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Aktuelle Seite: Der wöchentliche Money article
0046 | 25. OKTOBER 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Der wöchentliche Money article


Anlässlich seines ersten Artikels in der bürgerlich-liberalen Wiener Tageszeitung Die Presse am 25. Oktober 1861 wird der anonyme Autor kurz vorgestellt:Von einem der bedeutendsten deutschen Publicisten, welcher die anglo-amerikanischen Verhältnisse aus langjähriger Anschauung kennt, erhalten wir aus London eine erste Mittheilung über den nord­amerikanischen Bürgerkrieg. Es handelt sich um niemand Geringeren als Karl Marx.

Nach seiner Ausweisung aus Preußen im Frühjahr 1849 und einem kurzen Zwischenstopp in Paris trifft Karl Marx mit seiner fünfköpfigen Familie Ende August in London ein, wo er bis zu seinem Tod leben und arbeiten wird – anfangs in äußerst dürftigen Verhältnissen.

Marx bekommt die Peitsche

In der Arbeiter-Zeitung vom 13. Oktober 1896 erzählt Eleanor Marx-Aveling, die jüngste der drei Töchter, über ihren Vater: Er lebte mit seiner Frau, drei kleinen Kindern und Helene Demuth, ihrer Freundin fürs Leben, in zwei Zimmern in Dean-Street, Soho […]. Im vorderen der beiden Zimmer spielten die Kinder um Marx herum, während er arbeitete. Ich hörte erzählen, wie die Kinder oft Stühle hinter ihm aufschichteten, die einen Wagen vorstellen sollten, an dem sie den Vater als ‚Pferd’ anschirrten und ihm ordentlich ‚die Peitsche zu geben’ pflegten, während er an seinem Arbeitstisch saß und schrieb.

Um etwas Geld zu verdienen, verdingt sich Karl Marx als „Korrespondent“ für verschiedene internationale Zeitungen, u.a. für die New York Daily Tribune. Marx soll für das amerikanische Publikum über die jüngsten Entwicklungen in Europa zu schreiben; aus Zeitnot und aufgrund mangelnder Englischkenntnisse reicht er den Auftrag anfangs an Friedrich Engels weiter. Ab der zweiten Jahreshälfte 1852 schreibt Marx die Artikel selbst – in seinem „teutonisch angehauchten Englisch“. Die Tribune wird Marx‘ meal ticket, ihre Honorarzahlungen helfen mit, die Familie zu ernähren und die Schulden zu tilgen.

Seine Artikel, die nun auch im Londoner The Peoples Paper und der Breslauer Neue Oder-Zeitung erscheinen, sind keine bloßen Auslandsberichte, sondern ganze Artikelreihen mit umfassenden Analysen der politischen und ökonomischen Lage einzelner europäischer Länder.

Ob my principles es überhaupt erlauben?

1861 wird Karl Marx schließlich Korrespondent für Die Presse. Und das kommt so: Über Ferdinand Lassalle ist Marx mit dessen Cousin Max Friedländer bekannt, der als Redakteur der Neuen Oder-Zeitung arbeitet. Nach dem Niedergang des Blattes verschlägt es Friedländer 1855 zur Wiener Presse, wo er Marx, dessen literarische Qualität er schätzt, weiterhin als Korrespondenten engagiert.

Marx zögert. Im Februar 1859 klagt er in einem Brief an Lassalle, die politische Linie der Presse entspreche so wenig der seinen, dass nur ein wöchentlicher Artikel über den Handel und das Finanzwesen Englands, Frankreichs und der USA sinnvoll sei. Es ist die Form, worin ich absolut politisch nichts mit der „Presse“ zu tun hätte. Außerdem sei er völlig im Ungewissen, ob my principles es überhaupt erlauben, an dem Blatt zu arbeiten. However that may be, danke Deinem Vetter in meinem Namen, dass er so freundlich war, an mich bei der Gelegenheit zu denken.

Die Not bringt den Gesinnungs­wandel. Infolge des amerikanischen Bürgerkriegs reduziert die New York Daily Tribune ihr europäisches Korrespondentennetz, das Sparprogramm verringert Marx‘ Einkünfte merklich. Im März 1859 schreibt Marx an Lassalle, er nehme das Angebot der Presse an, die finanziellen Umstände seien zwar nicht so günstig wie ursprünglich angenommen, aber immer noch „respectable“.

