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Aktuelle Seite: „Die Leiden Wiens übersteigen alles Maß.“
0153 | 2. JUNI 2024    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Die Leiden Wiens übersteigen alles Maß.“

Nach dem Zerfall der Habs­burgermonarchie verschlechtert sich die ohnedies prekäre Versorgungslage der Wiener Bevölkerung zusehends, denn nun bleiben auch die Lebensmittellieferungen aus Böhmen, Mähren und Ungarn aus. Der Hunger wird zu einem festen Bestandteil des Alltags und der strenge Winter 1918/19 fordert zahlreiche Todesopfer, vor allem unter den Kindern. Die Folge sind Demonstrationen und Hungerkrawalle.

Um der notleidenden Bevölkerung zu helfen, aber auch um die politische Situation zu stabilisieren, liefern internationale Hilfsorga­nisationen Lebens­mittel und Kleidung. Bald darauf engagiert sich auch die vom späteren Präsidenten Herbert Hoover geleitete amerikanische Ernährungshilfe (American Relief Adminis­tration – ARA).

Unterernährt und vernachlässigt

Die ernährungswissenschaftliche Grundlage für die Ausspeisungen liefert der Kinderarzt Clemens von Pirquet mit der von ihm entwickelten Pelidisi-Formel, die sich aus Körpersitzhöhe und -gewicht ergibt. Erschreckendes Ergebnis: Die meisten Wiener Kinder befinden sich in einem bedenklichen Zustand, viele gelten nach der vierstufigen Skala als unterernährt. In den Arbeiterbezirken ist die Lage besonders dramatisch: Pirquet diagnostiziert bei 93 Prozent der untersuchten Kinder Mangel­erscheinungen und Unterernährung.

Am 11. Mai 1919 meldet die Arbeiter-Zeitung, dass die Hilfsaktion der Amerikaner 30.000 Wiener Kindern über zwei Monate hindurch täglich eine kräftige Mittagsmahlzeit zukommen lassen werde – allerdings zählt die ehemals glänzende Hauptstadt eine Viertelmillion Schulkinder, von denen die Hälfte unterernährt und hilfsbedürftig ist.

Vermehrt sollen Kinder auch in Ferienlager oder ins Ausland – etwa in die Schweiz, die Niederlande oder nach Schweden – verschickt werden. Außerdem ergeht der Aufruf an wohlhabende Familien, Pflegekinder mit in die Sommerfrische zu nehmen. Ein Problem dabei sei allerdings die Tatsache, dass durch den Seifenmangel und die allgemeine Vernachlässigung viele Kinder von Ungeziefer befallen wären.

„Ohne Feierlichkeit“

Die ersten Ausspeisungen starten am 15. Mai 1919 in zwei Küchen in Meidling und in der Brigittenau, in denen bis zu 3.000 Mahlzeiten täglich serviert werden. Ihre Inbetrieb­nahme erfolgt, wie das Neue Wiener Tagblatt tags darauf vermeldet, „ohne Feierlichkeit“. In der geräumigen Küche stehen zwölf Kochkessel, deren jeder 300 Liter faßt, und außerdem zwei mächtige Gasherde für Back- und Bratzwecke.

Täglich sollen hier in mehreren Schichten 1.500 bis 2.000 Kinder verköstigt werden und schon bald würde in jedem Wiener Bezirk eine solche Stelle eingerichtet. Beim ersten Mahl gab es gestern eine recht gute Einbrennsuppe und ausgezeichneten Milchreis.

Unter den Kleinen befanden sich nur ganz wenige, die in halbwegs gutem Ernährungszustande sind. […] Dr. Geist [von der amerik. Lebensmittelaktion] zeigte sich […] von der fast durchweg zu beobachtenden starken Zurückgebliebenheit im Wachstum, welche Zehn- und Zwölfjährige oft wie Sechsjährige erscheinen läßt, auf das tiefste ergriffen…

Am 18. Mai erscheint in der Neuen Freien Presse eine Reportage der von Karl Kraus während des Krieges vielgeschmähten Alice Schalek: Glückliches Amerika! Nur mit edlen, wirklichen Nährstoffen, mit Kondensmilch, Zucker, Kakao, Fleisch, Mehl, Reis und Fett wird gekocht […] Heute gibt’s außer Suppe und Brot 100 Gramm schlohweißer Nockerln, die geradezu in Fett schwimmen, mit 200 Gramm Zwiebeltunke und morgen Sträußelkuchen und Kakao. Viele Kinder seien allerdings viel zu unterernährt, „um ausgelassen zu sein“, und etliche hätten in den letzten Jahren „das Essen verlernt“.

Sodann trug die Tochter des Stadtrates Doktor Scheu, Liesel Scheu, ein englisches Begrüßungsgedicht vor. 

Eine arme Stadt

Die erste offizielle Eröffnung einer Ausspeisungsstelle findet, „dem Ernste der Zeit entsprechend“, erst am 2. Juni vor dem ‚Stöckl‘ des Augartenpalais statt. Anwesend sind Präsident Karl Seitz und Vertreter der Stadt­verwaltung. Die Dankesrede hält Vizebürger­meister Max Winter: Wir sind eine arme Stadt geworden, die ihre halbe Million Kinder nicht mehr ernähren kann. Wien ist arm geworden, aber wir wünschen nicht als ein Volk der Bettler gewertet zu werden.

