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Aktuelle Seite: „Der Tag der Deutschen Nation“
0160 | 5. AUGUST 2024    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Der Tag der Deutschen Nation“

Nach dem Attentat des serbischen Nationalisten Gavrilo Princip auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie am 28. Juni 1914 in Sarajevo kommt das komplexe europäische Bündnissystem in Gang. Der Kontinent steuert nahezu unausweichlich auf einen Krieg zu.

Der sozialdemokratische Parteiführer Victor Adler schätzt die Gefahr eines Krieges anfangs als gering ein, zumal ein größerer militärischer Konflikt den Fortbestand der Habsburgermonarchie gefährden würde. An seinen Sohn Friedrich schreibt er am 11. Juli:  Aber ich verlasse mich auf unsern alten Herrn [den Kaiser, Anm.], der will nicht…Zu dieser Zeit überwiegt noch die Sorge, ob der für Ende August in Wien geplante Kongress der Sozialistischen Internationale stattfinden könne.

Der Weltkrieg droht!

Die österreichische, aber auch die deutsche Sozialdemokratie stehen schon seit längerer Zeit aufseiten derer, die bezweifeln, dass es effiziente Mittel gegen einen Krieg gebe. Nur wenige Tage vor dem verhängnisvollen Ereignis, am 24. Juni 1914, schreibt der aus Österreich stammende führende Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie Karl Kautsky an den Mitvorsitzenden der SPD, Hugo Haase: Ich bleibe dabei, daß es unsere Pflicht ist, im Falle einer Kriegsgefahr alles aufzubieten, was wir vermögen, um einen Krieg zu verhindern, daß es aber ein verbrecherischer Unsinn wäre, wenn wir versuchen wollten, einen ausgebrochenen Krieg, den wir nicht zu verhindern mochten, in seiner Ausführung behindern zu wollen.  

Zwar verkündet der SPD-Parteivorstand am 25. Juli im Zentralorgan Vorwärts: Gefahr ist im Verzuge. Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die euch in Frieden knechten, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Machthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Es lebe die internationale Völkerverbrüderung!

Doch bereits am 28. Juli ergeht in der österreichischen Arbeiter-Zeitung ein Aufruf an die „Arbeiter und Arbeiterinnen“, in dem es heißt: Gerüstet zu sein und gerüstet zu bleiben für die Zeit nach dem Kriege ist heute unsere wichtigste Aufgabe. Und: Zeigt, daß es auch in unseren Reihen keine Fahnenflucht gibt! Daß auch die Männer des Klassenkampfes bis zum letzten Atemzug zu ihren Fahnen stehen!

Bei der eilig einberufenen Sitzung des Internationalen Sozialistischen Bureaus (I.S.B.) in Brüssel betont Adler am 29. Juli: Man läuft Gefahr, die Arbeit von 30 Jahren zu vernichten, ohne irgendein politisches Resultat. Besonders fürchtet man um das Parteieigentum – etwa die Druckerei und den Verlag. Hauptaufgabe sei es nun, „gerüstet zu sein und zu bleiben für die Zeit nach dem Kriege“ und alles zu vermeiden, „was den Behörden einen begründeten Anlaß oder Vorwand zur Unterdrückung oder Behelligung unserer Organisation geben könnte“.

„… die heilige Sache des deutschen Volkes“

Der Kriegsausbruch Anfang August trifft die österreichische Sozialdemokratie dennoch völlig unvorbereitet. Mit Kriegsbeginn zerbricht auch die Zweite Internationale: Die deutsche SPD stimmt für die Kriegskredite, die österreichische SDAP, die französische SFIO und auch die britische Labour Party nehmen mehrheitlich die politischen Positionen ihrer jeweiligen Regierungen ein. Selbst ein Mann wie Victor Adler beugt sich dem scheinbar Unausweichlichen: Für diesen Staat haben wir nicht viel übrig, aber für die Menschen, die in diesem Staat leben […] Österreich ist schlimm, aber gegen ein definitives Rußland wollen wir es nicht austauschen. Und zu den Kriegskrediten meint Adler: Ich weiß, man muß dafür stimmen. Ich weiß nur nicht, wie ich es über die Lippen bringe, aber es muß sein. Es ist ein furchtbarer Entschluß, ein furchtbarer Konflikt. Und vor den Vertrauensmännern der SDAP bekräftigt Adler: Es gibt nur eines, was noch schlimmer ist als der Krieg, das ist die Niederlage.

Diesen Tag des vierten August werden wir nicht vergessen.

Eine formale Zustimmung zu den Kriegskrediten bleibt der SDAP erspart, denn der Reichstag ist bereits seit 16. März „vertagt“. In der Arbeiter-Zeitung vom 5. August verfasst Chefredakteur Friedrich Austerlitz einen Leitartikel über die Zustimmung der deutschen Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten – betitelt „Der Tag der Deutschen Nation“: Diesen Tag des vierten August werden wir nicht vergessen. Wie immer die eisernen Würfel fallen mögen – und mit der heißesten Inbrunst unseres Herzens hoffen wir, daß sie siegreich fallen werden für die heilige Sache des deutschen Volkes –: das Bild, das heute der Deutsche Reichstag, die Vertretung der Nation, bot, wird sich unauslöschlich einprägen in das Bewußtsein der gesamten deutschen Menschheit, wird in der Geschichte als ein Tag der stolzesten und gewaltigsten Erhebung des deutschen Geistes verzeichnet werden. […] nie hat eine Partei größer und erhebender gehandelt als diese deutsche Sozialdemokratie.

