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Aktuelle Seite: „Ein bedeutungsvoller Schritt“
0136 | 24. DEZEMBER 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Ein bedeutungs­voller Schritt“

Der erste Gewerkschafts-Kongreß in Oesterreich tritt Sonntag in Wien zusammen,kündigt die damals noch wöchentlich erscheinende und von „konfiszirten“ Zeilen übersäte Arbeiter-Zeitung vom 22. Dezember 1893 an. Eine lange, geduldige, mühevolle Arbeit war es, die tausend Schwierigkeiten zu überwinden, welche Unverstand und böser Wille gerade in Oesterreich der Organisation entgegensetzen.

Damit macht die Organisation der Arbeiterschaft einen entscheidenden Schritt nach vorwärts, die Gewerkschaftsbewegung tritt in eine neue Phase, in die der Zusammenfassung ihrer Kräfte.Arbeiter-Zeitung, 1893

Erste gewerkschaftliche Ortsvereine entstehen in Österreich nach der Aufhebung des Koalitionsverbotes am 7. April 1870, die Bildung überregionaler Verbände ist allerdings noch nicht gestattet. Die Gründung der Sozial­demokratischen Arbeiterpartei auf dem Parteitag von Hainfeld zum Jahres­wechsel 1888/89 gibt der Entwicklung einer landesweiten Gewerkschaftsorganisation zwar neuen Auftrieb – dennoch wird dieser Prozess noch Jahre in Anspruch nehmen.

Im Jahr 1892 meldet der Jahresbericht der Polizei, dass es in Österreich, neben einer großen Anzahl von selbständigen kleinen Gewerkschaftsvereinen, bereits zehn gewerk­schaftliche Zentralvereine gibt, im selben Jahr findet eine Versammlung von Vertretern verschiedener gewerkschaftlicher Fachvereine in Wien statt.

Dabei wird die „Provisorische Kommission der Gewerkschaften Österreichs“ eingesetzt, der sich mehr als hundert sozialdemo­kratisch orientierte „freie“ Fachvereine anschließen. Anlass ist die Einberufung eines internationalen Gewerkschaftskongresses in London, auf dem Österreich in angemessener Weise vertreten sein soll.

Zeitgleich zum britischen Gewerkschafskongress ist ein Internationaler Arbeiter­kongress in Zürich in Planung – eine problematische Entwicklung, die auf eine Spaltung zwischen „Sozialisten“ und „Nur-Gewerkschaftern“ hinauslaufen könnte.

Es gibt keinen tüchtigen Gewerkschaftler in Österreich, der nicht Sozialdemokrat wäre, und es gibt keinen Sozialdemokraten, der es nicht als seine erste Verpflichtung ansehen würde, die gewerkschaftliche Bewegung mit aller Kraft zu fördern.Arbeiter-Zeitung, 1893

Die „Provisorische Kommission“ bereitet daher den ersten österreichischen Gewerkschafts­kongress vor, der vom 24. bis zum 27. Dezember 1893 in Wien stattfindet.

Drei von 270

270 Delegierte – darunter mit Anna Boschek, Adelheid Popp und Maria Krasa auch drei Frauen – vertreten dabei 125 Länder- und 69 Wiener Gewerkschaftsvereine mit zusammen etwa 50.000 Mitgliedern; außerdem nehmen auch Vertreter ausländischer Gewerkschafts­kommissionen und der österreichischen Sozialdemokratie teil.

Ziel ist, die bis dahin in zahlreiche, nach Branchen und Regionen zersplitterten Fach­vereine zu einer einheitlichen und schlagkräftigen Dachorganisation, der Gewerkschaftskommission, später „Reichs­gewerkschaftskommission in Cisleithanien“, als zentrales Leitungs- und Koordinierungs­organ, zusammenzufassen.

In allen zu Cisleithanien gehörenden Ländern – dem nördlichen und westlichen Teil Österreich-Ungarns – werden nun gewerkschaftliche Kronland­zentralen eingerichtet, in Ober-und Niederösterreich, der Steiermark, Kärnten, in Salz­burg, Tirol und Vorarlberg, in Böhmen und Mähren, in Österreichisch-Schlesien, der Buko­wina und in Galizien.

Darüber hinaus, so der Tenor der Veranstalter, gebe es auch ein politisches Ziel, denn es reiche nicht aus, sich nur auf die Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen zu konzentrieren. Vielmehr gehe es auch darum, dass „jeder, der der Gewerkschaft angehörte, ein Genosse“ werde.

Die politische und die gewerkschaftliche Organisation des österreichischen Proletariats ist eine Zweieinigkeit, welche untrennbar und unzerreißbar ist […].Arbeiter-Zeitung, 1893

Von der Metall- bis zur Schildkrötindustrie

Als Organisationsform wird eine Einteilung in 17 Industrie­gruppen beschlossen, die jeweils einen Vertreter in die zu bildende Reichskommission entsenden sollen. Die kleinen Fachvereine hätten, so die Organisatoren, keine Auflösung zu befürchten, vielmehr werde eine Vereinigung sämtlicher Fachvereine in einer Industriegruppe angestrebt.

