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Aktuelle Seite: Ein „Prunkbau der Einfachheit“
0027 | 11. JULI 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Ein „Prunkbau der Einfachheit“


Am 11. Juli 1931 wird das neue Praterstadion mit einem  Match der Arbeiterfußballer aus Wien und Niederösterreich eröffnet. Stadtrat Julius Tandler nimmt den Ankick vor, die Wiener siegen 5:4. 

Erste Pläne, auch in Wien ein zentrales Stadion zu errichten, gehen auf das Jahr 1912 und die Olympischen Spiele von Stockholm zurück. Der Kaiser stellt die Jesuitenwiese im Prater als Bauplatz zur Verfügung, der Spatenstich soll im Herbst 1914 erfolgen. Doch da wird bereits auf ganz anderen Schlachtfeldern gekämpft…

Nach der Gründung der Republik werden die Pläne wieder ausgegraben. Als mögliche Standorte stehen nun die Hohe Warte, der Augarten, die ehemaligen Hernalser Ziegelwerke in der Roggendorfgasse und die Kongressgründe (heute: Kongresspark) zur Diskussion. Interessant, aber utopisch ist das Projekt eines Stadions in Hufeisenform, in einer Geländemulde des Wienerwalds – mit der offenen Seite zur Stadt.

1922 bringt Stadtrat Franz Siegldie Schönbrunner Fasangärten hinter der Gloriette als möglichen Standort ins Spiel. Die Architekten Emil Hoppe und Otto Schönthal, die bereits die Stahlbetontribünen für die Trabrennbahn Krieau entworfen haben, legen den Plan für eine Anlage vor, die gewissermaßen eine Spiegelung des Schlosses darstellt.

Noch sind all diese Vorhaben privat zu finanzierende, kommerzielle Projekte. Aus sozialdemokratischer Sicht gibt es gute Argumente, die gegen ein kommunales Stadion sprechen, lehnt die Sozial­demokratie den professionellen Sport doch als „zirkusähnliches Spektakel“ ab. Die Förderung des Massensports durch die Errichtung vieler kleiner Sportplätze in der Nähe der neuen Gemeindebauten, das sei die sinnvollere und zielführendere Variante.

Wer Sportplätze baut, hilft Spitäler ersparen

Wien wird ein Stadion besitzen, das in seiner Zweckmäßigkeit und Schönheit eine Zierde unserer Stadt sein und auch die Erfüllung eines langgehegten Wunsches aller Sportliebenden bringen wird.Julius Tandler

Als der Arbeitersportverband ASKÖ 1927 den Zuschlag zur Ausrichtung der 2. Arbeiter-Olympiade erhält, bekommt die Diskussion um das Stadion neue Dynamik. Am 12. November 1928, dem zehnten Jahrestag der Republik, legt Bürgermeister Karl Seitz im Prater den Grundstein für ein neues Stadion. Im Gemeinderat beschlossen wird der Bau allerdings erst am 11. Mai 1929. Die Zeit drängt bereits.

Um die Bauarbeiten möglichst rasch in Angriff nehmen zu können, schränkt die Gemeinde Wien den Wettbewerb auf zwei deutsche und zwei österreichische Architekten­büros ein: Neben dem Büro Hoppe und Schönthal, das sich in den Wettbewerb hineinreklamiert hat und dem mit dem Roten Wien eng verbundenen Hubert Gessner legen der Architekt des Frankfurter Stadions Max Bromme und Otto Ernst Schweizer, dessen Nürnberger Stadion kurz vor der Fertigstellung steht, ihre Pläne vor.

Der Deutsche Schweizer

Julius Tandler fällt die Entscheidung zu Gunsten Otto Schweizers Entwurf wohl im Alleingang. Nüchterne Funktonalität – klare Linien, Stahlbeton und Glas, weder Ornamente noch Türme – triumphiert über die Formen­sprache der Otto-Wagner-Schule, die bei den meisten Gemeinde­bauten des Roten Wien eine prägende Rolle spielt. Der barockgartenartige Entwurf von Hoppe und Schönthal hat damit das Nachsehen. Wegen der Brisanz des Themas erklärt sich Tandler jedoch bereit, für kleinere Bauten im Rahmen des großen Gesamtprojektes auch österreichische Architekten heranziehen zu wollen.