Stimmungsmache

Am 7. August legt die Arbeiter-Zeitung nach: Deshalb werden sich gegen den Feind alle wehren, mit eiserner Entschlossenheit den Einbruch des Kosakengeistes abwehren, der sich über uns ergießen will und alle Keime moderner Entwicklung zertreten würde.

Ohne Vorbehalt – so hält Otto Bauer in seinem 1923 erschienenen Werk „Die österreichische Revolution“ fest – stellte sie [die sozialdemokratische Führung, Anm.] sich auf die Seite der Mittelmächte. Ohne Vorbehalt stellte sie ihren Einfluß auf die Massen in den Dienst der Kriegsführung.

Indirekt profitiert die SDAP zunächst vom Krieg: Die parteieigenen Hammerbrotwerke liefern Brot an die Armee; die Konsumvereine erhalten Kredite, die ihr Überleben sichern; Karl Renner steigt 1916 sogar zum Direktor des Kriegsernährungs­amtes auf; und Chefredakteur Friedrich Austerlitz betreibt in der Arbeiter-Zeitung Stimmungs­mache im Interesse der Regierung: Deshalb wappnen wir uns zum Kampfe wider diese Wurzel des Bösen […] und stehen kraftvoll zusammen, um dem Einbruch des Despotengeistes in unsere Gefilde zu wehren, heißt es am 11. August 1914.

Zerrissen

Gegen die „Burgfriedenspolitik“ der Parteiführung regt sich zunächst kein nennenswerter Widerstand. Lediglich eine kleine Gruppe kritisiert die „allzu große Kriegsbegeisterung“ der Parteipresse, und Friedrich Adler legt aus Protest seinen Posten als Parteisekretär zurück: Ich gestehe, daß ich glücklich wäre, wenn anstatt der täglichen Dokumentierung unserer Schmach das Blatt eingestellt, die Druckerei gesperrt und wir alle im Loch sitzen würden (Memorandum an den Parteivorstand, 13. August).

Aktiv im Widerstand gegen den Krieg sind vor allem einige Ortsgruppen des Verbandes jugendlicher Arbeiter, die bereits im September 1914 ein Flugblatt „Gegen die chauvinistische Hetze der Arbeiter-Zeitung“ heraus­geben. Größere Protestaktionen bleiben allerdings aus, zumal Oppositionelle vielfach ins Gefängnis wandern oder sofort „einrückend“ gemacht werden. In der Arbeiterschaft wird der Krieg allerdings nicht generell befürwortet. Es kommt zu einzelnen Streiks und zu einer breiten Austrittsbewegung. In Wien sinkt die Mitgliederzahl der SDAP bis zum Frühjahr 1916 auf 26 Prozent des Vorkriegsstandes.

Anders in Deutschland, wo die SPD an der Frage der Kriegs­kredite 1916 auseinanderbricht. Als „Fanatiker der Parteieinheit“ (Otto Bauer) beobachtet Victor Adler den offenen Konflikt innerhalb der deutschen Sozialdemokratie mit Sorge. In einem Brief an Karl Kautsky spricht er abfällig von dem „Gesindel“, das kein „Parteivaterland“ besitze, er wirft den linken Abweichlern sogar „Landesverrat“ vor, um „im Ausland Reklame zu machen als die einzigen Gerechten in dem chauvinistischen Sodom“.

„Gegen die chauvinistische Hetze der Arbeiter-Zeitung“

Die Kriegsbegeisterung hat indes auch im restlichen Österreich deutlich nachgelassen und weicht der Ernüchterung. In Partei- und Gewerkschafts­blättern polemisieren die „rechten Sozialpatrioten“ und die „linken Internationalisten“ – soweit die Kriegszensur dies überhaupt zulässt – gegeneinander. „Rechts“ stehen die Parteiführung und die Gewerkschaften, die „Deutsch­nationalen“ Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer sowie der „Groß­österreicher“ Karl Renner; „links“ findet sich eine Gruppe sozialistischer Akademiker mit Robert Danneberg an der Spitze sowie die jüngere Führungsgarde – Friedrich Adler, Otto Bauer, Therese Schlesinger und Gabriele Proft.  

Victor Adlers Verdienste machen es allerdings nahezu unmöglich, Kritik an ihm zu üben. „Die Partei leidet ungeheuer unter den guten Eigenschaften Viktor [sic!] Adlers“, schreibt Therese Schlesinger. Und: „Wir bleiben in der Partei solange als möglich und werden sie nach links drängen.“

Im März 1916 reaktiviert Friedrich Adler den Bildungs­verein „Karl Marx“ als Organisationszentrum der Parteilinken. Die Aktivitäten der Kriegsgegner beschränken sich in erster Linie auf geschlossene Versammlungen und auf Appelle an die Parteileitung. Von der Parteipresse wird gefordert, „den imperialistischen Charakter des Krieges aufzudecken und die Massen des Proletariats auf ihre Pflicht der internationalen Klassensolidarität zu verweisen“. Doch die Parteiführung lässt sich vorerst noch nicht von ihrem Kurs abbringen...

Literatur: Robert Danneberg, „Kritische Betrachtungen“, Volkstribüne 17., 24., 31. März, 7., 14. April 1915; Otto Bauer, Die österreichische Revolution, 1923.

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Friedrich Adler „vor dem Richterstuhle der Welt­geschichte“

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