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Aktuelle Seite: Der verhinderte Bundeskanzler
0059 | 4. MÄRZ 2022    TEXT: JULIA BRANDSTÄTTER

Der verhinderte Bundeskanzler

Am 4. März 1992 stirbt Joseph Buttinger, der letzte Vorsitzende der „Revolutionären Sozialisten“ in der Illegalität. Seine politische Arbeit ermöglicht das Überleben der sozialistischen Bewegung während des Austrofaschismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist er in der Fluchthilfe tätig und avanciert zum „Vietnam-Experten“.

…meine einzige geistige Nahrung waren die Sonntagspredigten des Pfarrers.

Buttinger wird am 30. April 1906 in ärmliche Verhältnisse geboren. Seine Kindheit ist von Entbehrungen geprägt. Mit dem dem Tod des Vaters, der 1917 als Soldat stirbt,  verschlechtert sich die Situation der Familie. Der Hunger treibt ihn ans „Bettelfenster der Bauernhöfe“. Eine kleine Entlohnung erhält er als Ministrant.

Mit 12 Jahren verlässt Buttinger die Schule, um bei einem Bauern im oberösterreichischen Waldzell den Dienst anzutreten. Doch das Leben, das ich auf diesem Bauernhof führte, kam einem Sklavendasein sehr nahe. Im Sommer musste ich um vier Uhr morgens aufstehen und in Ställen und Scheunen, auf Wiesen und Feldern, und am Abend noch bis zehn Uhr in der Küche arbeiten, schreibt Buttinger später.

Gleicher unter Gleichen

1921 tritt Buttinger in eine neue Welt ein. Er arbeitet nun in der traditionsreichen Glasfabrik in Schneegattern und kommt hier zum ersten Mal mit der organisierten Arbeiterbewegung in Kontakt. Dort war ich nicht mehr […] der Unterste der Unteren, sondern auf einmal ein Gleicher unter Gleichen.

Die Lebensverhältnisse sind allerdings weiterhin miserabel. Buttinger wohnt mit seiner Mutter, deren Lebenspartner und drei Geschwistern in einer Arbeitersiedlung. Es gab kein Fließwasser; das Wasser musste von einer Pumpe, die für alle sechs Baracken diente, geholt werden, und unsere Toilette war kaum mehr als eine „Latrine“ unter Dach.

Buttinger schließt sich der Sozialdemokratie an, tritt der Glasarbeitergewerkschaft bei und engagiert sich in den Kulturorganisationen der Partei. Die Arbeiterbibliothek versorgt ihn mit Büchern, die er in seiner spärlichen Freizeit verschlingt: Nächtelang saß ich und las und studierte, zur tiefen Besorgnis meiner Mutter; drei oder vier Stunden Schlaf mussten mir genügen. Seine Auffassungs- und Rednerbegabung befähigen ihn zu seinen ersten politischen Funktionen; er wird Bezirksobmann der Sozialistischen Arbeiterjugend SAJ.

Meine Alkoholgegnerschaft war absolut.

In Schneegattern gründet er eine Ortsgruppe des Arbeiter-Abstinentenvereins. Alkohol, so sagten wir Abstinenzler, sei nur eines der Mittel, mit denen der Kapitalismus die Arbeiterklasse versklave.

1926 absolviert er einen dreiwöchigen Kurs für sozialistische Lehrer in Schönbrunn, der vom Verein Freie Schule – Kinderfreunde organisiert wird. 1930 besucht er die Arbeiterhochschule in Wien. Zuvor lernt er noch schnell das Stenographieren, um auch jedes Wort, das Otto Bauer über politische Ökonomie spricht, notieren und später studieren zu können. Als ich […] von Wien wegfuhr,besaß ich als einziger ein vollständiges Manuskript von Bauers Vorlesungen, samt Kapitel- und Abschnittsüberschriften.

