Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Die Grande Dame aus Simmering
0028 | 19. JULI 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Die Grande Dame aus Simmering

Betriebsrätin, Gewerkschafterin, Frauensekretärin, Widerstandskämpferin, Blockälteste, Nationalratsabgeordnete, Zeitzeugin und Antifaschistin.

Am 19. Juli 1901 wird Rosa Jochmann als viertes Kind einer Arbeiterfamilie in der Brigittenau geboren. Die Eltern waren aus Mähren eingewandert, zu Hause wird fast nur tschechisch gesprochen.

Mit den Eltern waren wir sechs Personen, dazu noch zwei Bettgeher. Wir hatten Zimmer und Küche.

Der wertvollste Besitz der Familie ist der Wintermantel des Vaters, der die meiste Zeit über im Versatzamt hängt. Sobald die kalte Jahreszeit naht, ist die größte Sorge, das Geld aufzubringen, um den Mantel wieder auszulösen.

Karl Jochmann ist Eisengießer und überzeugter Sozialdemokrat, die Mutter Josefine Wäscherin – und streng katholisch, weshalb die Kinder jeden Abend beten müssen. Über ihren Betten hängt ein Bild der Heiligen Familie, gleich daneben eines von Karl Marx: Natürlich hatte ich keine Ahnung damals, wen das Bild darstellte. Aber weil der Karl Marx mit seinem schönen, weißen Vollbart so gütig ausgeschaut hat, habe ich ihn für den lieben Gott gehalten.

Nur kein Ausschuss!

Rosa besucht die Bürgerschule; als Klassenbeste darf sie einen kostenlosen Kurs im Maschineschreiben besuchen. Unsagbar gerne wäre sie Lehrerin geworden. Lehrerin und Mutter. Beides habe ich nicht erreicht, resümiert sie rückblickend.

Für ein Arbeiterkind sind die Berufsmöglichkeiten begrenzt – in die Bedienung gehen oder in die Fabrik. Mit vierzehn Jahren arbeitet Rosa zunächst in einer Süßwarenfabrik, dann in der Draht- und Kabelfabrik Ariadne, in der Österreichischen Seifensieder-Gewerks-Gesellschaft „Apollo“ und schließlich in der Firma Auer, die Gasglühstrümpfe herstellt. Hier wird sie 1920 zur Betriebsrats­vorsitzenden gewählt.

In der Gewerkschaft fällt sie durch ihr Engagement auf; es folgt die Berufung in den Ausschuss der Chemiearbeitergewerkschaft. Ich wusste nicht einmal, was ein „Ausschuss“ ist. Der Begriff „Ausschuss“ hatte bisher in meinem Leben eine große Rolle gespielt – und keine gute. […] Man wurde ständig gemahnt: „Ihr müsst besser arbeiten, damit es keinen Ausschuss gibt“.

Zurück auf die Schulbank

Anfang 1926 darf Rosa schließlich den ersten Lehrgang der Arbeiterhochschule besuchen. Die Gesamtleitung der neuen Funktionärsausbildung liegt bei Josef Luitpold Stern, es unterrichten die Kapazunder der österreichischen Sozialdemokratie: Karl Renner Allgemeine Staatslehre und Genossenschaftswesen, Otto Neurath Deutsche Wirtschafts­geschichte, Friedrich Adler referiert über die Geschichte des Sozialismus, Robert Danneberg über Organisationskunde und Max Winter hält ein journalistisches Seminar ab.

Der beliebteste, und von allen am meisten verehrte Lehrer ist Otto Bauer, der über Nationalökonomie und Politik spricht und sich trotz seiner zahlreichen Verpflichtungen auch noch Zeit für anschließende Diskussionen nimmt.

Der Beginn einer politischen Karriere

In der Hand die Stahlrute, auf den Kappen den Totenkopf.

1932 wird Rosa Jochmann Mitglied des Frauensekretariats der SDAP, politisch ist sie mittlerweile in Simmering beheimatet.

Im Oktober 1932 überfallen österreichische Nationalsozialisten hier das Arbeiterheim. In der Hand die Stahlrute, auf den Kappen den Totenkopf, so zogen die Nazis am 16. Oktober johlend und provozierend durch Simmering. Im Zuge der Kämpfe werden drei Menschen getötet, erst da schreitet die Polizei ein, allerdings nicht gegen die Nazis. Ein Säbelhieb traf den braven Simmeringer Vertrauensmann Medwed auf den Kopf, und die das Heim beschützenden Schutzbündler bekamen die polizeilichen Gummiknüppel zu spüren.

