Vom 12. bis 14. Juli 1929 findet in Wien das größte Jugendtreffen in der Geschichte der sozialistischen Bewegung statt.
Anlässlich der ersten internationalen Konferenz der sozialistischen Jugendorganisationen, die am 24. August 1907 im Anschluss an den Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart stattfindet, gründen 20 Jugendvertreter aus 13 Ländern die Sozialistische Jugendinternationale (SJI); ihr erster Vorsitzender ist Karl Liebknecht.
Bis 1914 befindet sich das internationale Sekretariat der Organisation in Wien, bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird das Büro nach Zürich verlegt. Die Jugendinternationale tritt gegen den Krieg und die „Burgfriedenspolitik“ der europäischen Sozialdemokratien ein und steht in engem Kontakt mit der „Zimmerwalder Linken“.
Nach der Gründung der Kommunistischen Internationale in Moskau im Jahr 1919 und der Spaltung der internationalen Arbeiter- und damit auch deren Jugendbewegung, schließen sich die verbliebenen sozialistischen Jugendverbindungen 1923 zur Sozialistischen Jugendinternationale zusammen.
Beim Zweiten Internationalen Sozialistischen Jugendkongress in Amsterdam beschließen die Delegierten im Mai 1926, dass der nächste Kongress und das Zweite Internationale Sozialistische Jugendtreffen 1929 in Wien stattfinden sollen. Die Wahl fällt auch deshalb auf Wien, „weil dieser Ort zum Symbol sozialistischer Aufbauarbeit geworden ist“, so der Vorsitzende der Sozialistischen Jugendinternationale Karl Heinz in der Festschrift 1929.
Die Vorbereitungen laufen erst im Herbst 1928 so richtig an – und zum Jahreswechsel 1928/29 wird auch die Werbetrommel gerührt. Die illustrierte sozialdemokratische Zeitschrift „Volk und Zeit“ in Berlin veröffentlicht eine „Bilderseite von Wien“, um „die Agitation in Deutschland“ zu fördern.
Erfreuliche Nachrichten gibt es von Finanzstadtrat Hugo Breitner: Die Wiener öffentliche Küchenbetriebsgesellschaft (Wök) wird bei der Ausspeisung der Teilnehmer „weitestgehend“ entgegenkommen, und Stadtrat Georg Emmerling hat eine Straßenbahnkarte „zum Ausnahmspreis von einem Schilling“ zugesagt.
Hinter den Kulissen verhandeln die Organisatoren mit den Behörden darüber, auf welcher Grundlage die anreisenden Jugendlichen die Grenzen passieren können. Die Zollbehörden erklären sich bereit, auch die „zu Rad oder mit dem Paddelboot“ Eintreffenden einreisen zu lassen und die Inhaber der Teilnehmerkarte erhalten eine Ermäßigung von 25 Prozent bei den Österreichischen Bundesbahnen.
In den Wochen vor der Veranstaltung arbeiten mehr als 100 junge Helfer an der Organisation. „Es gibt […] eine Straßenbahn-, eine Bundesbahnabteilung, daneben die Büros des Wohnungsausschusses, des Verpflegungsausschusses, des Finanz- und Preßausschusses. […] Die Holländer haben gar ein kleines sozusagen fahrbares Sekretariat mit Schreibmaschine und Vervielfältigungsapparat mitgebracht“, berichtet die Arbeiter-Zeitungam 10. Juli 1929.
Im Büro des Jugendtreffens befindet sich außerdem eine Geldwechselstelle der Arbeiterbank. Um 1,50 Schilling erhält man hier auch die Teilnehmerhefte samt Festabzeichen, der Festschrift, dem Führer und den Karten für sämtliche Veranstaltungen mit Ausnahme der künstlerischen Feiern.
Der Führer für die Teilnehmer enthält das vollständige Programm, einen Stadtplan und viele praktische Informationen: Noch gilt in Wien der Linksverkehr, Radialstraßen seien an Straßentafeln und Hausnummern in viereckiger Form zu erkennen, alle anderen Straßen an ovalen Tafeln. Wer verloren geht, möge sich an die Straßenbahnschaffner wenden, die „wie alle Wiener Arbeiter zum größten Teil unserer Partei angehören“.
