Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: „Ein Juwel der modernen Fürsorge“
0193 | 18. JUNI 2025    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Ein Juwel der modernen Fürsorge“

Am 18. Juni 1925 geht die Kinderübernahmsstelle in der Lustkandlgasse in Betrieb.

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden unversorgte Kinder und Jugendliche in „Findelhäuser“ eingewiesen und anschließend in Waisenhäusern oder bei Pflegeeltern untergebracht. Ein solches städtisches Findelhaus befindet sich etwa in der Laurenzgasse in Margareten. Im Jahr 1910 wird eine Kinderpflegeanstalt der Stadt Wien in der Siebenbrunnengasse, ebenfalls in Margareten, unter klösterlicher Leitung eingerichtet. „Schwer erziehbare“ Jugendliche landen hingegen in gefängnisartigen „Besserungsanstalten“.

Aufgrund der verheerenden Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die soziale und gesundheitliche Situation der Wiener Kinder bildet die Kinder- und Jugendfürsorge von Anbeginn an einen wichtigen Pfeiler der Sozialpolitik des Roten Wien. Mit der Bestellung des ehemaligen Unterstaatssekretärs für Volksgesundheit Julius Tandler zum Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen im Oktober 1920 kommt es zu einem Paradigmenwechsel in der Fürsorge.

Tandler, ein erklärter Anhänger der „positiven Eugenik“, sieht in der Kinder- und Jugendfürsorge eine der wichtigsten „Investitionen“ in das „organische Kapital“ im Sinne einer vorbeugenden Bevölkerungspolitik, deren Ziel der „Neue Mensch“ ist. Um die zahlreichen verwaisten oder „verwahrlosten“ Kinder und Jugendlichen einer ersten medizinisch und psychologischen Betreuung und Beurteilung zuzuführen, braucht es eine zentrale Einrichtung.

Eine Stelle – zwei Abteilungen

Im März 1923 beschließt der Wiener Gemeinderat auf Antrag Julius Tandlers die Errichtung einer „Kinderübernahmsstelle“ in der Lustkandlgasse 50 am Alsergrund. Architekt der L-förmigen Eckbebauung ist Adolf Stöckl. Es ist die erste derartige Einrichtung in Europa. Sie besteht aus zwei verwaltungstechnisch voneinander getrennten Abteilungen: Der eigentlichen Übernahmsstelle, dem administrativen Apparat, und der Herberge.

Die in nur zweijähriger Bauzeit errichtete und modern ausgestattete Kinder­übernahmsstelle ist die zentrale Drehscheibe für in Not geratene Kinder, die für kürzere oder längere Zeit in Gemeindepflege übernommen werden müssen.

Da kommt eine Mutter mit ihrem Neugeborenen, weil sie obdachlos ist, dort eine andere, weil der Vater ein Säufer ist, eine dritte, weil der Mann arbeitslos ist […] kurz: die ganze bedrängte kleine Menschheit drängt tagaus, tagein in die Kinderübernahmestelle [sic!]. Ein furchtbares Bild des Kinderelends, ein schreckliches Wahrzeichen der kapitalistischen Gesellschaft!, schreibt Julius Tandler.

In bester Hand

Alle Säuglinge, Kinder und Jugendliche, die der Gemeinde von den 14 Bezirksjugendämtern, den 21 Fürsorgeinstituten oder von der Polizei zur Fürsorge übergebenen werden, kommen zunächst in die Lustkandlgasse. Hier werden sie medizinisch versorgt, untersucht, gewaschen, eingekleidet und anschließend – je nach Alter – auf einer der sechs Stationen zwei bis drei Wochen von ÄrztInnen und Psycho­logInnen beobachtet und auf Grundlange deren Beurteilung weitergeleitet. Die Leitung der psychologischen Arbeit in der Kinderübernahms­stelle obliegt der renommierten Kinderpsychologin Charlotte Bühler, die auch bei am Zustandekommen der Marienthal-Studie beteiligt ist.

Die Bandbreite der Maßnahmen reicht von der Zuweisung in ein Erziehungs- oder Kinderheim – etwa in das Kinderheim im 1927 von der Gemeinde Wien erworbenen Schloss Wilhelminenberg oder in die ehemalige „Landes-Besserungsanstalt“ in Eggenburg – zur Übergabe an eine Pflege­familie oder, in seltenen Fällen, zur Rückgabe an die leiblichen Eltern. Ziel ist es in jedem Fall, die Kinder und Jugendlichen im Sinn einer bürgerlichen Normalität zu „korrigieren“ und zu „verbessern“.

Im Leben mancher Proletarierkinder ist die Kinderübernahmsstelle der Gipfelpunkt der Pracht, die Höhe des Glücks.

„Die Herberge […] hat 228 Betten.“

Im Jahr der Eröffnung werden 6.229 Kinder überstellt, 2.169 von ihnen wegen Mittellosigkeit und Arbeitslosigkeit der Eltern, 1.260 wegen Obdachlosigkeit. Weitere Gründe sind Verwaistheit, Spitalsaufenthalt der Eltern, Verwahrlosung und Rückstellung aus Pflegestellen. Zwischen 1925 und 1934 betreut die Institution insgesamt 63.000 Kinder und Jugendliche. Denn: „Die Kinder haben ein Anrecht auf Fürsorge und die Gesellschaft ist ihr Sachwalter.“

Pervertierung des Systems

In der Zeit des Nationalsozialismus wird die Kinderübernahmsstelle Teil der Tötungsmaschinerie der NS-Rassenbiologie, geistig und körperlich behinderte Kinder werden von hier zur Euthanasie an den Spiegelgrund überstellt. In der Zweiten Republik setzt sich die strenge, zum Teil auch durch Gewalt und Übergriffe geprägte Erziehungspraxis noch bis in die 1980er-Jahre fort.

Doch eigentlich liegt der Schwerpunkt der fürsorgerischen Maß­nahmen seit den 1960er-Jahren mehr auf der psychologischen Betreuung der Jugendlichen und im Bemühen, in familienähnlichen Kleingruppen eine Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen zu erzielen. 1965 wird die Kinderübernahmsstelle renoviert und in Erinnerung an seinen Schöpfer Julius-Tandler-Heim umbenannt. Im Zuge der „Heimreform“ wird die Einrichtung 1998 geschlossen.

Heute gehört das Julius-Tandler-Heim zu den Einrichtungen der MA 10 – Wiener Kindergärten. Außerdem hat die Zentrale der Volkshochschulen hier ihren Sitz.

Literatur: Julius Tandler, Kinderübernahmsstelle der Gemeinde Wien im 9. Bezirk Lustkandlgasse, Ayrenhoffgasse, Sobieskigasse. Wiener Magistrat, Wien 1925; Das neue Wien. 1926–1928, Band 2; Helmut Weihsmann, Das Rote Wien. Sozialdemokratische Architektur und Kommunalpolitik 1919-1934. Wien 1985; Regina Böhler, Die Entwicklung der Kinderübernahmestelle in Wien zwischen 1910 und 1938. In: Ernst Berger (Hrsg.): Verfolgte Kindheit: Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialverwaltung. Wien 2006; Reinhard Sieder und Andrea Smioski, Der Kindheit beraubt. Gewalt in Erziehungsheimen der Stadt Wien, 2012.

Sonderausstellung im Waschsalon 2016/17

Fuss ...