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0170 | 4. NOVEMBER 2024    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Die Aufmüpfigen

Am 4. November 1894 wird auf Initiative von Leopold Winarsky im Gasthaus „Hamberger“ in der Castelligasse 1 in Margareten der Verein jugendlicher Arbeiter gegründet.

Der aus sehr einfachen Verhältnissen stammende Winarsky schließt sich schon als Tapeziererlehrling dem Landstraßer Arbeiterbildungs­verein „Gleichheit“ an, dessen Vorsitzender er 1893 wird. Leopold Winarsky, der bereits in jungen Jahren als außerordentlich belesen und gebildet gilt und Artikel für Franz Schuhmeiers Volkstribüne verfasst, gelingt es, die beiden kurz zuvor gegründeten Wiener Jugend­gruppen „Jugendbund“ aus Ottakring und „Bücherskorpion“ aus Hernals zu vereinen. Aus den aufmüpfigen, aber noch nicht dezidiert politischen Bildungsvereinen entsteht die erste Vertretung junger Lehrlinge und Arbeiter, die, von ihrer eigenen Lebensrealität ausgehend, beginnen, sich mit sozialen und politischen Fragen zu beschäftigen.

In ihrem Gründungsmanifest, das als Flugblatt aufgelegt wird, heißt es: Jedes Tier hat seinen Beschützer, das sind die Tierschutzvereine, die dafür sorgen, dass das Pferd nicht unnötigerweise vom Kutscher geschlagen wird; die Vögel haben ihre Beschützer, die dafür sorgen, dass sie im Winter ihr Futter finden; und existiert für den Lehrling etwa ein Verein, der dafür sorgt, dass er nicht unmenschlich behandelt wird? Nein!

Rasche Verbreitung

Die jungen Aktivisten protestieren damit gegen die alltägliche Misshandlung von Lehrlingen, aber auch gegen die „schwarzen Listen“, mit denen unliebsame Personen von den Unternehmern gebrandmarkt werden. Der Verein stößt damit nicht nur bei den Behörden auf Ablehnung, sondern auch bei Teilen der sozialdemo­kra­tischen Funktionärsschicht.

Nach der Genehmigung der Vereinsstatuten im Jahr 1897 entstehen in rascher Folge lokale Gruppen in den meisten Arbeiterbezirken – in der Leopoldstadt, in Margareten, Meidling, Favoriten, Ottakring und in der Brigittenau. 1901 wird auch in Graz ein Verein jugendlicher Arbeiter gegründet und 1903 schließlich der Verband jugendlicher Arbeiter Österreichs als landesweite Dachorganisation der sozial­demokratischen Arbeiter­jugendvereine Österreichs.

„Der jugendliche Arbeiter“

Da die Mitglieder und Interessenten ihre Informationen nahezu ausschließlich aus Zeitungen und Zeitschriften beziehen, dies allerdings mit beträchtlichen Kosten verbunden ist, gründet die Margaretner Gruppe bereits 1901 einen privaten „Preßfond“ zur Herausgabe einer eigenen Zeitschrift.

Und mit Unterstützung des Wiener Vereins kann am 15. Oktober 1902 die erste Ausgabe der Zeitschrift „Der jugendliche Arbeiter“ erscheinen, die ab 1903 als offizielles Organ des VJA fungiert. „Der jugendliche Arbeiter“ berichtet regelmäßig über Probleme und Anliegen der Lehrlinge, betreibt aber auch Bildungs- und Kulturarbeit.

Schließlich erkennt auch die Sozial­demokra­tische Arbeiterpartei die Bedeutung der neuen Bewegung, die 1907 in die Satzung der Partei integriert wird. Von großer Bedeu­tung sind dabei wiederum Leopold Winarsky, sozialdemokratischer Reichs­tags­abgeordneter und Wiener Gemeinderat, der als für die Bildungsarbeit zuständiger Sekretär des Parteivorstandes ein leidenschaftlicher Vorkämpfer der österreichischen Arbeiterjugendbewegung ist, sowie der um 12 Jahre jüngere Robert Danneberg.

Zum 30-jährigen Bestehen der Jugendorganisation wird Danneberg über den viel zu früh verstorbenen Winarsky schreiben: Aber einer soll unvergessen bleiben, ohne den die Jugendbewegung nicht hätte werden können, was sie heute ist: Leopold Winarsky, der blondgelockte Tapezierergehilfe mit den hellen, blauen Augen und der großen schwarzen Krawatte…

Eine Bildungsstätte

Der erste Artikel, den Danneberg in der 1907 gegründeten sozialdemo­kratischen Monatsschrift Der Kampf veröffentlicht, beschäftigt sich demzufolge auch mit der Jugendorganisation. Der Autor schildert deren Entstehung und die zahlreichen Hindernisse und Probleme, die in der Anfangszeit bewältigt werden mussten.

Die Lehrlingsorganisation sei, so Danneberg, zunächst eine Bildungs­stätte, die nach Kräften ersetzen soll, was dem jungen Arbeiter das Elternhaus nicht bieten kann und die Volks- und Fortbildungsschule nicht bieten will. Ihre Mittel dazu sind Vorträge, Bibliotheken und Exkursionen. Die Selbständigkeit der Jugend­organisation sei deshalb eine „unabdingbare Voraussetzung“ für eine erfolgreiche Jugendarbeit.