Verantwortlich für das „Expedieren der Teilnehmerkarten“ ist übrigens der junge Bruno Kreisky, der sich später erinnern wird: Meinen politischen Aufstieg verdanke ich sicherlich zum Teil dem Umstand, daß ich im Frühjahr 1929, nach der Matura, viel Zeit hatte und mich folglich […] zur Verfügung stellen konnte […]. Damals lernte ich die wichtigsten europäischen Jugendführer kennen, aus denen später zum Teil bedeutende Politiker wurden. (Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten, 1986)
So wie sich der fromme Katholik nach Jerusalem, der fromme Mohammedaner nach Mekka und Medina hingezogen fühlt, […] so rüstet die internationale Jugend zu dieser Pilgerfahrt nach dem roten Wien.Felix Kanitz, Kinderland, Juli 1929
Bald trudeln die ersten Einzelreisenden ein. Für Aufsehen sorgen zwei Schwedinnen in Tracht, die zu Fuß nach Wien gewandert sind. Zwei junge Dänen, die im April mit dem Fahrrad aufbrachen und „noch den kleinen Umweg über Paris gemacht haben“, erreichen ihr Ziel nach über 3.000 Kilometern Fahrt.
Aus Deutschland machen sich insgesamt 16 Sonderzüge auf den Weg, einige davon nach Passau: Von dort „werden […] zwei Donaudampfer 1100 Jugendliche die Donau abwärts nach Wien bringen“, schreibt „Der junge Arbeiter“am 3. Juli.
Am 9. Juli treffen 80 junge Karlsbader mit dem Postschiff bei der Reichsbrücke ein. Tags darauf erreicht ein Dutzend Ulmer Wien per Paddelboot; ein Flugzeug bringt Gäste aus England. „Wir waren kaum zwölf Stunden in Wien und wußten schon, daß ein Sozialist in Wien so zu Hause ist wie ein Regenschirm in Manchester“, erinnert sich W. M. Halsall aus Southport.
Der Großteil der Gäste kommt am 11. Juli mit Sonderzügen auf dem West-, dem Nord- und dem Franz-Josefs-Bahnhof an. „Seit einem Jahr und länger haben sie gespart für diesen Tag. […] Sie haben Groschen auf Groschen, Pfennig auf Pfennig, Centime auf Centime zurückgelegt. […] jetzt sind sie da!“, jubelt die Arbeiter-Zeitung. Unter den Angereisten sind auch 30 „Arbeiterpioniere aus Palästina“. „Es sind viele unter ihnen, die noch vor wenigen Jahren […] in einer sozialistischen Jugendorganisation Mittel- oder Osteuropas mitgearbeitet haben. Die heiße Sonne Palästinas hat sie verbrannt, sie sehen heute alle fremdartig dunkel aus, orientalisch mit ihren weißen, turbanartigen Kopftüchern“, schreibt die Arbeiter-Zeitung.
Bereits im April 1929 hat die Arbeiter-Zeitung einen Appell des Wiener Parteivorstandes an alle Genossinnen und Genossen veröffentlicht – vor allem an jene, die in Gemeindebauten wohnen –, möglichst viele Quartiere bereitzustellen.
Anfang Juni berichtet der Wohnungsausschuss, dass 7.290 Betten und 2.810 Strohlager zur Verfügung stünden, schlussendlich sind es etwa 18.000 Privatquartiere. Grundsätzlich sollen „alle Mädel aus der österreichischen Provinz“ privat untergebracht werden, der Wohnungsausschuss ersucht allerdings, „nicht ungehalten zu sein, wenn anstatt eines Mädchens […] ein Bursche zugewiesen werden“ muss.
