Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Ein Dach vorm Kopf
0075 | 20. JULI 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Ein Dach vorm Kopf

Am 20. Juli 1932 veröffentlicht die Arbeiter-Zeitung einen programmatischen Artikel des Wiener Architekten Franz Schacherl: „Das flache Dach“.

Schacherl, 1895 in Wien geboren, ist der Sohn des jüdischen Arztes, Reichsrats-, später auch Nationalratsabgeordneten und Chefredakteurs der steirischen Zeitung „Arbeiterwille“, Michael Schacherl, der ab 1896 vorwiegend in Graz wirkt. Schacherl junior studiert Architektur an der Technischen Hochschule in Graz und geht zu Beginn der 1920er Jahre nach Wien, um beim Österreichischen Verband für Siedlungs- und Kleingartenwesen (ÖVSK), einer Gründung des Philosophen Otto Neurath, mitzuarbeiten. Hier lernt er Franz Schuster kennen. Gemeinsam mit ihm, Josef Frank und Margarete Lihotzky ist Schacherl am Siedlungsamt der Gemeinde Wien tätig.

Das Duo Schuster und Schacherl plant einige Reihenhaus-Siedlungen, wie die Krieger­heimstätte Hirschstetten oder die Siedlungen Am Wasserturm, Süd-Ost, Laaerberg-Straße und Neustraßäcker. Gemeinsam geben die beiden auch die Architektur­zeitschrift „Der Aufbau – Österreichische Monatshefte für Siedlung und Städtebau“ heraus, in der für die Idee der „Gartenstadt“ geworben wird. In dieser sieht Schacherl die Verwirklichung proletarischen Bauens. Sein Ideal ist die einfache und funktionale Gestaltung ohne jede Reminiszenz an die kleinbürgerliche Wohn(un)kultur.

Mut zur Schlichtheit

1926 schreibt Schacherl im theoretischen Organ der Sozialdemokratie Der Kampf: Sozialistische Architektur kann und darf nicht kleinbürgerlich sein [...]. Wir müssen den Mut haben, die große Nüchternheit-Ernüchterung, die große Einfachheit-Vereinfachung, die große Klarheit-Klärung [...] auch in der Architektur zu suchen und zu wollen. Ein besonderer Dorn im Auge sind ihm die Spitzen und Decken und Samtvorhänge und geschnörkelten und geschnitzten Möbel, die Psychen und wie diese Dinge alle heißen, die viele immer noch wichtig nehmen, weil ein absterbendes Bürgertum sie wichtig nimmt.

Obwohl er als entschiedener Gegner der „Volkswohnpaläste“ auftritt, entwirft Schacherl für das kommunale Wohnbauprogramm des Roten Wien einige große Gemeindebauten, wie den Karl-Volkert-Hof in Ottakring oder den Franz-Mair-Hof in der Leopoldstadt.

Können Dächer jüdisch sein?

Schacherl ist, wie sein Kollege Frank, ein Meister der geschliffenen Polemik: Um das Dach tobt ein heißer Kampf. Ganz gleich welches Dach, jedenfalls ist immer das schräge, steile Dach gemeint, welches gegen die Neuerer“ mit Vehemenz verteidigt wird [...]. Die Aestheten erklären, das Dach sei der würdige Abschluß jeder Architektur! Die Romantiker flöten: [...] man fühlt sich so geborgen unter einem Dach! Die Ganzklugen führen das „Schneeargument“ ins Treffen. Und die Spießbürger und Denkfaulen knurren: Ein Haus ohne Dach ist kein Haus! [...] Und dann ist das überhaupt eine jüdische Erfindung aber Gott sei Dank, wir sind ja nicht in Palästina...

Tatsächlich tobt in Deutschland, aber auch in Österreich gegen Ende der 1920er Jahre ein regelrechter Kulturkampf um die Frage des „richtigen“ Daches  – mit rassistischen und antisemitischen Untertönen. Das „moderne“ Flachdach steht für Internationalität und Kollektivismus und wird von seinen Gegnern als „kulturfremd“ oder „jüdisch“ diffamiert. In Gegenden, in denen es nicht verbreitet ist, wirke es „aufreizend“, so die Kritiker. Jedenfalls dürfe die schöne – deutsche – Landschaft nicht durch solche „Fremdkörper“ verunstaltet werden. Manche sprechen sogar von „Baubolschewismus“ und von „Negerarchitektur“. Im Gegenzug werden die Verfechter des Steildaches von den Modernisten gerne als „Ewiggestrige“ verspottet. Noch handelt es sich bei diesen Polemiken bloß um verbale Entgleisungen...

