Mitte der 1920er-Jahre leben in Wiens Haushalten etwa 70.000 Dienstmädchen – zumeist junge, unerfahrene Frauen aus der Provinz, die auf der Suche nach Arbeit in die Stadt gekommen sind.
Das Leben in der Stadt entpuppt sich jedoch als nicht so rosig, wie die Mädchen das vielleicht erhofft hatten. Ihr Arbeitstag dauert oft von 5 Uhr früh bis Mitternacht. Die Hausgehilfin ist Köchin, Stubenmädchen, Haushälterin und Kindermädchen. Der Lohn ist gering, die Verpflegung unzureichend. In manchen Fällen gibt es auch nur das zu essen, was die „Herrschaft“ übrig lässt: Ich sehe wieder zu, wie es schmeckt und warte, was man mir […] zurückläßt und schlucke alles in Eile und kalt geworden hinunter.
Ihren Dienstgebern sind die Hausgehilfinnen vollkommen ausgeliefert. Wer sich beschwert, wird gekündigt. Damit verliert das Mädchen nicht nur die Arbeitsstelle, sondern auch ihr Quartier.
Oft wird gekündigt, bevor die Familie auf Sommerfrische fährt – nur um einige Wochen Lohn zu sparen. Ersatz ist jederzeit vorhanden.
Einen eigenen Raum besitzen die wenigsten. In der Regel ist ihr Schlafplatz in der Küche oder im Vorzimmer.
Je „herrschaftlicher“ das Haus, um so erniedrigender oft die Behandlung der weißen Sklavinnen.Adelheid Popp
Für die „Herren Söhne“ des Hauses und für den Dienstgeber sind sie oft Freiwild. Jedoch: Wird das Mädchen schwanger, so kündigt ihm die Frau Mama und damit hat der Roman sein Ende erreicht, wenigstens für den jungen Herrn. […] Kein Wunder, daß unter den Frauen, die sowohl wegen Fruchtabtreibung als auch unter denen, die wegen Kindesmord angeklagt werden, eine sehr große Zahl von Hausgehilfinnen sich befinde [sic!], schreibt Therese Schlesinger 1924.
Erschreckend groß ist deshalb auch die Zahl der Selbstmorde unter den Dienstmädchen. Als Ursachen werden „Familienzwist“, „Stellenlosigkeit“ oder „Vereinsamung“ genannt.
Kein Tag vergeht, an dem nicht junge und ältere Mädchen […] den Gashahn öffnen, vom Stockwerk auf die Straße springen, zur Lysolflasche greifen oder zur Donau wanken. Paula Nowotny
Im Gegensatz zu den Arbeiterinnen und Arbeitern in den Fabriken und Werkstätten sind die Hausgehilfinnen isoliert. Die „weißen Sklavinnen“, wie man damals die in dienender Stellung befindlichen Mädchen gern nannte, wurden organisatorisch noch kaum beachtet.
Man hielt sie für eine unorganisierbare Schicht. Ihre Tätigkeit wurde als eine nur vorübergehende betrachtet, da die meisten doch früher oder später zur Ehe gelangten, schreibtAdelheid Popp, „die geistige Erweckerin der Hausgehilfinnen in Österreich“, rückblickend.
Im Mai 1911 organisieren sich die Frauen endlich und gründen den Verein „Einigkeit“, Verband der Hausgehilfinnen aller Kategorien. In ihrem vom Frauenreichskomitee entworfenen Programm fordern sie u.a. eine Kranken-, Alters-, und Unfallversicherung, einen gesetzlichen Schutz gegen die willkürlichen Entlassungen im Sommer, die gesetzliche Festsetzung einer neunstündigen ununterbrochenen Nachtruhe sowie einen Ersatzruhetag für einen nichtfreien Sonntag.
Nachdem 1918 das Frauenwahlrecht eingeführt worden ist, ziehen im März 1919 erstmals acht Frauen ins Parlament ein, sieben davon aus den Reihen der Sozialdemokratie. Im Februar 1920 gelingt ihnen die Durchsetzung des Hausgehilfengesetzes, das endlich die ersehnten Verbesserungen bringt – einen verschließbaren Schlafraum, gesunde Verpflegung, das Recht auf Ruhezeiten und bezahlten Urlaub.
Die wenigsten Frauen wagen es jedoch, ihre Rechte auch tatsächlich einzufordern, das Schutzgesetz bleibt ein Papiertiger. Das Vereinsblatt der Heimarbeiterinnen berichtet gar von einer „Gnädigen“, die ihrer Hausgehilfin einreden wollte, der Organisation beizutreten seipolizeilich verboten.
1920 werden erste Notquartiere für stellenlose Hausgehilfinnen im ehemaligen Ortsarmenhaus von Fünfhaus, in der Zwölfergasse 27, eingerichtet.
Denn es sei in allen großen Städten zu einem schmutzigen Gewerbe gewisser „Quartierfrauen“ geworden, stellenlose Mädchen aufzunehmen, sie finanziell auszubeuten und mitunter auch die unerfahrenen und schutzlosen Geschöpfe auf einem etwas längeren oder kürzeren Wege der Prostitution in die Arme zu treiben […], wie es im Vereinsblatt der Heimarbeiterinnen heißt.
