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Aktuelle Seite: Die „wissenschaftliche Revue“
0083 | 27. SEPTEMBER 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Die „wissen­schaftliche Revue“


Am 26. September 1907 kündigt der Leitartikel der Arbeiter-Zeitungaus der Feder Victor Adlers „Neue Aufgaben" an. Der Artikel ist der morgen erscheinenden ersten Nummer unserer wissenschaftlichen Revue mit dem programmatischen Titel Der Kampf" entnommen.

Lange geplant und zögernd nach allen Seiten erwogen, wurde sie endlich gewagt, da wir es nicht länger entbehren können, einen Boden für Erörterungen zu haben, den uns unsere Presse, die der brennenden Not des Tages dienen muß, nicht bieten kann. „Der Kampf“, so Adler weiter, wird eine Stätte sein, wo die Kampfziele und Kampfmethoden der Partei in gemeinsamer Erörterung erarbeitet werden, ein Organ der Selbstverständigung, ein Boden für unbefangene Meinungsäußerung, für den Austausch von Gedanken, eine Werkstatt für die innere Arbeit der Partei an sich selbst.

Wir haben kein Bedürfnis,
eine Arena für theoretische Turniere zu eröffnen...

Die Gründung der Zeitschrift, die von Otto BauerKarl Renner und Adolf Braun herausgegeben wird, erfolgt nur wenige Monate nach dem guten Abschneiden der Sozialdemokratischen Arbeiter­partei bei den Reichsratswahlen im Mai 1907. Bei diesen ersten Wahlen, die nach dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Mehrheitswahlrecht für männliche Staatsbürger ab 24 Jahren durchgeführt worden waren, avancierte die Sozialdemokratie mit 87 von 516 Abgeordneten zur zweitstärksten Fraktion nach den Christlichsozialen und Konservativen.

An Problemen ist da kein Mangel.

Für Victor Adler ist klar, dass die österreichische Sozialdemokratie nunmehr in einen neuen Abschnitt ihrer Entwicklung eingetreten ist, der noch weit größere Anforderungen an ihre Leistungsfähigkeit stellen wird, als der eben erst überwundene. „Staatserhaltend“ wolle man nicht sein, denn an diesem Staate ist verteufelt wenig zu erhalten; aber staatsbildend müsse man sein. Deshalb benötige die Partei ein theoretisches Diskussionsorgan zu Fragen der politischen Theorie, der Außenpolitik und des alles überschattenden Nationalitätenkonflikts.

Nach ihrer Gründung am Hainfelder Parteitag zum Jahreswechsel 1888/89 hatte die Partei bereits einmal ein solches Diskussions­forum besessen, die „Sozialdemo­kratische Monatsschrift“, die allerdings bereits Ende 1890 wieder eingestellt werden musste. Nun ist man besser vorbereitet. „Der Kampf“ erscheint monatlich in einer Auflage von etwa 4.000 Stück, verantwortlicher Redakteur ist bis 1914 Mitherausgeber Otto Bauer.

Bauer schrieb ungefähr eineinhalb Stunden an seinem Artikel, meist mit der Hand, manchmal diktierte er ein druckreifes Manuskript. Dann öffnete er die Tür seines Zimmers, aus dem die Rauchschwaden von vielleicht zwanzig Zigaretten quollen, die er inzwischen geraucht hatte. Nun begann für ihn sozusagen das gesellschaftliche Leben. Er ging zu Austerlitz in dessen Zimmer und sprach mit ihm über Politik, Literatur, über interne Parteifragen und anderes… Gegen zwölf oder halb ein Uhr nachts erhielt er die Korrekturen seines Artikels […] Danach ließ er sich die deutschen, französischen und englischen Blätter bringen, die er bis etwa zwei Uhr las. Dann war für ihn der Arbeitstag beendet. Um acht Uhr früh begann er wieder.Otto Leichter, Otto Bauer. Tragödie oder Triumph, 1970

Ein tiefer Riss geht durch die Internationale.

Im Ersten Weltkrieg gestaltet Friedrich Adler den Kampf zum Sprachrohr der Linksopposition gegen die Kriegspolitik. Nach Adlers Attentat auf Ministerpräsident Stürgkh im Oktober 1916 übernimmt der Reichsrats­abgeordnete Wilhelm Ellenbogen die Redaktion und adaptiert das Blatt zu einer Stätte der Diskussion über die Kriegsprobleme des internationalen Sozialismus.

Zu Beginn der Ersten Republik verantworten Helene Bauer, Julius Braunthal und Oscar Pollak die redaktionelle Leitung, ab Mai 1919 übernimmt wieder der mittlerweile amnestierte Friedrich Adler. „Der Kampf“ entwickelt sich zum wichtigsten Forum für inner­parteiliche Diskussionen und zeichnet sich durch politik- und sozialwissenschaftliche Beiträge auf höchstem Niveau aus. Die Liste der Autoren liest sich wie das „Who’s who“ der österreichischen Linken. Unter anderem schreiben hier Alfred Adler, Friedrich Adler, Max Adler, Victor Adler, Fritz Austerlitz, Helene Bauer, Otto Bauer, Adolf Braun, Ludwig Bretschneider, Robert Danneberg, Helene Deutsch, Julius Deutsch, Matthias Eldersch, Wilhelm Ellenbogen, Ernst Fischer, Emmy Freundlich, Josef K. Friedjung, Stefan Großmann, Jacques Hannak, Anton Hueber, Benedikt Kautsky, Karl Kautsky, Käthe Leichter, Otto Leichter, Karl Leuthner, Otto Neurath, Oda Olberg, Engelbert Pernerstorfer, Oskar Pollak, Adelheid Popp, Karl Renner, Adolf Schärf, Therese Schlesinger-Eckstein, Karl Seitz, Franz Siegel, Leopold Winarsky, Max Winter und Hans Zeisl.

Inhaltliche Sträuße werden öffentlich ausgetragen. Und sei es nur um die Frage, ob Österreich eine „Bourgeoisrepublik“ oder eine „kleinbürgerlich-bäuerliche Republik“ ist…

Was nun?

Nach dem Februar 1934 wird „Der Kampf“ vom Auslandsbüro der österreichischen Sozialisten im tschechoslowakischen Exil weitergeführt und erscheint ab November 1934 mit dem Untertitel „Internationale Revue". Mit der Übersiedlung Otto Bauers nach Paris verlagert sich auch der Erscheinungsort. Ab dem 2. Juni 1938 lautet der Titel des vierzehntäglich erscheinenden Blattes nun „Der Sozialistische Kampf. La Lutte Socialiste“. Es ist ein Neuanfang. Wohl nicht zufällig wählt Bauer den Titel des allerersten programmatischen Artikels: „Neue Aufgaben“. Unsere Zeitschrift will die im Auslande lebenden österreichischen Sozialisten zu enger geistiger und politischer Gemeinschaft verknüpfen.

Am 4. Juli 1938 erliegt Otto Bauer in Paris einem Herzinfarkt. Die Zeitschrift „Der Sozialistische Kampf“ erscheint noch bis zum 1. Juni 1940. In dieser letzten Nummer findet sich, ganz am Ende des Blattes, ein kurzer Nachruf auf den im KZ Buchenwald ermordeten Otto Felix Kanitz. Das Urteil der Genossen fällt ungemein hart und wenig gerecht aus: Er ist nicht für seine Gesinnung gestorben, aber er starb doch, weil er einmal ein Sozialist gewesen war.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erscheint ab 1946 die „Zukunft“ als Nachfolgeblatt.

PRESSE UND PROLETARIAT

Sozialdemokratische Zeitungen im Roten Wien

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