Die Krankheit der elenden Dächer

Schacherl stützt sich in seinem Plädoyer für das Flachdach vor allem auf Vernunftargumente: Beton, Eisen, Glas, Bitumenmassen, Betonmischmaschinen, Baukrane [sic], Aufzüge und autogene Schweißapparate, Produkte langwieriger Produktionsprozesse der Technik, schaffen das Haus bis zum Gesims. Dann kommt der Zimmermann mit der Handsäge, dem Handbeil und dem Stemmeisen und baut die Dächer. Ueber ihnen singen die Motoren der Luftschiffe und die Propeller der Flugzeuge die Melodie des zwanzigsten Jahrhunderts.

Es gebe Konstruktionen, die besser und dauerhafter sind und uns vollkommener schützen als das lächerliche Sparren- und Lattengeflecht des Zeltdaches mit seiner dünnen Haut aus gebrannten Lehmziegeln mit ihren tausend Fugen, durch die der Wind bläst. Außerdem seien die meisten Dächer doch nur noch Rumpelkammernfür all das, was wir aufheben, „weil man es vielleicht noch einmal brauchen kann“.

Muß die Krankheit, so Schacherl weiter, der elenden Dächer wirklich noch weiterwüten? Gibt es keine bessere, zeitgemäßere Lösung? Ja, das flache Dach! [...] Es ermöglicht Dachgärten und Dachterrassen mit spielenden und badenden Kindern [...]. Es ist der neue Aufenthaltsort der müden Großstadtbewohner in den kühlen Abendstunden. Und im Winter wird daraus ein Eislaufplatz!

Blitzsieg im Dächerkrieg

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten beendet den „Dächerkrieg“. Im norddeutschen Altona findet bereits 1934 eine „Steildach Aktion“ statt, bei der vier Siedlungen der Siedlungs-Aktiengesellschaft Altona (SAGA) nachträglich mit Steildächern versehen werden. In Dessau entgeht das ungeliebte Bauhaus-Gebäude gerade noch dem Abriss, die in der „wesensfremden Bauart“ errichteten Dessauer Meisterhäuser müssen von ihren Käufern umgebaut werden.

Tatsächlich aber beschränkt sich die Umgestaltung der Monumente des Neuen Bauens nicht bloß auf das Aufsetzen von Satteldächern, vielfach werden auch die großzügigen Fensterfronten radikal verkleinert, manche Gebäude, wie etwa Plischkes Arbeitsamt in Liesing, durch einen kompletten Umbau regelrecht verstümmelt. Wobei es den Kritikern selten um das Innere der Gebäude, um Raumabfolgen, Raumnutzungen und Innengestaltungen geht, sondern immer nur um „die Oberfläche“, das äußere Erscheinungsbild.

Nicht überall endet dieser rückwärtsgewandte Furor mit dem Ende des Dritten Reiches. Noch 1950 erhält das Behrens-Haus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung als „späten Triumph“ ein Satteldach, und das, was Walter Ulbricht 1950 auf dem Parteitag der SED gegen das Bauhaus vorbringt, erinnert fatal an die Nazi-Polemik gegen das Flachdach, das dem Orient vorbehalten bleiben solle. Die Architekten dürften, so Ulbricht, nicht glauben, man könne in Berlin Häuser bauen, die ebensogut in die südafrikanische Landschaft passen.

Wie das Leben halt so ist...

Franz Schacherl sollte all das nicht mehr erleben. Er emigriert 1938 nach Paris, wo er durch Vermittlung der Familie Rothschild Kontakt zur portugiesischen Regierung knüpft und 1939 nach Angola reist, um dort Spitäler und Regierungs­gebäude zu errichten. Letztlich bleibt es bei ergebnislosen Planungen. Franz Schacherl verstirbt am 28. Oktober 1943 während einer Magenoperation in Luanda, nur wenige Monate nach seiner Tochter Magda, die einen Blinddarmdurchbruch nicht überlebt hatte.

Ganz anders ergeht es Schacherls langjährigem Partner Franz Schuster, der ab 1927 am Hochbauamt Frankfurt am Main in leitender Funktion tätig ist und sich auch als selbständiger Architekt und Architekturtheoretiker einen Namen macht.

1937 wird Schuster zum Nachfolger von Josef Hoffmann als Leiter der Meisterklasse für Architektur an der Wiener Kunstgewerbeschule bestellt, 1938 tritt er der NSDAP bei und profiliert sich in den folgenden Jahren mit bombastischen Umgestaltungsplänen (etwa der „entjudeten“ Leopoldstadt), aber auch durch Entwürfe günstiger Sozialwohnungen und erschwinglicher Inneneinrichtungen.

Nach kurzer „Entnazifizierung“ gehört Schuster zu den maßgeblichen Architekten des Wiederaufbaus und wird mit zahlreichen in- und ausländischen Auszeichnungen geehrt.

Fuss ...