Im Matteotti-Hof haben die Bewohner noch Möbel aus ihren Wohnungen beigestellt, damit der Trockenraum der Zentralwaschküche in einen Schlafsaal umgewandelt werden konnte.Arbeiter-Zeitung
Die organisierten Jugendlichen werden „in den großen Häuserblöcken der Gemeinde Wien“ untergebracht. In der Leopoldstadt wohnen die Bulgaren, Vertreter der jüdischen Arbeiterjugend sowie Teilnehmer aus Jugoslawien, Rumänien und Ungarn, in Margareten die Schweizer und „andere italienisch Sprechende“, in Mariahilf Belgier und Dänen, auf dem Alsergrund die Schweden, in Meidling die Finnen, Holländer, „Lettländer“ und die Gäste aus der Tschechoslowakei, und Ottakring beherbergt die Teilnehmer aus „Groß-Berlin“.
Für die 12- bis 16-jährigen Roten Falken stehen Zeltlager zur Verfügung.
Um die Verpflegung der Jugendlichen kümmert sich der Ernährungsausschuss. Gäste, die in Privatquartieren untergebracht sind, erhalten ihr Frühstück dort; für jene in Massenquartieren besteht eine Vereinbarung mit Kaffeesiedern, die ein Frühstück zum Preis von 50 Groschen anbieten.
Wer sich bis zum 20. Juni anmeldet, erhält darüber hinaus eine „organisierte Verpflegung“ von der Wiener öffentlichen Küchenbetriebsgesellschaft (Wök), bestehend aus einem Mittagessen und einem Nachtmahlpaket. „Essgeschirr und Besteck haben die Teilnehmer mitzubringen.“
In der Arbeiter-Zeitung ergeht außerdem ein Aufruf an alle Gastwirte und Kaffeesieder, den Teilnehmern „gelegentlich der Umzüge auf Verlangen unentgeltlich Wasser zu verabreichen und ihnen auch die Toiletten zur Verfügung zu stellen“.
Die Eröffnungsfeier findet am 12. Juli auf dem Heldenplatz statt. Die Begrüßungsansprache hält Otto Felix Kanitz, der die Jungen auf die Parole „Nie wieder Krieg!“ einschwört. Danach sprechen Bürgermeister Karl Seitz und der Vorsitzende des holländischen Jugendverbandes, Koos Vorrink.Als Höhepunkt wird – 15 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs – auf dem Balkon der Hofburg und zu den Klängen der „Internationale“ die Fahne der Jugendinternationale gehisst.
Im Anschluss an die Eröffnung werden Führungen durch die Stadt angeboten – Schloss Schönbrunn und das Kunsthistorische Museum können zum ermäßigten Eintrittspreis besichtigt werden. Die Touren durch das „neue Wien“ führen unter anderem zu den Wohnbauten am Margaretengürtel, zum Amalienbad, zur Wohnhausanlage Sandleiten und zum Winarsky-Hof.
Nachmittags gibt es eine Reihe von Vorträgen und Versammlungen. Im Arbeiterheim Ottakring spricht der „Finanzminister“ des Roten Wien Hugo Breitner, im Arbeiterheim Favoriten treffen sich die Esperantisten und im Volkshaus Neubau die jugendlichen Abstinenten.
Am Abend sind künstlerische Feiern angesetzt, die aufgrund des Andrangs mehrmals wiederholt werden müssen. Auf dem Programm stehen unter anderem eine „Revolutionsfeier“ im Großen Konzerthaus, ein „Frühlingsmysterium“ im Raimundtheater sowie Aufführungen des Politischen Kabaretts. „Es gibt da seit längerer Zeit ein sogenanntes ‚Politisches Kabarett‘, dessen Programm hauptsächlich von jüdischen Intellektuellen der sozialdemokratischen Partei bestritten wird“, empört sich die christlichsoziale Reichspost.
Der Samstag beginnt sportlich – mit leichtathletischen Vorkämpfen und einem Handballspiel auf der Hohen Warte. Am Vormittag stehen außerdem Vorträge über das Rote Wien und seine Leistungen auf der Tagesordnung. Karl Renner spricht über die österreichische Sozialdemokratie, Robert Danneberg über die Gemeindeverwaltung und Stadtrat Anton Weber über die Wohnbaupolitik.