Otto Ernst Schweizer konzipiert nicht nur eine moderne Sportarena, sondern ein multifunktionales Sportzentrum mit Badeanlage, Radrennbahn, Freilichtbühne, Tennis- und Trainingsplätzen, Turnhallen, einer Sportschule mit Hörsälen und Bibliothek. Nicht alles wird realisiert. Auch der Plan, vor dem Stadion einen Skulpturenhain mit Darstellungen des „neuen Menschen“ zu errichten, bleibt Makulatur. Im Programmheft der Arbeiter-Olympiade wird der Skulpturengarten noch angekündigt: [...] vor dem Eingang ein Hain, in dessen Mitte ein Teich die Landschaft belebt. Hier soll der Künstler, der Bildhauer, dem Sport Denkmäler setzen, diesen Hain sollen unsere Künstler mit Bildwerken schmücken, die den Sport verherrlichen.

Ein Drittel Karl-Marx-Hof


Stadion und Stadionbad werden in nur 23 Monaten errichtet. Die Bauarbeiten verlaufen reibungslos, das Stadtbauamt verfügt durch die Wohnbauten der Gemeinde bereits über ausreichend Erfahrung mit Großbauprojekten. Insgesamt werden 5.000 Tonnen Zement, 7.000 Tonnen Sand, 1.000 Tonnen Eisen und 3.400 Kubikmeter Holz verbaut.

Die Kosten für die gesamte Anlage, inklusive Stadionbad, betragen 6,6 Millionen Schilling. Zum Vergleich: Der Bau des Karl-Marx-Hofes mit seinen knapp 1.400 Wohnungen verschlingt, einschließlich aller Infrastruktureinrichtungen, 28,6 Millionen Schilling. Die Kosten für das Stadion entsprechen demnach jenen von etwa 400 Wohnungen.

Das neue Stadion wird in zahlreichen Bau- und Architekturzeitschriften weltweit besprochen und gelobt. Sogar die Neue Freie Presse, die den Bau zunächst massiv kritisiert hatte, spricht nun von einem Bauwerk, das nicht nur eine der bedeutendsten Pflegestätten des Sports, sondern auch ein Glanzpunkt unter den Sehenswürdigkeiten Wiens zu werden verspricht. Die Königsberger Allgemeine Zeitung nennt das Wiener Stadion gar eine Sehenswürdigkeit Europas, und in der Vossischen Zeitung ist zu lesen: Diese Riesenarena in elliptischer Formung, die aufsteigenden Steinfliesen hätten das Herz jeden Römers höher schlagen lassen.

Schauspiel der Massen im Stadion

Die große Bewährungsprobe folgt eine Woche nach dem Eröffnungsspiel. Das Stadion ist Austragungsort der 2. Arbeiter-Olympiade, bei der vom 19. bis 26. Juli 1931 25.000 Sportlerinnen und Sportler in 117 Bewerben antreten. Auftakt der roten Olympiade bildet ein pathetischen Massenfestspiel, das die Geschichte vom Aufstieg der Arbeiterbewegung erzählt. Als theatralischer Höhepunkt kracht am Ende der Aufführung ein gigantischer Kopf des Kapitals in sich zusammen. Nach dem Festspiel ziehen die Teilnehmer in einem mehrere Stunden dauernden Fackelzug über Hauptallee, Prater- und Ringstraße zum festlich beleuchteten Rathaus – eine endlose Feuerschlange.

Am 13. September 1931 folgt der erste Auftritt des Wunderteams unter Hugo Meisl. Deutschland wird mit 5:0 aus dem Stadion geschossen. Das Praterstadion wird zur zentralen Heimstätte der österreichischen Fußballnational­mannschaft, ab Mitte 1936 finden alle Heimspiele der Nationalmannschaft hier statt.

