© Waschsalon Karl-Marx-Hof
Nach monatelangen Hetzkampagnen und schwerwiegenden Anschuldigungen der Konservativen veröffentlicht die Arbeiter-Zeitung vom 24. Juli 1928 eine ausführliche Verteidigungsschrift des kommunalen Wohnbaus aus der Feder des Architekten Heinrich Schmid.
1923 beschließt die Gemeinde Wien ein erstes Wohnbauprogramm, das die Errichtung von 25.000 Wohnungen vorsieht. Der kommunale Wohnbau entwickelt sich in der Folge zum regelrechten Wahlkampfschlager, weshalb das „antimarxistische Lager“ mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen agitiert. In publizistischen Kampagnen werden der Mieterschutz, die Wohnbau- und andere sogenannte „Breitner-Steuern" diffamiert und die angebliche qualitative Unzulänglichkeit der neuen Gemeindebauten angeprangert.
Eindringlich warnen die „Bürgerlichen“ vor den „roten Festungen“, die strategisch über die Stadt verteilt wären, vorzugsweise in der Nähe von Brücken, Bahnhöfen und wichtigen Verkehrsadern. Hier, so argwöhnen sie, würde der bewaffnete Aufstand geplant, der in einer „Diktatur des Proletariats“ münde. Besonders umstritten ist der „Riesenbau in der Heiligenstädterstraße“, der spätere Karl-Marx-Hof.
Bereits am 21. Oktober 1927 hatte die christlich-soziale Reichspost gemeldet: Wie wir erfahren, haben sich bei einigen Neubauten der Gemeinde Wien, die noch nicht vollendet sind, derart schwere Baugebrechen gezeigt, daß nach dem Urteile von Fachleuten eine Reparatur unmöglich ist und die Bauten, die bereits bis zu den oberen Stockwerken gediehen sind, abgetragen werden sollten.
Die Ursachen dieser folgenschweren Erscheinungen liegen in einer unzulänglichen Bauführung, die in dem bei den städtischen Neubauten angewandten Sparsystem begründet ist.
Am selben Tag legt das konservative Kampfblatt noch nach und publiziert eine eigene „Extra-Ausgabe“. Der Aufmacher in riesigen Lettern lautet: „Große städtische Neubauten gefährdet!“ Und weiter heißt es, bei dem „Riesenbau in der Heiligenstädterstraße“ seien „katastrophale Baugebrechen festgestellt“ worden. So etwa hätten sich „die Haupt- und Mittelmauern in einer Ausdehnung von 100 Metern bis zur Einsturzgefahr gesenkt“.
Die Hetzschrift endet mit der Forderung: Mit dem Skandal bei den Gemeindebauten muß Schluß gemacht werden!
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Auch im Wiener Gemeinderat kommt es zu erbittert geführten Debatten. Die verhältnismäßig neutral berichtende Neue Freie Presse ortet eine „außerordentliche Depression bei den Sozialdemokraten“, deren Verteidigung, so das bürgerliche Blatt, „matt und unwirksam“ gewesen sei.
Die Reichspost hingegen hat sich festgebissen. „Der Fluch der bösen Tat",titelt sie tags darauf auf Seite eins: „Ueber die Mietkasernenbauten der Gemeinde Wien senken sich die Schatten des Todes." Die Rede ist von „fanatischer, weil parteipolitischer Drauflosbauerei“ und von „riesigen Summen der Steuerzahler“, die auf dem Spiel stünden.
Nach fachmännischem Gutachten bedeuten alle Häuser, die auf diese Weise erbaut wurden, eine öffentliche Gefahr.
Schuldig ist das System dieser beispiellosen Zinskasernenbauerei, schuldig ist die falsche Wohnpolitik der Rathausmarxisten, die es sich in den Kopf gesetzt haben, die Natur durch himmelblaue (sic!) Doktrinen zu vergewaltigen. […] Die Kommunalmarxisten sind zu Gefangenen ihres Vorhabens geworden, die Hausbesitzer zu enteignen, das Mietwesen zu kommunalisieren und Monopolherren auf dem Wohnungsmarkte zu werden.