Zur Einweihung kommen Anna Boschek für die Gewerkschaftskommission, Genosse Fritz Adler und Genossin Schlesinger für den Klub der sozialdemokratischen Abgeordneten. Das Gruppenfoto muss im Garten aufgenommen werden. Die Kleinheit der Räume machte es leider unmöglich, alle Mitglieder zur Eröffnungsfeier einzuladen, berichtet das Vereinsblatt.
Diese Frage stellt sich 1926 auch das Referat für Frauenarbeit in der Wiener Arbeiterkammer unter Käthe Leichter. Eine Erhebung kommt zu dem ernüchternden Ergebnis: Zwei Drittel der Hausgehilfinnen arbeiten über 13 Stunden, mehr als die Hälfte über 14 Stunden […]. Und: Beinahe die Hälfte der Hausgehilfinnen teilt uns mit, daß sie keinen eigenen versperrbaren Schlafraum mit einem Fenster ins Freie haben!
Um stellungslos gewordenen Hausgehilfinnen einen sicheren Zufluchtsort zu bieten, lässt die Gemeinde Wien schließlich ein ehemaliges Schulgebäude in der Rahlgasse 2 in Mariahilf zum ersten „Hausgehilfinnenheim“ umbauen. Geführt wird das Heim vom Verband „Einigkeit“, die feierliche Eröffnung durch Bürgermeister Karl Seitz findet am 12. April 1927 statt: Andere Arbeiter beziehen in dieser Zeit der Arbeitslosigkeit wenigstens die Unterstützung und sie bleiben dank dem Mieterschutz wenigstens in ihrem Heim, die Hausgehilfin aber verliert alles. Das neue Hausgehilfinnenheim solle eine Stätte der Solidarität, der Liebe, der Freundschaft sein.
Im Erdgeschoß des dreistöckigen Hauses sind die Kanzlei, die Stellenvermittlung, das Bad, die Küche, der Speisesaal und das Schreibzimmer untergebracht. In den übrigen Stockwerken gibt es sechs Schlafsäle sowie ein isoliertes Zimmer für Kranke.
Alles ist fein säuberlich geputzt, das Badezimmer mit weißen Kacheln ausgelegt. Die Schlafsäle sind sehr geräumig, mit weißemailierten Stahlrohrbetten ausgestattet. In jedem Zimmer befindet sich die nötige Anzahl von feuersicheren Kleiderschränken, jede Kollegin hat ihr Nachtkästchen. Tische und Stühle sowie Blumen fehlen in keinem Zimmer.
Um den ungelernten Mädchen bessere Chancen am Arbeitsmarkt zu eröffnen, gründet der Verein „Einigkeit“ 1927 auch eine Fortbildungsschule. An ihren freien Nachmittagen werden die Hausgehilfinnen nun im Kochen und Nähen geschult, sie erhalten Unterricht in Körper- und Kinderpflege, in Bürger- und Haushaltungskunde. Zur großen Überraschung aller sind die Dienstgeberinnen darüber jedoch „nicht sehr entzückt“. Die Angst, eine geschulte Arbeitskraft im Hause zu haben, die eventuell größere Lohnforderungen stellt, hat ihnen den Vorteil, der ihnen auf der anderen Seite durch eine geschulte Arbeitskraft erwächst, übersehen lassen.
Bereits im ersten Jahr finden 2.265 Stellenlose eine Unterkunft in der Rahlgasse – und die Nachfrage steigt. Schließlich gelten schon 40-jährige Frauen als „zu alt“ und abgearbeitet.
Es ist ein weiter Weg vom Dienstbotenzimmer zum Hausgehilfinnenheim, aber es ist der Weg, der diese Mädchen ins Freie führt.Karl Seitz
Im Februar 1928 eröffnet die Gemeinde Wien deshalb ein zweites Heim im ehemaligen Hotel „Zur Stadt Prag“ in der Radetzkystraße, mit 140 „reinen“ Betten in 46 „hübschen“ Zimmern.
Einmal gekostet an den Quellen eines höheren, menschenwürdigen Lebens, und sie werden die Schmach der stickigen Dienstbotenzimmer, die Erniedrigung des fortwährenden Geklingels während der Essenszeit, die Anmaßung, von der Benützung des Familienbaderaumes ausgeschlossen zu sein, als doppelt unerträglich empfinden.
Die Maßnahmen der Gemeinde Wien können viele Probleme lösen – jedoch bei weitem nicht alle Missstände beseitigen. Noch 1930 findet sich im Neuen Wiener Tagblatt ein Stelleninserat, wonach eine „tüchtige Hausgehilfin mit langjährigen Zeugnissen“ gesucht wird, aufgenommen gegen Kost und Quartier, ohne Lohn.
Eine weitere Einschaltung in derselben Zeitung ist von einer Hausgehilfin selbst aufgegeben worden: Stubenmädchen, sehr fleißig und tüchtig, sucht per sofort Stelle gegen Essen und Wohnung. Unter „Kein Lohn“ an die Administration.