Im Oktober 1933 versammeln sich die Sozialdemokraten zu einem außerordentlichen Parteitag im Arbeiterheim Favoriten; es sollte der letzte der Ersten Republik werden. Adelheid Popp und Therese Schlesinger scheiden aus Altersgründen aus dem Parteivorstand aus, ihnen folgen Rosa Jochmann und Hella Postranecky.

General war er keiner

Schon lange vor dem Bürgerkrieg im Februar 1934 war für den Fall eines offenen Kampfes der Ahornhof in Favoriten als Kommandostelle des Republikanischen Schutzbundes bestimmt worden. Am 12. Februar halten dort Julius Deutsch als militärischer und Otto Bauer als politischer Führer die Stellung.

Rosa Jochmann ist ebenfalls vor Ort, stenographiert die Radiomeldungen über den Verlauf der Kämpfe und hält Bauer und Deutsch auf dem Laufenden. Die Genossen wären bereit gewesen, mit der Waffe in der Hand die Demokratie zu verteidigen, aber der Parteivorstand und besonders Otto Bauer konnte sich nicht zum Kampf entschließen. […] Nicht aus Feigheit oder Angst – sondern wegen der Opfer.

Als einzigem Mitglied des Parteivorstandes gelingt es Rosa Jochmann sich ein halbes Jahr lang in Wien der Polizeisuche zu entziehen, ohne Österreich zu verlassen. Sie engagiert sich bei den illegalen Revolutionären Sozialisten, schmuggelt die in Brünn gedruckte Arbeiter-Zeitung und Flugblätter nach Wien.

Ich kam wenigstens einmal zum Schlafen

Im August 1934 wird sie in Wiener Neustadt festgenommen und nach drei Monaten Haft nach Wien überstellt, zunächst in das Polizeigefängnis. Später überführte man mich ins Kreisgericht, wo es gar nicht so schlecht war. Ich kam wenigstens einmal zum Schlafen und konnte mich ausruhen.

Über ihren Prozess im April 1935 berichtet die illegale Arbeiter-Zeitung: Rosa Jochmann war tapfer, charakterfest und benahm sich als eine wirkliche Sozialistin. Das Strafausmaß für die Verbreitung von Flugblättern beträgt ein Jahr schweren Kerkers.

Wir haben im Lager noch alles geputzt und unsere Baracke dann im sauberen Zustand an die sowjetischen Soldaten übergeben.

Nach dem sogenannten Anschluss wird Rosa Jochmann vorübergehend inhaftiert und verhört. 1939 fällt sie der Gestapo erneut in die Hände; diesmal wird sie in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert. Dort ist sie „Blockälteste“ im politischen Block. Im April 1945 befreit die Rote Armee die Häftlinge. Rosa hat überlebt.

Eine von fünf

Zurück in Wien wird Rosa Jochmann beim ersten Parteitag der wieder­begründeten „Sozialistischen Partei Österreichs“, der am 15. Dezember 1945 stattfindet, in den Parteivorstand gewählt. Unter den 20 Mitgliedern befinden sich nur noch fünf, die auch dem letzten Vorstand des Jahres 1933 angehört hatten. Neben Jochmann sind dies Gabriele Proft, Karl Seitz, Paul Speiser und Oskar Helmer.

Bezüge zum Roten Wien der Ersten Republik werden tunlichst vermieden. Der schwierige Wiederaufbau des Landes und die Große Koalition mit dem früheren Gegner lassen nur wenig Raum für ideologische Nostalgie.

Dies betrifft auch das politische Personal. Als sich Rosa Jochmann für eine Rückholaktion prominenter Exilanten starkmacht, muss sie feststellen: Weder Breitner noch Ellenbogen wollten eine Funktion, nur in die Heimat zurückkommen wollten sie […]. Renner schrieb mir am 5. März 1946: „Wir haben Bedenken wegen der Unmöglichkeit, den Heimgekehrten eine angemessene Verwendung zu sichern, besonders da unsere politische Lage noch immer viele Momente der Ungewissheit zeigt“.

Rosa Jochmann ist von 1945 bis 1967 Abgeordnete zum Nationalrat, 1948 Gründungsmitglied des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus und ab 1984 auch Vorsitzende der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück. Bis ins hohe Alter engagiert sie sich als unermüdliche Zeitzeugin an Schulen. Rosa Jochmann stirbt am 28. Januar 1994 in Wien.

Quellen und Zitate
Maria Sporrer, Herbert Steiner (Hrsg.),Rosa Jochmann. Zeitzeugin, 1984 – mit Aufzeichnungen von Trautl Brandstaller, ORF
Andrea Steffel, Walter Göhring (Hrsg.), Rosa Jochmann – „Nie zusehen, wenn Unrecht geschieht.“

Fuss ...