Über den sozialen Wohnbau im Allgemeinen urteilt das Blatt, „daß die Gesamtheit dieser kommunalen Zinskasernen durch und durch verfehlt, eine monumentale bauliche Verirrung, ein volkswirtschaftlicher Mißgriff, eine wohnpolitische Ungeheuerlichkeit, ein soziales Unglück darstellt.“
Im Blattinneren geht die Hetzkampagne munter weiter: GR Biber schilderte in der heutigen Gemeinderatssitzung sachlich und leidenschaftslos seine Wahrnehmungen. Seine Ausführungen wirkten erschütternd und machten auch auf die Mehrheit tiefen Eindruck. Was er über die Schäden bei den Bauten in der Heiligenstädterstraße und Hagenmüllergasse erzählte, ist so entsetzlich, daß es in der Bauchronik Wiens kaum ein Seitenstück gibt. […] Die Sozialdemokraten waren über diese Auslassungen niedergeschmettert und ließen die vernichtende Kritik über sich ergehen, ohne nur den Versuch einer Abwehr zu machen.
Völlig konträr berichtet naturgemäß die Arbeiter-Zeitung über diese „Lügen und Übertreibungen…“: „[…] man merkt es der edlen Seele an, wie glücklich sie wäre, wenn bei irgendeinem Gemeindebau wirklich etwas Ernstes passierte! Sie würde wohl jubeln, wenn ein Bau wirklich einfiele!“ Die tatsächlichen technischen Probleme – minimale Senkungen eines Bauteils aufgrund der Beschaffenheit des Baugrundes – können mittels Betonpfählen übrigens rasch behoben werden.
Zwischen dem städtischen Neubau und dem Marxismus bestehen innige Beziehungen. Beide wanken in ihren Fundamenten.
Auch die bürgerlichen Ästheten fühlen sich von der kommunalen Bautätigkeit in Heiligenstadt gekränkt. Das Neue Wiener Tagblatt beklagt den Verlust der biedermeierlichen Idylle: Hier, wo die Stadt in die gefälligen und freundlichen Konturen der Landschaft überzugehen beginnt, wo der Wienerwald mit dem Kahlenberg und dem Leopoldsberg ganz nahe herübergrüßt, ist auf einmal und unvermittelt eine grobe Zäsur mit Mauerkolossen gemacht, ist ein bleibender häßlicher Klecks in das reizende Landschaftsbild gepatzt worden…
Auf den Beschluss des Wohnungsausschusses, den neuen Wohnbau in Heiligenstadt nach dem Gottseibeiuns der Konservativen zu benennen, reagiert die Reichspost nur noch mit Häme: Auch ist der Hof im Sumpfgelände und auf Sand gebaut. Dies alles läßt ihn als ein geeignetes und weithin sichtbares Symbol für die Karl-Marx-Lehre erscheinen.
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– „Sö Herr, Können S‘ mir net sag‘n, wo da der eing’stürzte Neubau is?“
– „Durt’n wo der Seipel seine Gasbomben fabriziert!“
Den nahezu pathologischen Hass der Konservativen auf die kommunale Wohnbautätigkeit der Gemeinde Wien karikiert auch der linke Dichter Jura Soyfer in seinem Romanfragment „So starb eine Partei“. Hier in der Person des rabiaten Wutbürgers Zehetner: Wenn er in der Stadtperipherie an den riesenhaften Gemeindebauten vorbeikam, die Namen trugen wie ‚Karl Marx‘ – ‚Friedrich Engels‘ – ‚Matteotti‘ – ‚Lassalle‘, sah er keine Volkswohnhäuser vor sich, sondern Bürgerkriegsforts des roten Schutzbundes. Die kommunalen Mistabfuhrautos waren Tanks, die Kindergärten Waffenarsenale, die Spielplätze Exerzierplätze. Sie hatten Wien zu einer getarnten Festung der Weltrevolution gemacht. Seinen Zwergrattler Schurli führt Zehetner deshalb zum Äußerln stets in die Nähe des Karl-Marx-Hofes. Eine schalkhafte Lust war es dem Herrli zu beobachten, wie der Schurli an der Mauer des Giganten das Bein hob.
