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Aktuelle Seite: „Die Eheberatung ist ebenso wichtig wie die Sakristei.“
0069 | 1. JUNI 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Die Eheberatung ist ebenso wichtig wie die Sakristei.“


Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der „Welt von Gestern“ erleben die traditionellen Werte von Ehe, Familie und Fortpflanzung eine zunehmende Erosion. Der Geburtenrückgang ist signifikant, unkontrollierte Abtreibungen und Ehescheidungen nehmen stark zu.

Die Eheberatung ist ebenso wichtig wie die Sakristei.Marianne Pollak, Die Unzufriedene, 1925

Die Sexualreformbewegung versucht dieser Entwicklung durch Aufklärung und Beratung entgegenzuwirken. In ihr vermischen sich mehrere unterschiedliche Ansätze und Interessen: frauen-emazipatorische, sexualrevolutionäre und eugenisch-bevölkerungspolitische. Die meisten Sexualreformer verteidigen die Sinnhaftigkeit von Ehe und Familie und versuchen die Institution der Ehe durch deren „Erotisierung“ zu retten.

Eine erste Beratungsstelle richtet der „Bund gegen Mutterschafts­zwang“ 1922 in der Königseggasse 10 in Gumpendorf ein. Diese ist zweimal in der Woche, dienstags und donnerstags zwischen 17 und 18 Uhr geöffnet, die Beratung ist kostenlos und anonym. Der Bund setzt sich, gemeinsam mit führenden Sozialdemokratinnen, für eine Reform des Abtreibungs­paragraphen, ebenso aber für einen „erhöhten Schutz von Mutter und Kind“ ein.

1925 gründet die Individual­psychologin Sofie Lazarsfeld, Mutter des Sozialwissenschaftlers Paul Felix Lazarsfeld, eine private Sexual- und Eheberatungsstelle. Sofie Lazarsfeld, die mit ihrem 1931 erschienenen Buch „Wie die Frau den Mann erlebt“ berühmt werden sollte, thematisiert als eine der ersten explizit die weibliche Sexualität in der Ehe und kann sich dabei auf Erfahrungen stützen, die sie in ihrer Beratungsstelle sammelt. Zusätzlich hält sie ab 1927 individualpsychologische Ausbildungs-, später auch Eheberatungskurse und Vorträge zu den Themen Ehe, Liebe, Sexualität und der Rolle der Frau ab.

Die Mutter vom Paul Lazarsfeld hatte einen Salon, und in Wirklichkeit sind es ja die Salons gewesen, wo all diese Leute hingekommen sind: vom Max Adler über Fritz Adler bis hin zum Alfred Adler. Also, der Paul Lazarsfeld war sozusagen mitten in der Hautevolee. Gertrude Wagner im Gespräch mit Christian Fleck, 1984

Seit 1928 betreibt auch die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexual­forschung für Arbeiter und Angestellte“ unter der Leitung des Arztes und Psychoanalytikers Wilhelm Reich und der Ärztin Marie Frischauf-Pappenheim verschiedene „proletarische Sexualberatungs­stellen" in Privatwohnungen und -praxen. Ihr Hauptanliegen ist die Verbesserung der Arbeiter-Sexualität und der proletarischen Fortpflanzungs­gesundheit.

Heiraten erlaubt

Als öffentliches Gegengewicht zu diesen „wilden“ und zum Teil weit links stehenden Beratungsstellen betreibt die Gemeinde Wien auf Initiative von Gesundheitsstadtrat Julius Tandler ab dem 1. Juni 1922 die „Gesundheitliche Beratungsstelle für Ehewerber“.

Die neue Einrichtung ist im Rathaus untergebracht und soll eine Atmosphäre schaffen, in der auch ärmere Frauen wieder Kinder bekommen und großziehen wollen. Man gebe einmal diesen Frauen die Möglichkeit, ihre Kinder unter menschenwürdigen, lebenswerten Bedingungen aufzuziehen, und viele Tausende unter ihnen werden sich der Mutterschaft ohne Zwang unterziehen.

Wichtigstes Ziel der Eheberatungs­stelle ist es, den zukünftigen Eheleuten ihre Eigen­verantwortung für die Gesundheit ihrer Nachkommenschaft vor Augen zu führen. Im Sinne der eugenischen Überlegungen der Zeit sollten, so die Empfehlung, nur „gesunde Menschen“ Nachwuchs bekommen, um die Chancen künftiger Generationen auf eine „gesunde Zukunft“ zu verbessern.

In der Eheberatungsstelle wird den Leuten natürlich das Heiraten nicht verboten, es sei denn, daß die Gefahr vorliegt, daß ein Ehewerber den anderen mit irgendeiner schweren Krankheit infiziert. Sonst erstreckt sich die Beratung darauf, ob die geistige und körperliche Verfassung der beiden Ehewerber danach angetan ist, mit der menschlichem Ermessen eigenen Wahrscheinlichkeit normale und gesunde Kinder zu zeugen, schreibt Tandler anlässlich „5 Jahre Eheberatungsstelle“ in der Arbeiter-Zeitung vom 1. Juni 1927.

In Bezug auf die Ehe wird festgehalten, dass sie zwar die „Quelle höchsten menschlichen Glückes“ sei, aber auch zum „Ausgangspunkt der erschütterndsten Tragödien“ werden könne. Ziel der Beratung sei ein Appell an die Eigenverantwort­lichkeit der Eheschließenden.

