere regionale sozialistische Parteien an.
Parallel dazu bildet sich 1922 in Berlin die noch heute existierende anarchosyndikalistische Internationale ArbeiterInnen-Assoziation, die sich in der Tradition der Ersten Internationale sieht.
1938 formiert sich in Paris als Reaktion auf den Stalinismus die sogenannte „Vierte Internationale“, ein Verbund trotzkistischer Gruppen.
Die heutige Sozialistische Internationale (SI), der 147 Parteien und Organisationen aus Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika angehören, wird 1951 in Frankfurt am Main gegründet. Ihr Sitz ist in London.
Literatur: Julius Braunthal, Geschichte der Internationale. Band 1, 1978; Günther Nollau, Die Internationale. Wurzeln und Erscheinungsformen des proletarischen Internationalismus, 1959; Ulrich Peters, Kommunismus und Anarchismus. Die Zeit der Ersten Internationale, 1997; Antje Schrupp, Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin. Frauen in der ersten Internationale, 1999; Richard Sperl (Hrsg.), Karl Marx und die Gründung der I. Internationale. Dokumente und Materialien, 1964.
Link: Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation, 1864