Ein halbes Jahr später hat sich die Aufregung etwas gelegt. Zivilarchitekt Heinrich Schmid veröffentlicht in der Arbeiter-Zeitung seine Verteidigungsschrift des sozialen Wohnbaus. Einleitend heißt es: Hier setzt sich gegen die Mißachtung, die die bürgerliche Presse den Wohnhausbauten der Gemeinde zufügt, ein Architekt zur Wehr. Wir geben ihm gern das Wort.
Der Otto-Wagner-Schüler Schmid hatte, gemeinsam mit seinem Partner Hermann Aichinger, bereits während des Ersten Weltkriegs das heutige Hanusch-Krankenhaus errichtet und 1922 den Auftrag für das Verwaltungsgebäude des Österreichischen Verkehrsbüros gegenüber der Secession erhalten. Im Roten Wien nimmt das Büro Schmid-Aichinger bald eine führende Stellung im Volkswohnbau ein und wird mit der Planung mehrerer prestigeträchtiger „Superblocks" beauftragt. Von Schmid-Aichinger stammen u.a. die Entwürfe zum Rabenhof in Erdberg, zum Matteottihof in Margareten, zum Fuchsenfeldhof in Meidling und zum Somogyihof in Penzing.
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In deutschen, englischen, französischen, aber auch in nord- und südamerikanischen Zeitungen erscheinen wiederholt eingehende Berichte über die Wohnhausbauten der Gemeinde Wien. [...] Nur in den Wiener Zeitungen – soweit sie eine gegen die Gemeindeverwaltung gegnerische politische Einstellung haben – bewahrt man über diese Bauten entweder eifriges Schweigen oder man findet höchstens abfällige Pauschalurteile. […]
Da brachte zum Beispiel erst kürzlich eine Wiener Tageszeitung im Nachwort zu dem Gutachten der Sachverständigen über die Bauten in der Heiligenstädterstraße eine Betrachtung über diesen Bau. Er wird als ‚Wohnkaserne’, welche die Gegend ‚verschandle’, als bleibender ‚hässlicher Klecks’, der das reizende Landschaftsbild ‚verpatze’, und dergleichen hingestellt. Ich kenne diese von dem Architekten Oberbaurat Ehn entworfenen Bauten gut, und es ist nicht nur mein subjektives Urteil, sondern die Meinung vieler Architekten, daß gerade dieser Bau eine ganz ausgezeichnete städtebauliche und architektonische Lösung darstellt. […]
Die Monumentalbauten auf der Ringstraße haben dem Zentrum unserer Vaterstadt den Stempel einer Kulturepoche aufgeprägt: mit den Wohnhausbauten der Gemeinde Wien beginnt ebenso eine neue Kulturepoche, nur sind es keine Luxusbauten, die errichtet werden, sondern menschenwürdige Heimstätten für die arbeitende Bevölkerung Wiens.
Dieser Zustand ist für die Wiener Architekten eine unverdiente Beleidigung und Herabsetzung […].
Man gehe in ein Vorstadtzinshaus aus der Vorkriegszeit und sehe sich Küchen und Wohnräume an, die in sechs Quadratmeter große ‚Lichthöfe’ oder auf dunkle, stinkige Gänge münden, und besuche dann unmittelbar darauf einen der großen Komplexe der Wiener Wohnhausbauten und besichtige Wohnungen, die an Gartenhöfen von 1600 bis 2000 Quadratmeter Ausdehnung liegen! Wer dann noch nicht zugibt, daß durch diese Wohnhausbauten eine neue Bauepoche im Wohnbau eingetreten ist, der will eben nicht sehen! […]
Die Gemeinde Wien läßt ihre Wohnhausbauten durch eine große Zahl Wiener Architekten, von konservativster bis zu extrem neuzeitlicher Baugesinnung, entwerfen, ohne den Architekten in der Formengebung irgend welche Vorschriften zu machen oder Einwendungen zu erheben. […]
Die Kritik über die Werke der Baukünstler sollte eben auf demselben anständigen Niveau sein, wie sie für die anderen Künste für selbstverständlich gilt, was natürlich nur solche Kritiker zustande bringen, denen ein maßgebendes Urteil über Baukunst zusteht.