Die Kerls von der Presse

Finanziell erwartet sich Marx, wie aus einem Brief an Engels vom April 1859 hervorgeht, einiges von der Presse. Meanwhile, schreibt er in schönstem „Denglisch“, habe ich Anstalten getroffen, die in kurzer Zeit meine Einnahmen verdoppeln werden und damit dem eingerosteten Dreck ein Ende machen. Lassalles Vetter, Friedländer, jetzt Redakteur der „Presse“ in Wien (die, en passant, 24 000 Abonnenten hat), hatte mir Januar 1858 Korrespondenz an seinem Blatt angeboten. […] Wenn der Friedländer mir die Presse schickt, so dass ich zuvor sehe, wes Geistes Kind sie ist, und wenn die Kerls, einen bloßen wöchentlichen Money article von mir wollen, wofür sie dann natürlich blechen müssten, könnte ich allenfalls auf die Sache eingehen. Von Politics kann keine Rede in diesem case sein.

Ein liberales Blatt...

Aus Rücksicht auf die konservative Leserschaft des Blattes wird keiner der insgesamt 52 Artikel, die Marx zwischen Oktober 1861 und Dezember 1862 in der Presse veröffentlicht, namentlich gekennzeichnet sein.

Friedländer verabsäumt es jedoch nicht, Marx auf die delikaten Umstände seiner Mitarbeit hinzuweisen: Was zunächst Ihre Korrespondenz betrifft, so habe ich nur nötig, Sie auf die sehr gemessenen Rücksichten aufmerksam zu machen, die uns die hiesigen Verhältnisse auferlegen. „Die Presse“ ist ein liberales Blatt, aber nur soweit dies zu sein in Österreich gestattet ist.

Nicht die Kuh, die sie sein sollte...

So erscheint denn am 25. Oktober 1861 ein erster, überlanger Artikel über den amerikanischen Bürgerkrieg. Marx schreibt in der Folge eine ganze Serie über den Sezessionskrieg und die Rolle Großbritanniens, über die üblen Sitten in der britischen Presse, die britischen Arbeiterorganisationen und über die Finanzlage Frankreichs.

Friedländer mahnt ihn stets, auf ein österreichisches Bourgeoisie-Publikum Bedacht zu nehmen, und Marx beschwert sich bei Engels. Die Wiener „Presse“, wie unter den jetzigen deutschen Lausever­hältnissen vorherzusehen, ist nicht die Kuh, die sie sein sollte. Angeblich erhalte ich 1 Pfund per article. Da die Kerls aber von 4 Artikel vielleicht nur 1 drucken und oft keinen, so kommt verdammt wenig heraus außer Zeitverlust und Ärger, dass ich auf die Spekulation schreiben muss, ob oder ob nicht besagter Artikel das Imprimatur einer gnädigen Redaktion erhält.

Marx' letzter Presse-Artikel erscheint schließlich am 4. Dezember 1862, dann ist Schluss.

Marx im Müll

Marx' Mitarbeit an der bürgerlichen Wiener Presse bleibt lange Zeit unbemerkt. 1913 veröffentlicht der profunde Marx-Engels-Kenner Dawid Borissowitsch Rjasanow, der vom Vorstand der SPD den Auftrag erhalten hatte, die Zeitungsartikel von Marx und Engels heraus­zugeben, im Organ der österreichischen Sozialdemokratie Der Kampf einen Beitrag zu dem Thema. Rjasanowkommtzum Ergebnis, daß die „Presse“ 49 Beiträge von Marx allein, drei, an denen auch Friedrich Engels mitgearbeitet hatte, und einen, der von Engels war, aber durch Marx‘ Vermittlung Wien erreichte, abgedruckt hatte. Wie viele Artikel man in Wien dem Papierkorb überantwortet hat, kann man nicht einmal schätzen (Günther Haller).

Nach dem Tod ihres berühmten Vaters am 14. März 1883 werden seine Töchter Eleanor Marx Aveling und Laura Marx-Lafargue u.a. für die österreichische Arbeiterinnen-Zeitung publizistisch tätig sein.
Literatur
Günther Haller, Marx und Wien, 2017.

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