Der Nachmittag steht wieder ganz im Zeichen des Sports: Im Arbeiterstrandbad finden Schwimmwettkämpfe statt, auf der Hohen Warte laden die Arbeiterradfahrer zu Radballspielen, es werden Schaukämpfe des Arbeiter Jiu-Jitsu-Klubs, Wett- und Stafettenläufe, Massenfreiübungen sowie Hand- und Fußballspiele ausgetragen.
Höhepunkt des zweiten Tages ist die Internationale Abendfeier auf der Hohen Warte und der anschließende Fackelzug. Hunderte Jugendliche marschieren auf beiden Seiten des Donaukanals in einem kilometerlangen Zug Richtung Rathaus, dem „stolzen Bollwerk des Sozialismus in Europa“.
Die Jugend marschiert, das innere Wien ist ein Meer von Musik, Gesang, von Farbe und Leben.
Der letzte Tag – es ist der 14. Juli – beginnt mit der großen internationalen Kundgebung auf dem Rathausplatz. Festredner Friedrich Adler nimmt Bezug auf das Datum als den Beginn der Französischen Revolution im Jahr 1789. Otto Bauer bedauert in seiner Rede vor allem die Abwesenheit der jungen Arbeiter Italiens: „Die Stunde wird kommen, wo auch sie über die Trümmer des gestürzten Fascismus in unsere Mitte eilen werden.“
Nach dem Absingen der Internationale setzt sich der Zug – nach Nationen geordnet – in Bewegung. „Stunden vergehen, ehe die letzten den Platz verlassen können.“ Die Route führt über die Urania, die Praterstraße und die Hauptallee bis zur Rotunde, wo das Jugendtreffen offiziell beendet wird.
Sogar die christlichsoziale Reichspost zeigt sich von der Organisation beeindruckt: „Der Inszenierungsapparat der Sozialdemokraten, immer gut bewährt, wo es sich um Massenentfaltung und Massenwirkung handelt, funktionierte auch diesmal tadellos. […] Es wäre durchaus verfehlt, den Umfang und die Bedeutung der sozialistischen Jugendbewegung zu unterschätzen“.
Der Abschlussbericht des Jugendtreffens listet alle Teilnehmer nach Nationen auf: Deutschland ist mit 12.844 Teilnehmern vertreten, Wien mit 15.500, das restliche Österreich mit 5.478, die Tschechoslowakei mit 1.240. Aus den USA und aus Großbritannien kamen je 3. Insgesamt 38.336 junge Menschen.
Ein halbes Jahrhundert später lädt die Stadt Wien vom 28. April bis zum 1. Mai 1979 zu einem Wiedersehenstreffen ein. Über 3.000 Teilnehmer von damals haben sich angemeldet – darunter 90 Schweden und 120 Mitglieder der SPD Berlin. Die bürgerlichePresse lästert bereits im Vorfeld über das „jungsozialistische Veteranentreffen“ als „Traum aller Karikaturisten“: „Jungsozialisten mit Bärten, Runzeln und Glatze treten auf.“
In seiner Begrüßung zum Wiedersehenstreffen spricht Gastgeber Bruno Kreisky allen Anwesenden aus dem Herzen: „Das Erlebnis dieser Tage hat geholfen, die Jahre der Verfolgung zu überstehen. Und man sprach von Wien überall, wo man hinkam – in der Emigration, in den Konzentrationslagern, überall, wo einander Männer und Frauen begegneten, die dabei gewesen sind.“
Eine Woche später erringt Bruno Kreisky ein letztes Mal die absolute Mehrheit.
Literatur: Festschrift, 2. Internationales Sozialistisches Jugendtreffen, 1929; Rote Jugendfahnen über Wien, 1929; Wieder im Roten Wien. Festschrift zum Wiedersehenstreffen in Wien, 1979.