Die Hilfsaktion der ARA ist zunächst auf drei Monate limitiert. Bis Mitte Mai, so das Amtsblatt, seien 3.853 Tonnen Lebensmittel nach Österreich verschifft worden und zum Teil bereits eingetroffen: 52 t Kakao, 425 t Zucker, 900 t Kondens­milch, 1.425 t weißes Mehl, 410 t Erbsen und Bohnen, 225 t Reis, 18 t Rindfleisch, 110 t Schweinefleisch, 40 t Speck, 30 t Fett und 15 t Lebertran. Diese Mengen würden ausreichen, um während der Sommermonate täglich 12.300 Kinder zu verköstigen.

Nach wenigen Wochen sind bereits mehr als zwei Dutzend Ausgabestellen in Betrieb, zahlreiche weitere in Planung. Im damaligen 21. Bezirk seien gleich mehrere geplant, wegen der großen Ausdehnung erweise sich die Umsetzung jedoch als schwierig.

Auch Mütter, Jugendliche und Studenten

Insgesamt sollen im Laufe des Monats Mai bis zu 20.000 schulpflichtige Kinder erfasst werden, außerdem 1.000 stillende Mütter, 2.000 Kleinkinder und 7.000 Kindergarten­kinder, 5.000 Jugend­liche in Lehrlings- und Jugendheimen sowie Waisenhäuser und Kinderspitäler. Schlussendlich kommen auch 3.000 Studierende in den Genuss eines Frühstücks, bestehend aus Milchschokolade und Weißbrot, das im Restaurant Kaiserhof beim Rathaus ausgegeben wird.

Dass bei dieser organisatorischen Herausforderung nicht alles reibungslos funktioniert, ist kein Wunder. So etwa steht die Schönbrunner Schlossküche, die 4.000 Kinder zu versorgen hat, in der Kritik, weil die Küchenleiterin offenbar nicht in der Lage sei, einen Unterschied zwischen dem Bedarf eines Säuglings und dem eines „baumlangen Gymnasiasten“ zu machen. Überhaupt lasse man dort die Milchspesen für die Kleinen gerne anbrennen, sodass die Kinder den halbgaren harten Reis essen müssen, obwohl ausgezeichnetes Material zur Verfügung stehe, kurz, so die Reichspost in ihrem Bericht vom 24. Juli, es zeige sich der Mangel der Mädchenfortbildung in den letzten Jahren.

Was haben sie aus Wien gemacht?

Die katastrophale Notlage in Wien alarmiert auch das Ausland. Am 17. Juni berichtet das Berner Tagblatt von einem Lichtbildvortrag über den Hunger in Wien: Wir sehen siebenjährige Kinder, die kaum die Größe von Dreijährigen haben, wir sehen die grauenhaften Erscheinungen der armen Kinder mit den hoffnungslos verkrümmten Beinen, den entsetzlichen aufgetriebenen Bäuchen. Wir sehen die alten Weiber, die Kehrichtkübeln nach etwas Eßbarem durchwühlen, wir sehen die feuchten, licht- und luftlosen Kellergelasse ohne ein Stück Hausrat oder auch nur Bettzeuge, in dem ganze Familien hausen.

Auch die Zahlen der Statistik sprechen Bände: 1918 ist die Zahl der Sterbefälle in Wien von 32.000 vor dem Krieg auf über 50.000 gestiegen, die Kindersterblichkeit von 2.828 zu Kriegsbeginn auf 4.437 zu Kriegsende. Lag das Verhältnis von Lebendgeburten zu Todesfällen 1911 noch bei etwa 41.000 zu 33.000, so haben sich diese Zahlen 1918 mit 19.000 zu 51.000 ins Gegenteil verkehrt.

Im Juli verabreicht die ARA bereits täglich eine Mahlzeit an 100.000 Kinder in 77 Ausspeisestellen und zahlreichen weiteren Anstalten. Da jedoch die Zahl der Bedürftigen immer noch weit höher liege, müssen die bisher Verköstigten „abgelöst“ werden. Die Auswahl der Auszuscheidenden erfolgt durch eine ärztliche Untersuchung.

Das Schlimmste verhindert

Die zunächst auf drei Monate befristete Aktion muss über den Sommer hinaus fortgeführt werden, denn die Angst vor dem nächsten Hungerwinter geht um. Tatsächlich ist der Winter 1919/20 bitterkalt, die Temperaturen bleiben fast permanent unter dem Gefrierpunkt. Eine warme Mahlzeit am Tag wird für viele Kinder zur Überlebensfrage und ohne die Kinderhilfsaktion der ARA wäre die Versorgung in Wien zusammengebrochen.

Die Stadt Wien erhält dabei mehr als die Hälfte der Nahrungshilfe, je rund 15 Prozent gehen an die drei großen Bundesländer im Osten des Landes. Der Westen Österreichs kann sich größtenteils selbst ernähren oder wird von der nahen Schweiz unterstützt.

Ab 1921 kann sich die Amerikanische Kinderhilfsaktion allmählich aus Österreich zurückziehen; 1923/24 stellt sie ihre Aktivitäten ganz ein. Die österreichische Regierung beschließt deren Weiterführung, nun unter dem Namen „Amerikanisch-Österreichisches Hilfswerk“. Mit Hilfe der britischen Society of Friends sowie Unterstützung aus den Niederlanden, der Schweiz und Schweden können Kleidung, Schuhe, aber auch Lebensmittel angekauft und verteilt werden.

Die Hilfsaktion der ARA, die im Übrigen nicht nur Österreich zugutekommt, kann ein Massensterben der durch den Krieg und die Spanische Grippe geschwächten Bevölkerung verhindern und rettet einem großen Teil der um 1910 geborenen Generation im Osten Österreichs das Leben.

Literatur: Friedrich Reischl, Wiens Kinder und Amerika. Die amerikanische Kinderhilfsaktion 1919, 1920.

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