Forderungen

Der Vereinskongress formuliert eine Reihe von Forderungen, wie etwa jene, dass „die Lehrzeit […] zwei Jahre, eine eventuelle Probezeit mit eingerechnet, nicht überschreiten“ darf, einen achtstündigen Arbeitstag und eine 36-stündige vollständige Sonntagsruhe für alle unter 18 Jahren, die „Abschaffung des körperlichen Züchtigungs­rechtes“, die Anstellung von Lehrlingsinspektoren, „das Verbot der Lehrlingsverwendung zu häuslichen und überhaupt zu außergewerblichen Arbeiten“ oder „die obligatorische Einführung des Tagesunterrichtes an allen gewerb­lichen Vorbereitungs-, Fortbildungs- und Fachschulen sowie die strenge Bestrafung derjenigen Meister, die ihre Lehrlinge hindern, diese Schulen zu besuchen.“

Um die Jahrhundertwende entstehen ähnliche Lehrlingsvereine und linke Jugend­gruppen auch in Deutschland, Frankreich und in Skandinavien. Im Anschluss an den großen internationalen Kongress der sozialistischen Parteien in Stuttgart im Jahr 1907 kommen auch die Vertreter der Arbeiterjugend­organisationen zu ihrer ersten internationalen Konferenz zusammen. Karl Liebknecht wird zum Vorsitzenden der Sozialistischen Jugend gewählt, Robert Danneberg zum geschäftsführenden Sekretär, weshalb das internationale Sekretariat in Wien angesiedelt wird.

Bis zum Ersten Weltkrieg wächst die Mitgliederzahl des österreichischen Vereins, dem seit 1912 auch Mädchen und junge Frauen beitreten können, auf rund 16.000 an.

Blüte in der Ersten Republik

Der sinnlose Weltkrieg, den der Verein und viele seiner Mitglieder im Gegensatz zur offiziellen Parteilinie von Anfang an vehement bekämpfen, fordert gerade unter den jungen Männern zahlreiche Opfer. In der Ersten Republik nimmt der Verband seine Arbeit wieder auf und wird in Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) umbenannt.

Die SAJ beteiligt sich aktiv an der Reform der Sozialgesetzgebung unter Staatssekretär Ferdinand Hanusch, v.a. in jenen Bereichen, die der Verbesserung der Situation der Lehrlinge dienen. Das verschafft der Organisation weiteren Zulauf; bis 1923 steigt der Mitgliedsstand auf 38.000 junge Menschen in mehreren hundert lokalen Gruppen an. Neben der politischen Bewusstseinsbildung durch Vorträge, Diskussions­abende und Schulungen stehen nun auch gemeinsame Aktivitäten wie Wandern, Sport und Besuche von Kulturstätten am Programm. Hier ist besonders die kulturelle und pädagogische Arbeit von Felix Kanitz hervorzuheben.

Kanitz ist auch federführend bei der Organisation des Internationalen Jugendtreffens 1929 in Wien beteiligt, das mit etwa 50.000 Teilnehmern aus ganz Europa den Höhepunkt der Tätigkeit der SAJ bildet.

Revolutionäre Kleinarbeit

In der Festschrift, die anlässlich des Wiedersehenstreffens 50 Jahre danach herausgegeben wird, beschreibt der ehemalige Jugendaktivist Manfred Ackermann die damaligen „Pflichten“ eines Aktivisten:

Zu den Pflichten, die zu erfüllen die Aktivisten der SAJ sich verstanden haben, gehörte stets die kontinuierlich zu leistende ‚revolutionäre Kleinarbeit‘, die ständige sozialistische Werbearbeit unter den nichtorganisierten Jugendlichen und die nimmermüde Arbeit am Aufbau der selbstgeführten und selbstbetreuten Jugendorganisation. Das Recht, in der Jugendgruppe mitzureden, musste erworben werden durch aktives Mitarbeiten.

Und Bruno Kreisky, der ebenfalls bereits in seiner Jugend dabei war, erinnert sich: Auf diesem Jugendtreffen hat sich auch in Österreich das blaue Hemd durchgesetzt, das noch heute von sozialistischen Jugendlichen getragen wird.

Ende und Neuanfang

Nach den Februarkämpfen 1934 wird die SAJ, ebenso wie alle anderen Organi­sationen der Arbeiterbewegung, verboten. Als „Revolutionäre Sozialistische Jugend“ (RSJ) setzt sie den antifaschistischen Kampf im Untergrund noch bis 1938 fort und hat eine Reihe von Opfern zu beklagen – so z.B. als im Juli 1934 eine (illegale) Gedenkveranstaltung von bewaffneten Gendarmen überfallen, und wenig später, als der junge SAJ-Aktivist Josef Gerl hingerichtet wird.

Nachfolgeorganisation der Sozialistischen Arbeiterjugend ist seit 1945 die Sozialistische Jugend Österreich (SJÖ), deren erster Verbandstag im Dezember 1946 stattfindet. Erster Vorsitzender wird der früh verstorbene Peter Strasser. Gegen­wärtiger Vorsitzender ist seit 2020 der Wiener Paul Stich, ein früherer Mitarbeiter des Museums im Waschsalon Karl Marx-Hof.

Literatur: Philipp Charwath, Politisierung und Radikalisierung bei österreichischen Jugendgruppen in der Zwischenkriegszeit, dargestellt am Beispiel der Pfadfinder und der Sozialistischen Arbeiterjugend, 1999; Karl Heinz, Kampf und Aufstieg. Die Geschichte der sozialistischen Arbeiterjugendbewegung Österreichs, 1932; Otto F. Kanitz, Kampf und Bildung, ca. 1920; Wolfgang Neugebauer, Bauvolk der kommenden Welt. Geschichte der sozialistischen Jugendbewegung in Österreich, 1975; Peter Pelinka: 90 Jahre SJÖ 1894–1984 – Die Geschichte der Sozialistischen Jugend, 1984; Andreas P. Pittler, Die Geschichte der sozialistischen Jugend Österreichs unter besonderer Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wandels der achtziger Jahre, 1996; Wieder im Roten Wien. Festschrift zum Wiedersehenstreffen in Wien, 1979.

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