Das Praterstadion ist aber auch ein idealer Ort für politische Inszenierungen. Nicht nur die Sozialdemokratie nutzt es für ihre Veranstaltungen, auch die Christlich-deutsche Turnerschaft oder die Katholische Kirche halten hier große Feste ab. Und als 1933 die Kundgebung am 1. Mai verboten und die gesamte Innere Stadt von starken Militäreinheiten abgesperrt wird, avanciert das Stadion zum letzten Rückzugsort für die vom Rathausplatz verbannte Sozialdemokratie, die eine grandiose Maifeier im Stadion abhält.

Nach dem „Anschluss“ Österreichs darf sich eine Auswahl des „Gaus Österreich“ am 3. April 1938 im Wiener Praterstadion mit der deutschen Nationalmannschaft messen. Die „deutsch-österreichische Mannschaft“ gewinnt auch dieses Prestigeduell mit 2:0.

Das Stadion als Internierungslager

1939 dient das Praterstadion bereits ganz anderen Zwecken. Da die Wiener Gefängnisse zum Bersten voll sind, interniert die SS über tausend vornehmlich „polnisch-stämmige“ Wiener Juden drei Wochen lang im Stadion. Bevor man die Opfer am 30. September in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert, werden sie von Josef Wastl, dem damaligen Leiter der anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien, noch „rassenkundlich“ vermessen. Bereits am nächsten Tag finden im Stadion wieder Fußballspiele statt.

Im Herbst 1944 ist endgültig Schluss mit „lustig“. Die Sport­anlagen werden durch Luftangriffe, die dem hier untergebrachten Planungsbüro der Wehrmacht gelten, schwer beschädigt.  

Immer wieder, immer wieder...

Bald nach Kriegsende kann der Spielbetrieb im Prater wieder aufgenommen werden. Am 6. Dezember 1945 schlägt das österreichische Fußballteam das französische mit 4:1.

1956 wird die Zuschauerkapazität des Praterstadions durch die Errichtung eines dritten Ranges auf sagenhafte 92.700 Personen vergrößert. Zu den beiden Länderspielen gegen die UdSSR (3:1) und gegen Spanien (3:0) im Herbst 1960 strömen jeweils mehr als 90.000 Zuschauer in das Betonoval – ein Allzeitrekord.

In den 1960er Jahren werden die Erfolge der Fußballnational­mannschaft seltener, die Zuschauermassen bleiben aus. Das Stadion verkommt zum Sanierungsfall. Von 1984 bis 1986 wird die dringend notwendige Generalsanierung der Tragwerke durchgeführt, das Stadion mit einer weitgespannten Konstruktion überdacht, sein Fassungsvolumen auf 62.000 Plätze reduziert. In den darauffolgenden Jahren finden unter den Tribünen pistaziengrüne Einbauten für Büroräumlichkeiten Platz, die die sachliche Ästhetik des Schweizer'schen Baus endgültig zerstören.

Abriss oder Sanierung?

Nach dem Tod des ehemaligen österreichischen Spitzen­trainers Ernst Happel wird das Stadion 1992 nach ihm benannt. Im Zuge der Vorbereitungen auf die Euro 2008 kommt es im nunmehrigen Ernst-Happel-Stadion zu weiteren Umbaumaßnahmen. Das Fassungsvermögen beträgt fortan nur noch 50.000 Sitzplätze. Neben Sport- und anderen Großveranstaltungen etablieren sich auch Popkonzerte als regelmäßige Events im Stadion.

In den letzten Jahren mehren sich die Diskussionen um einen Abriss der denkmalgeschützten Arena und den Bau eines neuen „Nationalstadions“. Hat der Glanzpunkt unter den Sehenswürdigkeiten Wiens damit seine Schuldigkeit getan?

Literatur: Bernhard Hachleitner, Das Wiener Praterstadion / Ernst-Happel-Stadion. Bedeutungen, Politik, Architektur und urbanistische Relevanz, Wien 2010

2. ARBEITER-OLYMPIADE IN WIEN

Sonderausstellung im Waschsalon Karl-Marx-Hof

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