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Aktuelle Seite: Ein Schloss für die Kinder
0161 | 19. AUGUST 2024    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Ein Schloss für die Kinder

Am 19. August 1919 fährt Otto Felix Kanitz mit 100 Kindern von Gmünd nach Wien und „besetzt“ das Schloss Schönbrunn.

Nachdem Kaiser Karl am 11. November 1918 abdankt und sich ins Exil begibt, geht das kaiserliche Sommerschloss in Schönbrunn in das Eigentum der Republik über.Auf Initiative von Vizebürgermeister Max Winter wird das Prunkschloss im Sommer 1919 einer doppelten Verwendung mit symbolischer Bedeutung zugeführt: Die Repräsentationsräume werden dem Kriegsbeschädigtenfonds übergeben. Touristische Führungen durch die bis dahin der Öffentlichkeit unzugänglichen Räume sollen Einnahmen zugunsten der Kriegsopfer erbringen.

Eine Republik für die Kinder

Im Hauptgebäude des Schlosses werden zwei Drittel des zweiten sowie der gesamte dritte Stock den Kinderfreunden, deren Reichsobmann Max Winter ist, zur Benutzung zugeteilt – insgesamt 84 Räume.


Während der Kriegsbeschädigten­fonds bald auf seine Rechte verzichtet, da die Einnahmen hinter den Erwartungen zurückbleiben, richten die Kinderfreunde im Schloss eine Erzieherschule unter der Leitung von Otto Felix Kanitz, ein Kinderheim unter der Leitung von Anton Tesarek und eine Bibliothek mit Lesesaal ein. Ebenfalls im Schloss unter­gebracht sind das Reichs­sekretariat der Organisation unter der Leitung von Alois Jalkotzy sowie der Verlag Jungbrunnen.

Wesentlich zur Umsetzung tragen neben Max Winter vor allem die aus großbürger­lichen Verhältnissen stammende Vorsitzende der Kinderfreunde Alsergrund, Hermine Weinreb, und ihr „Schützling“ Otto Felix Kanitz bei. Kanitz organisiert im Sommer 1919 ein mehrwöchiges Ferienlager für über tausend Kinder in den Baracken eines ehema­ligen Militärlagers in Gmünd und führt dort eine nach demokratischen Prinzipien aufgebaute „Kinderrepublik“ ein. Er lässt Wahlen und Voll­versammlungen abhalten, bei denen so genannte „Kindervertrauensleute“ gewählt und Probleme des Zusammenlebens und Konfliktlösungen diskutiert werden können. Früh übt sich, wer ein Demokrat werden will.

Eine neue Generation von Erziehern

Bestärkt durch das positive Resultat dieses pädagogischen Experiments fordert Hermine Weinreb die Einrichtung einer Erzieherschule, in der moderne Grundsätze der Pädagogik gelehrt werden, um eine neue Generation von Erzieherinnen und Erziehern heranzubilden.

Die feierliche Eröffnung der Schönbrunner Erzieherschule findet erst am 12. November 1919 statt, dem ersten Jahrestag der Gründung der Republik, der Unterricht beginnt bereits im Oktober. 28 Anwärter bestehen die Aufnahmsprüfung, die meisten Studierenden sind weiblich – nur zwei Männer schließen den Lehrgang ab – und zwischen 15 bis 18 Jahre alt. Beim Lehrstoff der dreijährigen Schule wird besonderes Augenmerk auf die Fächer Psychologie, Pädagogik und politischer Schulung gelegt.

Ein kurzes Intermezzo

Als Lehrkräfte der Kinder­freundeschule Schönbrunn können namhafte Persönlichkeiten gewonnen werden: Alfred Adler lehrt Psychologie, Jenny Adler Gesundheitslehre, ihr Mann Max Adler Soziologie, Wilhelm Jerusalem Pädagogik und Philosophie. Gerda Kautzky-Brunn unterrichtet Geographie, Marianne Pollak Englisch, Hermine Weinreb Literatur­geschichte und Josef Luitpold Stern Literatur.

In drei Jahrgängen werden in dieser pädagogischen Lehranstalt zwischen 1919 und 1924 über 108 junge Menschen zu fortschrittlichen Erziehern im Sinne der Kinderfreunde ausgebildet. 1923 muss die Tagesschule zugunsten einer Abendschule aufgelassen werden, im Jahr darauf schließt die Institution aus finanziellen Gründen. Nur der Kindergarten bleibt bestehen.

Ihre Prinzipien und Ideale wirken allerdings weiter. Besonders in der Person Otto Felix Kanitz‘, der die Gabe besitzt, junge Menschen für den neuen Erziehungsstil zu begeistern. In seinen Schriften „Das proletarische Kind in der bürgerlichen Gesellschaft“ (1925) und „Kämpfer der Zukunft – eine systematische Darstellung der sozialistischen Erziehungs­grundsätze“ (1929) aber auch in zahlreichen Artikeln, insbesondere in der Zeitschrift „Die Sozialistische Erziehung“, legt er die Grundlagen für eine zeitgemäße Pädagogik.

Die Erziehung eines jungen Menschen, so Kanitz, dürfe nicht nur die kognitive Ebene umfassen. Erst durch die Entfaltung des Kindes im sozial-emotionalen Bereich erhalte sie ihren wahren Wert.

„Ich gebe keinen Pfifferling für einen jungen Arbeiter, der das Kommunistische Manifest auswendig kann und in der Straßenbahn sitzen bleibt, wenn eine alte Frau vor ihm steht.“Otto Felix Kanitz, 1920

Die Ideen leben weiter

Die Absolventinnen der Schule sowie zahlreiche Erzieher und Erzieherinnen finden in der „Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Erzieher“ eine neue Heimat. Viele bekommen eine Anstellung bei den Kinderfreunden, andere sind ehrenamtlich tätig. Unter den jungen Lehrern und Lehrerinnen, die in den Tagesheimen der Kinderfreunde tätig sind, befinden sich auch der Reformpädagoge und spätere Diplomat Fritz Kolb und sein Freund Karl Popper, der in seinem bekanntesten Werk, „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, mit den „autoritären“ Gedankensystemen von Platon, Hegel und  Marx abrechnet und heute zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts zählt.

Nach dem Verbot der Kinderfreunde am 12. Februar 1934 werden auch die Kinder und ihre Erzieher vertrieben. Erst 1950 wird den Kinderfreunden als teilweise Wiedergutmachung die Errichtung eines Kindergartens im linken Teil des Gardetrakts ermöglicht.

Literatur: Jakob Bindel (Hrsg.), Die Schönbrunner. Vision, Erfüllung, Ausklang, 1990; Heinz Weiss, Das Rote Schönbrunn. Der Schönbrunner Kreis und die Reformpädagogik der Schönbrunner Schule, 2008.

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