„Vom Urnebel zum Zukunftsstaat“

Auf die Jahre der Entbehrung folgt der Aufstieg Buttingers in der Parteihierarchie. Zuerst verschlägt es ihn nach Kärnten. In St. Veit a. d. Glan ist er als Parteisekretär und Leiter des Kinderfreundeheims tätig. Jede freie Minute widmet er dem Selbststudium. Nach vier Jahren schreibt er eine Vortragsserie, in der er auf dreihundert Seiten sein angehäuftes Wissen unter dem Titel „Vom Urnebel zum Zukunftsstaat“ zusammenfasst. Während der Arbeitszeit unterrichtet er Jugendliche, organisiert Abendveranstaltungen, hält Vorträge und Reden, gibt Turnstunden – und Kurse für Frauen, die heute unter dem Namen Yoga modern geworden sind.

Diese glückliche Zeit verdunkelt sich mit dem Aufkommen des Faschismus. Buttinger beschließt, alle seine Kräfte für die Enthüllung des wahren Wesens dieser Bewegung zu verwenden. Infolgedessen wurde ich rasch als der politische und geistige Hauptgegner der Nazis im Bezirk St. Veit bekannt, und bald konnte unsere Partei keine Versammlung mehr abhalten, bei der nicht die Nazi-Intellektuellen mit ihren Anhängern auftauchten, erinnert er sich.

In die Illegalität

Die Ausschaltung des Parlaments im März 1933 führt zu starken Turbulenzen innerhalb der Sozialdemokratie. Am Parteitag in Wien kritisiert Buttinger die Parteiführung: Wir warnten, daß noch drastischere Maßnahmen gegen die Demokratie zu erwarten seien, und forderten die Verstärkung und bessere Ausrüstung des Schutzbundes zum bewaffneten Widerstand gegen den drohenden faschistischen Putsch.

Nach dem blutigen Februar 1934 sieht Buttinger seine neue Aufgabe im Aufbau einer illegalen Parteiorganisation. Er kümmert sich nicht nur um die Verbreitung der im Ausland gedruckten Literatur, sondern verfaßte auch allwöchentlich ein Nachrichtenbulletin für Mitglieder und gelegentlich Flugblätter, die in der Nacht heimlich verteilt wurden und zusammen mit den auf Mauern gepinselten antifaschistischen Losungen der Bevölkerung zeigten, daß unsere verbotene Partei weiterlebte.

Anfang April wird er verhaftet und ins Polizeigefängnis Villach verbracht. Drei Monate später folgt seine Entlassung mit der Auflage, Kärnten unverzüglich zu verlassen.

Plötzlich Vorsitzender

Buttinger geht nach Wien, wo er „Länderreferent“ der Revolutionären Sozialisten (RS) und Mitglied ihres Zentralkomitees wird. Bei der „Brünner Reichskonferenz“ am 31. Dezember 1934 gibt er seine Einschätzung des Schuschnigg-Regimes: Es war meiner Meinung nach mehr von den Nazis als von der illegalen sozialistischen Bewegung bedroht. Im Gegensatz zu […] Otto Bauer war ich überzeugt, daß nicht einmal die unmittelbare Gefahr einer Annexion Österreichs durch Deutschland die Schuschnigg-Diktatur dazu bewegen würde, bei den Arbeitermassen Hilfe im Kampf gegen die Nazis zu suchen und die Sozialistische Partei wieder zu legalisieren.

Nachdem fast die gesamte Führung der RS im Jänner 1935 verhaftet wird, erbt Buttinger das Amt des Vorsitzenden. In dieser Funktion organisiert er den Umbau der Partei, die sich auf ihr Überleben in der Illegalität vorbereiten müsse. Bei den Treffen der marxistischen „Gruppe Funke“ lernt Joseph Buttinger die reiche Amerikanerin Muriel Gardiner kennen.

I wanted to help them.