Am 12. Oktober 1930 kann das Rote Wien endlich die offizielle Eröffnung seines prestigeträchtigsten Bauwerkes feiern. Die Feier wird zum Triumph für die sozialdemokratische Stadtregierung: Das Riesengebäude des Karl-Marx-Hofes, die gewaltigste Wohnstätte, die Europa besitzt, hatte prangenden Festschmuck angelegt. Von den mächtigen Flaggenmasten der fünf Türme wehten die Fahnen der Republik und Wiens, keines der tausende Fenster war ohne Fahnen- und Guirlandenschmuck: ein erhabenes Bild!, schreibt Das Kleine Blatt tags darauf und zitiert einen kleinen Seitenhieb, den sich Bürgermeister Karl Seitz nicht verkneifen konnte: Er gab seinem aufrichtigen Bedauern Ausdruck, daß nun vierzehnhundert Wiener Familien gezwungen wären, in einen Bau einzuziehen, der von Rechts wegen zusammengestürzt sein sollte.
Den führenden Persönlichkeiten des Roten Wien ist die Erleichterung über den glücklichen Ausgang durchaus anzumerken. Bürgermeister Karl Seitz zeigt sich bei der Eröffnung selbstbewusst: Wir sind zwar durch alle Gassen geschleift worden, aber – Lügen haben kurze Beine, und man muß nur die Energie aufbringen, standzuhalten – heute zeigt sich, daß wir recht hatten. […] Es gibt Zeiten des großen Wortes, der großen Geste, das sind die Zeiten äußerer und innerer Kriege, der Revolutionen, Zeiten großen wirtschaftlichen Geschehens, wirtschaftlicher Konjunktur. In solchen Zeiten sind Männer nötig, die über das starke Wort und die große Geste verfügen. Dann aber kommen Zeiten, in denen die Hochspannung der Nerven einer gewissen Beruhigung weicht, man nach großem Geschehen zu ruhiger, schwerer Arbeit zurückkehrt. […] Wir stehen in einer historischen Periode der Sachlichkeit, der stillen, aber energischen Aufbauarbeit. Unsere historische Aufgabe ist, in Sachlichkeit diese Arbeit zu leisten.
© Sammlung Exenberger
Eröffnung des Karl-Marx-Hofes
Beim politischen Gegner verhallen diese Worte ungehört. Im Gegenteil – die Reichspost reklamiert „Die Rettung des Heiligenstädterhofes“ sogar für sich und fordert den „Dank der Austrobolschewiken“ ein: Am Sonntag ist der Karl-Marx-Hof, der kilometerlange Neubau der Gemeinde Wien, unter dem üblichen Tamtam eröffnet worden. […] Durch die zitierte Veröffentlichung der ‚Reichspost’ wurde die Öffentlichkeit auf die Senkungen in den Fundamenten der genannten Bauten, die damals teilweise schon bis zum zweiten Stockwerk gediehen waren, aufmerksam. […] Die rote Gemeinde Wien wäre der ‚Reichspost’ zu großem Dank verpflichtet, denn erst auf ihr Eintreten wurden die Rettungsarbeiten begonnen. Dadurch erst sind die Bauten gerettet worden.
Zu guter Letzt rechnet das Zentralorgan der Hausbesitzer vor, dass auf eine Wohnung im Karl-Marx-Hof durchschnittlich 20 Quadratmeter, pro Kopf also etwa 5 Quadratmeter entfielen. Das ist ungefähr eine Größe, wie sie eine ordentliche Kaninchenfamilie in einem modernen Stall beansprucht.
Tatsächlich gibt es im Karl-Marx-Hof 1930 zehn verschiedene Wohnungstypen – vom „Ledigen-Zimmer“ bis zu einer Wohnung mit „Küche, 3 Zimmern und 2 Kammern“. Etwa die Hälfte der ursprünglich 1.382 Wohnungen verfügt über Wohnküche, Zimmer und Kammer und misst 42 Quadratmeter.
Der „häßliche Klecks“ findet sich heute in jedem guten Wien-Reiseführer und wird – gemeinsam mit dem Museum im Waschsalon Nr. 2 – jährlich von tausenden BesucherInnen aus dem In- und Ausland besichtigt.