Am 30. April 1899 versammeln sich zwei Dutzend begeisterte Radfahrer im Wirtshaus „Zur Bretze“ in der Ottakringer Brunnengasse 38.
Um 1890, als das „Normalrad“ das elitäre und unfallträchtige Hochrad ablöst, kostet ein Fahrrad 500 bis 600 Gulden, was immerhin etwa zwei Monatslöhnen eines Arbeiters entspricht. Dennoch entwickelt sich der „Drahtesel“ bald zum beliebtesten Transportmittel der „kleinen Leute“, v.a. der männlichen Arbeiterschaft.
Zu Beginn ist das Radfahren ohnedies nur Männern über 18 Jahren gestattet, die sich im Besitz eines kostenpflichtigen Dokuments befinden. Für einen solchen „Velociped-Erlaubnis-Schein“ ist die verhältnismäßig hohe Summe von einem Gulden zu entrichten. Bald bilden sich erste Vereine, deren Mitglieder einander beim Erlernen des Radfahrens unterstützen und gemeinsame Ausfahrten unternehmen. 1893 gründen Arbeiter der Wiener Banknoten-Druckerei der „Österreichisch-Ungarischen Bank“ den ersten Wiener Arbeiter-Radfahrverein – „Die Biene“.
Weitere Vereinsgründungen folgen, so etwa der Radfahrerverein Apollo (1894), der Radfahrerverein „Bruderbund“ in Wiener Neustadt und der Radfahrerverein Favoriten (1895). 1899 sind es bereits elf Vereine aus Wien und Umgebung mit etwa 1.000 Mitgliedern, die sich Ende April in der „Bretze“ zum „Verband der Arbeiter-Radfahrvereine Österreichs“ zusammenschließen.
Die Bretze ist ein „vornehmeres“ Vorstadtetablissement mit Veranstaltungssaal, einem großem Gastgarten und einem Tanzsaal. Da in diesem Lokal auch zahlreiche andere sozialdemokratische Veranstaltungen und Zusammenkünfte stattfinden – legendär sind die subversiven Vereinsgründungen des umtriebigen Franz Schuhmeier – erhält es bald den Namen „Zur roten Bretze“.
Die Arbeiterradfahrer nehmen mit ihren buntgeschmückten Fahrrädern regelmäßig an den Festaufzügen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei teil – vorrangig natürlich am 1. Mai – und präsentieren sich stolz als eine Art von „Kavallerie“ des Proletariats, die immer wieder auch Ausfahrten aufs Land unternimmt, um Propagandamaterial zu verteilen.
Abseits der politischen Agitation gibt es auch erste Serviceangebote, etwa eine Unfallversicherung. Auch die Ausbildung spielt noch eine Rolle. Leopold Hauer etwa, der spätere Ehrenpräsident des Arbeiter-Radfahrer-Bundes, bringt persönlich sogar dem Parteigründer Victor Adler das Radfahren bei.
Vor Kriegsausbruch im Jahr 1914 zählt die Dachorganisation 388 Klubs mit nicht weniger als 15.000 Mitgliedern. Viele dieser v.a. jüngeren Menschen werden Opfer des Ersten Weltkriegs. 1918 sind nur noch 3.500 Mitglieder übrig.
Im Roten Wien kommt es zu einem neuerlichen Aufschwung. Der Verein bemüht sich nun auch, das praktische Fortbewegungsmittel unter der weiblichen Anhängerschaft populär zu machen – gegen das anfangs schwer zu widerlegende Argument der „Unschicklichkeit“.
Viel wichtiger als für den Mann ist für das Weib eine gute Haltung beim Radfahren.Werbebroschüre, 1919
1926 wird der Name der Organisation auf „Arbeiter-Radfahrer-Bund Österreichs“ (ARBÖ) geändert und gleichzeitig eine eigene Motorfahrsektion gegründet. Mit der Anpassung an die technischen Entwicklungen und den gesellschaftlichen Aufstieg von Teilen der organisierten Arbeiterschaft erfolgt 1932 die Namensänderung in „Arbeiter-Rad- und Kraftfahrer-Bund Österreichs“. 1933 gibt es im ÄRBÖ 43 Motorfahrer-Ortsgruppen mit 4.800 Mitgliedern und 476 Radfahrer-Ortsgruppen mit 17.200 Mitgliedern. Ein Drittel der Mitglieder ist zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits arbeitslos.
Nach den Februarkämpfen 1934 wird der ARBÖ, so wie alle sozialdemokratischen Organisationen, verboten. In der Zeit der Illegalität sind viele ehemalige Mitglieder bei der Verteilung verbotener Zeitungen und Flugblätter aktiv.
Der ARBÖ wird nach Kriegsende neu gegründet. Als mit der allgemeinen Motorisierung in den 1950er- und 1960er-Jahren Autos auch für immer mehr Arbeiter erschwinglich werden – 1961 zählt man unter den Mitgliedern 8.000 Radfahrer und bereits 20.000 Kraftfahrer! – wird der Name 1962 in „Auto-, Motor- und Radfahrerbund Österreichs" geändert.
1967 startet der ARBÖ-Pannendienst mit den ersten 37 Pannendienstfahrzeugen. Heute zählt der ARBÖ landesweit etwa 420.000 Mitglieder, denen mit Beratung, Information und technischer Betreuung geholfen wird. Der ARBÖ verfügt über 90 Prüfzentren, 200 Pannen- und Abschleppfahrzeuge und beschäftigt über 500 MitarbeiterInnen. Die Zentrale des ARBÖ befand sich bis 2016 in der Mariahilfer Straße, heute in unmittelbarer Nähe zum ÖGB am Johann-Böhm-Platz 1 in der Leopoldstadt.
Publikation: Freie Fahrt. Das Klubjournal des ARBÖ, 1961 – laufend
Literatur: Auto-, Motor- und Radfahrerbund Österreichs: 75 Jahre ARBÖ, 1974