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Aktuelle Seite: Der radikalste Entwurf der Wiener Moderne
0054 | 17. JANUAR 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Der radikalste Entwurf der Wiener Moderne

Im Jahr 1932, inmitten der großen Weltwirtschaftskrise, wird das Arbeitsamt in Liesing, das zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zu Wien gehört, in Betrieb genommen.

Mit deinem ersten Bau verdirbst du dir deine ganze Karriere,berichtet Ernst Anton Plischke von der Reaktion seines Vaters auf das Arbeitsamt.

Der Architekt Ernst Plischke ist durch seinen Vater, der ein Baubüro in Klosterneuburg führt, einschlägig vorbelastet und tritt bereits 1919, als Sechzehnjähriger, in die Fachschule für Architektur bei Oskar Strnad, einem der Vorreiter der „Wiener Moderne“, an der Wiener Kunst­gewerbeschule ein.

Nach zwei Jahren bei Strnad wechselt Plischke in die Meisterklasse von Peter Behrens. Behrens lädt Plischke ein, sich als Tutor um den amerikanischen Studenten William Muschenheim (1902–1990), den Sohn eines New Yorker Hotelmanagers, zu kümmern, mit dem ihn schließlich eine lebenslange Freundschaft verbinden wird.

Ernst Plischkes erster eigener Auftrag ist die Einrichtung der Wohnung der Keramikkünstlerin Lucie Rie. 1927 tritt Plischke in das Büro von Josef Frank ein; zwei Jahre später folgt er William Muschenheim nach New York, wo er Frank Lloyd Wright begegnet. Der Börsenkrach von 1929 beendet den Aufenthalt in den USA. Auf der Rückreise lernt Plischke in Paris Le Corbusier kennen – und bewundern.

Für die Menschen bauen

Zurück in Wien erhält der erst 27jährige von seinem Mentor Josef Frank einen Bauauftrag für die in Planung befindliche Werkbund­siedlung und – etwa zeitgleich – vom Ministerium für Soziale Verwaltung den Auftrag für die Errichtung eines Arbeitsamtes in Liesing.

Plischkes Doppelwohnhaus in der Werkbundsiedlung ist ganz der Bauhaus-Moderne verpflichtet. Zur Eröffnung der Ausstellung im Jahr 1932 publiziert er in der Zeitung „Die Bau-und Werkkunst“ einen Artikel, in dem er das Ende des Formalismus und der sinnlosen Stildekoration begrüßt. Der „humane Aspekt im neuen Bauen“ solle seinen Ausdruck in einer neuen Sachlichkeit und Ehrlichkeit finden. Kennzeichnend für Plischkes Werk ist bereits damals sein Bestreben, alles „Wienerische“, das seiner Meinung nach einer „hoffnungslosen Kunstgewerb­lichkeit“ und „Prunksüchtigkeit“ verpflichtet ist, auszusparen.

Das Arbeitsamt Liesing wird einer seiner besten Bauten und eines der wichtigsten Bauwerke des „Internationalen Stils“ in Österreich. Es steht ebenfalls in der Tradition der Bauhaus-Architektur, vereint aber auch Plischkes in den USA gewonnene Erfahrungen mit Einflüssen von Le Corbusier, zu einer gelungenen Synthese. Das Gebäude ist ein reiner Stahlbeton-Skelettbau, dessen Grundriss streng rationalen Ordnungslinien (tracés regulateurs) folgt, wie sie auch Le Corbusier verwendet.

Transparenz als politisches Konzept

Bestechend sind Transparenz und optische Leichtigkeit des Bauwerks, die besonders bei den durchgehenden Bandfenstern und beim Glasprisma des Stiegenhauses zur Geltung kommen. Großzügige Fensterflächen geben von der Straße Einblick in das öffentliche Gebäude und machen die bürokratischen Abläufe somit sichtbar. Mit Hilfe der Architektur soll so ein „neuer Beamtengeist“ geschaffen werden.

Der Bau, der auch im Inneren mit technischen Raffinessen aufwarten kann, macht den noch nicht einmal 30jährigen Architekten mit einem Schlag berühmt. Nicht zufällig findet das Arbeitsamt als einziges österreichisches Beispiel Aufnahme in Alberto Sartoris Standardwerk Gli elementi dell' architettura funzionale (1935). Noch im selben Jahr erhält Ernst Plischke – u.a. auch für das Arbeitsamt Liesing – den Großen Österreichischen Staatspreis.

Späte Anerkennung

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten emigriert Plischke mit seiner jüdischen Frau Anna nach Neuseeland. Einer seiner Kollegen wird vom NS-Regime beauftragt, die filigrane Konstruktion des Arbeitsamtes durch eine dichte Verpackung „stabiler“ zu gestalten, was diesem allerdings die Leichtigkeit und Transparenz nimmt.

In der Emigration plant Ernst Plischke zunächst Einfamilien­häuser in Dreier-bis Vierergruppen, so genannte „multi units“, später auch größere Wohnblöcke, Industriebauten und mehrere Kirchen. In weiterer Folge widmet er sich verstärkt der Stadtplanung. Am bekanntesten wird sein Konzept für Naenae, eine Satellitenstadt für 20.000 Einwohner.

Nach seiner Rückkehr nach Wien im Jahr 1963 erhält Plischke die Stelle eines Professors an der Meisterschule für Architektur an der Akademie der bildenden Künste, größere Bauaufträge bleiben allerdings aus. Hochbetagt stirbt er am 23. Mai 1992 in Wien.

Die Republik lässt das nicht mehr benötigte Arbeitsamt in Liesing viele Jahre lang verfallen. In den 1990er Jahren erwirbt die Wiener Stadterneuerungs- und Eigentumswohnungs GmbH (SEG) das Gebäude aus dem Fundus der Bundesimmobiliengesellschaft und lässt das Baujuwel in den Jahren 1996 bis 1998 durch Plischkes Schüler Hermann Czech von seinen späteren Zubauten befreien.

Dabei werden die ursprüngliche Konstruktion freigelegt, spätere Zubauten entfernt und die zerstörten Verglasungen rekonstruiert. Neben einer Büroeinheit mit 335 Quadratmetern entstehen im Obergeschoss auch zwei Wohnungen.

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