In der Gewerkschaftskommission organisiert sind die Berufs­gruppen der Bau- und der Bergarbeiter, die Arbeiter der chemischen, der Eisen- und Metallindustrie, die Gas- und Wasserarbeiter, die Beschäftigten der Bekleidungsindustrie, die Angehörigen der graphi­schen Berufe und der Papierindustrie, die Handelsangestellten, die Holzarbeiter, die Angestellten der  Horn-, Bein- und Schilkrötindustrie, die Landarbeiter, die Beschäftigten der Lebensmittelbranche, der Leder- und Textilindustrie, des Verkehrs- und Transportwesens, sowie die in der Hand- und Maschinenindustrie beschäftigten Frauen.

Mit der Entwicklung zur Massenorganisation verändert sich auch die Zusammensetzung der sozialistischen Gewerkschaften. Niedriglohngruppen wie Textil- und Berg­arbeiter steigen aufgrund ihrer hohen Beschäftigtenzahlen zu einflussreichen Teil­organi­sa­tionen auf, obwohl der Organisationsgrad in diesen Branchen vergleichsweise gering ist.

Der Gewerkschaftskongress von 1893 kann somit als die Geburtsstunde der nach dem Industrie- und Gewerbegruppenprinzip strukturierten österreichischen Gewerk­schafts­bewegung angesehen werden.

Noch in den Kinderschuhen

Die zahlreichen lokalen Streiks, die wegen der leeren Streikkassen und der Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung meist schon nach kurzer Zeit in sich zusammenbrechen, belasten die Gewerkschaften auch finanziell. 1894 wird deshalb ein zentrales Streik­reglement beschlossen, das etwas Ordnung in das Unterstützungswesen bringt. Streiks müssen zunächst bei der jeweiligen Kronlandzentrale angemeldet werden, die im Anschluss daran die Gewerkschaftskommission informiert. Nicht angemeldete Streiks haben keinen Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Die Streik­unterstützung wird aus Sammlungen bei den Mitgliedsorganisationen finanziert. Nicht verwendete Gelder fließen in einen allgemeinen Streikreservefonds.

Trotz dieser Fortschritte steckt die österreichische Gewerk­schaftsorganisation immer noch in den Kinderschuhen. Im Jahr 1895 beträgt die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter bei einem Beschäftigungsstand von 6,563.329 Personen in Industrie und Gewerbe nur 88.818; das entspricht einem Organisationsgrad von 1,35%.

Unter Anton Hueber, der 1895 das Sekretariat der Gewerkschaftskommission übernimmt, erlebt die Gewerkschaftsbewegung einen nennenswerten Aufschwung. 1896 zählen die Freien Gewerkschaften, die mehr als zwei Drittel der in der Partei organisierten Arbeitnehmer erfassen, bereits 133.000 Mitglieder – darunter 5.000 Frauen –, und 1901 sind immerhin schon 2,4% aller Arbeiter in der Habsburgermonarchie gewerkschaftlich organisiert.

Es geht bergauf. Während der Konjunktur­periode vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs können die Freien Gewerkschaften ihren Mitgliedsstand auf über eine halbe Million verfünffachen. In Cisleithanien sind 22,5% der Arbeiterschaft gewerkschaftlich organisiert, zusammen mit der ungarischen Reichshälfte sind es etwa 30%. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt damit auf einem ähnlichen Niveau wie in Groß­britannien (27%) oder im Deutschen Reich (22%).

Das Problem der Frauenarbeit

Nach einer raschen Lösung verlangt auch das sogenannte Frauenproblem. Viele Unternehmer stellen lieber Frauen als Arbeitskräfte an, da diese billiger und auch williger sind, unter den schlechten Bedingungen zu arbeiten. Die männlichen Kollegen sehen in diesen Arbeiterinnen in erster Linie Lohndrückerinnen. Anna Boschek, die 1894 ihre Tätigkeit in der Gewerkschaftskommission aufnimmt, gelingt es schließlich, immer mehr Frauen zur Gewerkschaft zu bringen und den Kampf gegen das „Lohndumping“ aufzunehmen.

Das leidige Nationalitätenproblem

Beim zweiten Gewerkschafts­kongress im Jahr 1896 fordern die tschechischen Gewerk­schafter die Einsetzung eines tschechischen Sekretärs neben dem deutschsprachigen Anton Hueber. Nach der Ablehnung ihres Antrags gründen sie im darauffolgenden Jahreine eigene tschechoslowakische Gewerkschaftskommission mit Sitz in Prag. 1905 scheitert ein letzter Vermittlungsversuch, die deutschsprachigen und die tschechischen Gewerkschaften gehen fortan getrennte Wege. Ein fatales Signal.

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sind, mit Ausnahme der Eisenbahner und der Tabakarbeiter, bereits sämtliche Gewerk­schafts­organisationen nach Nationen gespalten. Mit der Abspaltung der tschechischen Sozialdemokraten zerbricht am Innsbrucker Parteitag 1911 sogar die Einheit der Sozialdemo­kratischen Partei. Die österreichische Gesamtpartei war damit ,tot'.

Der Ausnahmezustand während des Ersten Weltkriegs erschwert die Tätigkeit der Gewerkschaften erheblich. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie erlebt die Bewegung allerdings wieder einen gewaltigen Auftrieb: 1921 erreichen die freien Gewerkschaften mit 1,079.777 Mitgliedern ihren historischen Höchststand.

Literatur: Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Viel­völker­staat, 1963; Peter Autengruber, Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung bis 1945, 2010.

 

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