Der Mensch ist kein Laboratoriumsobjekt.

Mit der Leitung dieser ersten öffentlichen Eheberatungsstelle Europas wird Karl Kautsky jun. betraut, einer der Söhne des v.a. in Deutschland tätigen sozial­demokratischen Theoretikers Karl Kautsky, mit dem Tandler eng verbunden ist. Diese Personalentscheidung sorgt für harsche Kritik. So etwa meint der christlich-soziale Gemeinderat Anton Orel, ich muß nun als Vertreter des deutschen Christenvolkes von Wien mit aller Entschiedenheit dagegen Stellung nehmen, daß ein Jude unsere Christen in Eheberatungsangelegenheiten berät (GRSP, 19.12.1923).

Die Beratungen finden zwei Mal wöchentlich – dienstags und freitags von 17 bis 18 Uhr – im städtischen Gesundheitsamt in der Rathausstraße 9 statt.

In einem Informationsmerkblatt heißt es: Die Gesundheit der Ehegatten ist für das Glück der Ehe wichtiger als Geld und Gut. Darüber hinaus wird auch über Empfängnisverhütung als Mittel gegen Geschlechts­krankheiten, über Abtreibung und mögliche „Unvollkommenheiten“ informiert.

Nach der Beratung, die in der Regel zunächst in Einzelgesprächen verläuft, wird den „Ehewerbern“, so diese das wünschen, ein Zeugnis ausgestellt, in dem die Ergebnisse der Untersuchung vermerkt werden. Bei Bedarf werden die Ratsuchenden noch an einen Facharzt verwiesen, der sie auf übertragbare Krankheiten bzw. auch auf solche, die die Gesundheit der Kinder negativ beeinflussen können, untersucht.

Auf Grundlage all dessen beurteilt der Beratungsarzt, ob die „Ehefähigkeit“ gegeben ist oder nicht. Grundsätzlich aber, so betont auch Kautsky in einem Artikel in der Monatsschrift Die Frau, lege man großen Wert auf die Freiwilligkeit, denn der Mensch sei kein Laboratoriumsobjekt.

Schon aus dem Gesagten geht hervor, daß die Eheberatung sich nicht auf rein medizinische Gesichtspunkte beschränken kann, sondern nach Möglichkeit die soziale und psychologische Situation des Ratsuchenden mit in Betracht ziehen muß. Sie ist nicht ein Teil der reinen, sondern der angewandten Medizin.

Anspruch der Eheberatung ist es, das Allgemeinwohl stets im Blick zu behalten und dennoch individuell auf die Lebensumstände der angehenden Ehepaare einzugehen. Es sei deshalb besser, ein an Syphilis erkrankter Mann, „dessen Harmlosigkeit noch nicht ganz außer Zweifel steht“, heirate und bleibe mit seiner Frau unter „ständiger ärztlicher Kontrolle“, als dass er wahllos Geschlechtsverkehr habe – mit den daraus resultierenden negativen Folgen für die Bevölkerung.

Die Nachfrage bleibt gering.

Mit der Einrichtung der Eheberatungsstelle hofft Julius Tandler, dass Zehntausende das Angebot in Anspruch nehmen würden. Die Nachfrage bleibt allerdings trotz massiver Bewerbung gering. Im Zeitraum von Juni 1922 bis Januar 1934 suchen nur knapp 5.000 „Ratsuchende“ die Beratungsstelle auf. Viele Paare kommen wegen Eheproblemen oder um sich über Verhütungs­möglichkeiten und Abtreibungs­fragen zu informieren, ein Aspekt, der von konservativer Seite immer wieder scharf kritisiert wird.

Im Unterschied zu den privat geführten Beratungsstellen, bei denen sexualtherapeutische Konzepte sowie die Bekämpfung von Sexualstörungen im Vordergrund stehen, verfolgt die von Julius Tandler ins Leben gerufene Eheberatung ein bevölkerungspolitisches Ziel, nämlich die Erziehung zu einer verantwortungsbewussten Fortpflanzung, bei der das Gemeinwohl im Zentrum steht.

Die städtische Eheberatungsstelle wird im Februar 1934 vorübergehend geschlossen und  im Juni 1935 unter der Leitung des Arztes und Pastoralmediziners Albert Niedermeyer, eines entschiedenen Abtreibungsgegners, neu eröffnet. Nach dem „Anschluss“ Österreichs im Jahr 1938 wird sie endgültig aufgelöst.

Literatur
Reinhard Müller, Gertrude Wagner im Gespräch mit Christian Fleck, 1984.
Bianca Burger: Ehehygiene und ihre Vermittlung in Wien 1919-1933 unter besonderer Berücksichtigung des Aufklärungsfilms HYGIENE DER EHE (1922), Wien 2015.
Stella Klein-Löw: Woran Ehen zerbrechen. Erinnerungen an die Arbeit in der Eheberatungsstelle der Volkshochschule Alsergrund. Wien 1980.
Britta McEwen: Die Eheberatungsstelle des Roten Wien und die Kontrolle über den ehelichen Sex. In: Andreas Brunner/Frauke Kreutler/Michaela Lindinger/Gerhard Milchram/Martina Nußbaumer/Hannes Sulzenbacher [Hg.]: Sex in Wien – Lust. Kontrolle. Ungehorsam (Sonderausstellung des Wien Museums). Wien 2016.

Sonderausstellung im Waschsalon 2016/17

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