Die jüngste Tochter eines Fleischverarbeitungsmagnaten aus Chicago entwickelt bereits als Jugendliche ein starkes soziales Gerechtigkeitsgefühl. 1926 reist sie nach Wien, um bei Sigmund Freud eine Analyse zu absolvieren. Als dieser sie als Patientin ablehnt, inskribiert sie sich als Medizinstudentin an der Universität Wien.

Nach dem gewaltsamen Ende der Demokratie engagiert sich die begeisterte Gefühlssozialistin unter dem Kodenamen „Mary“ im Widerstand. Sie stellt Geld für die illegale Parteiarbeit zur Verfügung, bietet Verfolgten Unterkunft, beschafft falsche Papiere, ist als Kurier im benachbarten Ausland unterwegs, gibt Garantie­erklärungen für die amerikanischen Behörden ab und verhilft damit vielen Menschen zur Flucht.

Buttinger selbst entgeht mehrmals nur knapp der Verhaftung. Als der Geheimpolizei Fotos von ihm in die Hände fallen, ließ ich mir einen Schnurrbart wachsen, änderte meine Frisur und trug zum ersten Mal im Leben einen Hut.

Zwischenstopp Paris, neues Leben in New York

Nach dem „Anschluss“ ist eine konspirative Arbeit nicht mehr möglich. Buttinger flieht nach Paris, wo er zum Obmann der neuen Auslandsvertretung der Österreichischen Sozialisten (AVOES) gewählt wird. Gardiner bleibt derweil noch in Wien, promoviert im Juni 1938 zur Dr. med. und begibt sich schließlich ebenfalls nach Paris. Hier heiraten die beiden und wandern im November 1939 in die USA aus. Das Paar ist weiterhin in der Fluchthilfe tätig – nach dem Krieg wird Buttinger sogar Europadirektor des „International Rescue Comittee“ mit Sitz in Paris und Genf.

Chronist des Niedergangs

Im Exil arbeitet Buttinger die politischen Erfahrungen der letzten Jahre auf. Sein Buch „Am Beispiel Österreichs“ – ein Meisterwerk der politischen Literatur (Wolfgang Neugebauer) – ist Selbstzeugnis, politische Abrechnung und historische Aufarbeitung zugleich.

Viele ehemalige KampfgefährtInnen raten ihm von einer Veröffentlichung ab. In Österreich weht der Wind der Großen Koalition, eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist nicht erwünscht. Buttinger wird zur persona non grata. Nur wenige erkennen seine Bedeutung und würdigen ihn, so etwa Bruno Kreisky, als Helden, der es, wäre ernach Österreich zurückgekehrt […], wahrscheinlich zum Bundeskanzler gebracht hätte.

Vietnam-Experte

In den 1950er Jahren unternimmt Buttinger mehrere Studienreisen nach Vietnam, wo er sich für Flüchtlinge aus dem Norden des geteilten Landes einsetzt. Er verfasst sechs Bände zur Geschichte und Gegenwart des Landes und etabliert sich in der amerikanischen Öffentlichkeit als Vietnam-Experte.

1971 übergibt er seine etwa 50.000 Bände umfassende Studienbibliothek der neu errichteten Universität Klagenfurt. Sie bilden den Grundstock der Klagenfurter Universitätsbibliothek, die als einzige Einrichtung in Österreich seinen Namen führt und damit an diese herausragende Persönlichkeit der österreichischen Sozialdemokratie erinnert.

Literatur
Joseph Buttinger, Am Beispiel Österreichs. Ein geschichtlicher Beitrag zur Krise der sozialistischen Bewegung, 1953; Vietnam – a political history, 1968; Das Ende der Massenpartei – am Beispiel Österreichs, 1972; Ortswechsel – die Geschichte meiner Jugend, 1979; Muriel Gardiner, Damit wir nicht vergessen. Unsere Jahre 1934 bis 1947 in Wien, 1978.
Link
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes DÖW

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