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1889, im Jahr der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, organisieren sich erstmals auch Studierende, die mit den Zielen der jungen Arbeiterbewegung sympathisieren. Der erste „Österreichische Studentenverein“ wird allerdings bereits nach kurzer Zeit polizeilich aufgelöst.
Im September 1893 schließen sich zwei linke Diskussionszirkel, der „Lese- und Diskutierklub Veritas“ und der „Heiligen-Leopold-Kreis“, benannt nach einem Leopoldstädter Gasthaus, zur sozialistischen Studierendenorganisation „Freie Vereinigung“ zusammen. Obmann ist Max Adler. In seinem Artikel „Zur Frage der Organisation des Proletariats der Intelligenz“, der in der Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie Die Neue Zeit (Jg. XIII/1, 1894/95) erscheint, definiert Adler die Studierendenorganisationen innerhalb der sozialistischen Bewegung allerdings eher als „Bildungsstätten für den Sozialismus“ und nicht als „Kampfesorganisationen“.
Daß diese Agitation aber sehr wichtig ist, wird man nicht bestreiten können, wenn man bedenkt, daß die Studenten ja zum größten Theile das Material für die geistigen Berufe liefern.Max Adler
Die Zusammensetzung der Mitglieder ist von Anfang an ziemlich heterogen. Zwei Gruppen dominieren: jüdische Studentinnen und Studenten mit nichtzionistischer Einstellung wie Käthe Leichter, Rudolf Hilferding oder Alfred Adler, und antiklerikale Liberale sowie Vertreter der nationalbewussten „Aufsteiger-Intelligenz“ wie Karl Renner oder Engelbert Pernerstorfer. Die „Freie Vereinigung“ engagiert sich v.a. für die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts und, auf universitärer Ebene, für die Errichtung eines offiziellen und aus gewählten Mitgliedern bestehenden Hochschulausschusses, vergleichbar mit der späteren Hochschülerschaft.
1908 gründet Adolf Schärf außerdem eine, zunächst illegale, sozialdemokratisch ausgerichtete Mittelschülervereinigung.
Das Milieu, in dem sich die linken Studierenden bewegen müssen, ist stark von der Übermacht der deutschnationalen Verbindungen geprägt. Hier gilt es, Flagge zu zeigen. 1909 ändert die Organisation ihren Namen in „Freie Vereinigung sozialistischer Studenten“. Ihre Bedeutung als „Kaderschmiede“ für die junge Partei und ihre Arbeiterbildungsvereine wächst.
Der Erste Weltkrieg, die Einberufung vieler Studenten zum Militär und die anfängliche Kriegseuphorie bedeuten eine schmerzhafte Zäsur. Erst mit Fortdauer des Krieges wächst auch innerhalb der „Freien Vereinigung sozialistischer Studenten“ die Opposition gegen den Krieg.
Nach dem Attentat Friedrich Adlers auf Ministerpräsident Stürgkh am 21. Oktober 1916 führt die Polizei Hausdurchsuchungen im Vereinslokal der „Freien Vereinigung sozialistischer Studenten“ durch und sperrt dieses vorübergehend. Der aufsehenerregende Prozess gegen Friedrich Adler befeuert die Antikriegsstimmung innerhalb der Sozialdemokratie und damit auch innerhalb der linken Studentenschaft.
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Im Jännerstreik 1918 sind auch zahlreiche Mitglieder der sozialistischen Studentenorganisation involviert. Die „Freie Vereinigung sozialistischer Studenten“ wird behördlich aufgelöst, wichtige Funktionäre wie der spätere kommunistische Politiker Franz Koritschoner werden verhaftet.
Käthe Leichter schreibt 1929 rückblickend in der Sozialistischen Akademischen Rundschau: Es kam der Jännerstreik, Hoffnung auf Frieden, Hoffnung auf Revolution. Sozialistische Studenten saßen in den illegalen Aktionskomitees der Linksradikalen, verfassten Streikaufrufe, trugen sie heimlich aus, sprachen in Streikversammlungen. [...] Und weil wohl wenige soviel jugendliche Begeisterung, soviel glühende Hoffnung an die Bewegung geknüpft hatten, war der Katzenjammer nach dem Zusammenbruch des Streiks umso größer. [...] Die Vereinigung war aufgelöst [...] – die Mitglieder entmutigt.
Innerhalb der linken Studenten bilden sich rasch zwei neue Fraktionen heraus: Die „linken“ Verfechter der Bildungsarbeit, die für eine Beibehaltung der Lehrtätigkeit in den Wiener Bezirksorganisationen eintreten, und die „Linksradikalen“, die auf ein aktives Mitwirken der Studenten an den revolutionären Aktivitäten der Arbeiter und Soldaten drängen. Der „rechte“ Flügel der SDAP ist an den Universitäten kaum noch vertreten.
Nach der Gründung der Republik am 12. November 1918 rufen Max Adler, Käthe Pick, die spätere Leichter, und Otto Leichter am 21. November 1918 die „Sozialdemokratische Studenten- und Akademikervereinigung“ (SSAV) ins Leben. Aus der „Freien Vereinigung sozialistischer Studenten“ ist unterdessen durch den Übertritt des überwiegend „linksradikalen“ Vorstandes zur Kommunistischen Partei eine „feindliche“ Studentenorganisation geworden.
In der Ersten Republik bilden die zerstrittenen und zersplitterten linken Studierenden im Vergleich zu den reaktionären deutschnationalen und konservativ-klerikalen Verbänden eine verschwindend kleine Minderheit. Der Versuch der SSAV, die Universität mit der Wahl von Arbeiterräten und der Forderung nach einem allgemeinen Hochschulausschuss zu demokratisieren, scheitert – nicht zuletzt auch an der Brutalität, mit der rechte Studenten gewaltsam gegen linke und jüdische Kommilitonen vorgehen.
1921 schließen sich die Wiener und die Grazer Organisationen zu einem gesamtösterreichischen Verband zusammen. Eine ihrer Hauptforderungen ist die „Unentgeltlichkeit des Studiums und Gewährleistung eines Lebendunterhaltes während der Studien durch den Staat“, so die Arbeiter-Zeitung.
Aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage kommt es im Februar 1923 zur Gründung der „Wirtschaftshilfe der Arbeiterstudenten Österreichs“ (WIHAST). Im selben Jahr bezieht der SSAV auf Vermittlung von Julius Tandler ein neues Verbandshaus in der D’Orsaygasse 5, in dem auch ein Studentenheim, eine Mensa und ein Studiersaal eingerichtet sind. Der SSAV verzeichnet einen erheblichen Mitgliederzuwachs, und auch die SDAP zeigt nun ein verstärktes Interesse für die politischen Entwicklungen an den Hochschulen. Im Gegenzug verlangt die Partei eine rigorose Abgrenzung gegenüber der kommunistischen „Freien Vereinigung sozialistischer Studenten“.
Im Februar 1924 kommt es am Delegiertentag der SSAV schließlich zur organisatorischen Zusammenfassung aller sozialdemokratischer Studenten, Fachvereine, Bezirksgruppen, Sport- und Kulturorganisationen zum „Verband sozialistischer Studenten Österreichs“ (VSStÖ).
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„Die Maifeier in Wien: Massenkundgebung der sozialdemokratischen Studenten auf der Rampe der Wiener Universität.“ Das Interessante Blatt, 1924
Ab 1925 nehmen die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen den studentischen Gruppen an der Universität zu, weshalb der Vorlesungsbetrieb oft tagelang eingestellt werden muss. Jüdische und sozialistische Studierende und Professoren sehen sich massiven Repressalien und Störversuchen von Seiten der deutschnationalen Burschenschaften ausgesetzt, die akademischen Behörden reagieren nur halbherzig, vielfach stellen sie sich offen auf die Seite der Randalierer.
Derweil verschärft sich innerhalb der sozialdemokratischen Studenten der Gegensatz zwischen den linken „Gesinnungssozialisten“ zumeist bürgerlicher und nicht selten jüdischer Herkunft und den „Interessensozialisten“ proletarischer Herkunft.
Der Vertreter des linken Flügels, die von ihren Gegnern abschätzig „Talmudisten des Marxismus“ genannt werden, stehen Friedrich Adler, Otto und Helene Bauer, Max Adler und Käthe Leichter nahe, die sogenannten Parteitreuen, zu denen auch die meisten Studenten der WIHAST, die „D’Orsayisten“ zählen, finden sich im Lager von Karl Renner, Adolf Schärf und Julius Tandler. Wegen angeblicher Sympathien mit der Kommunistischen Partei werden einige Studierende aus dem WIHAST-Heim verwiesen und wenden sich in der Folge tatsächlich der KPÖ zu.
Die Nazi überfielen besonders Frauen, die sie blutig schlugen. Österreichisches Abendblatt
Zu Beginn der 1930er Jahre zählt die sozialdemokratische Studentenorganisation mehr als 2.000 Mitglieder. An den Universitäten nehmen die gewalttätigen Ausschreitungen rechter Studenten stetig zu. Besonders betroffen ist auch das Anatomische Institut von Professor Julius Tandler. Zu den schlimmsten Ausschreitungen kommt es 1933. Nach einer regelrechten Saalschlacht am 17. März findet ein zweiter Überfall mit Verletzten am 9. Mai statt. Tags darauf berichtet die Arbeiter-Zeitung über den „Naziüberfall im Anatomischen Institut“: Schwerbewaffnet drangen die braunen Banditen in großer Überzahl in Vorlesungen ein und fielen über die lernenden Studenten mit viehischer Brutalität her. Am ärgsten trieben sie es im Anatomischen Institut. Mit Totschlägern, Stahlruten und Gummiknütteln [sic!] schlugen sie die andersdenkenden Studenten blutig und verletzten viele von ihnen schwer.
Der VSStÖ und die Sozialdemokratische Partei haben dem nur wenig entgegenzusetzen. Als der amtierende Rektor Wenzel Gleisbach, ein bekennender Nationalsozialist, 1930 de facto einen Arierparagraphen erlässt, bringen die sozialistischen Studierenden eine Klage beim Verfassungsgerichtshof ein, der die verfassungswidrige Studienordnung im Sommer 1931 aus formaljuristischen Gründen aufhebt – was von den rechten Studierenden mit neuen Krawallen quittiert wird.
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Das Anatomische Institut, 1933
Unmittelbar nach den Februarkämpfen 1934 wird der VSStÖ aufgelöst, sein Vermögen beschlagnahmt. Unliebsame Lehrende werden aus dem Vorlesungsbetrieb, systemkritische Lehrbücher aus den Bibliotheksbeständen entfernt. Die in Freiheit verbliebenen linken Studenten schließen sich Anfang 1935 nach dem Prinzip der Einheitsfront mit Kommunisten, Revolutionären Sozialisten und Parteilosen zum „Geeinten Roten Studentenverband“ (GRSV) zusammen.
Die „Revolutionär-Sozialistischen Studierenden“ (RSS), die auch die illegale und unter der Hand vertriebene „Rote Vorhut“ herausgeben, beenden die kurzzeitige Zusammenarbeit mit den Kommunisten angesichts der Moskauer Schauprozesse bereits 1936 wieder.
Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich und der Emigration der „rassisch“ und politisch verfolgten Mitglieder, den zahlreichen Verhaftungen und der Einziehung zum Militärdienst hört die Organisation der „Roten Studenten“ auf, zu existieren.
Der Verband Sozialistischer Studenten Österreichs (VSStÖ) wird im Juli 1946 formell neu gegründet.
Literatur
Sigrid Nitsch, Die Entwicklung des allgemeinpolitischen Vertretungsanspruches innerhalb des Verbandes Sozialistischer StudentInnen Österreichs (VSStÖ) in Wien im Zeitraum von 1965 bis 1973, 2004; Wolfgang Speiser, Die sozialistischen Studenten Wiens 1927–1938, 1986; Marie Tidl, Die Roten Studenten. Dokumente und Erinnerungen 1938–1945, 1976; Helge Zoitl, „Student kommt von Studieren!“ Zur Geschichte der sozialdemokratischen Studentenbewegung in Wien, 1992.