Im Mai 1929 feiert das Rote Wien seinen „zehnten Geburtstag“ und damit auch sich selbst. Die rote Gemeindeverwaltung bevorzugt allerdings den Begriff „Neues Wien“.
Rechtzeitig zum zehnten Jahrestag der ersten Gemeinderatswahlen im Mai 1919 erscheint die Bilanz „Zehn Jahre Neues Wien“ in Buchform. Als Autor fungiert Robert Danneberg in seiner Funktion als Erster Präsident des Wiener Landtages. „Das Büchlein“, so eine Zeitungsnotiz in Der Tag, gibt „erschöpfend Aufschluß“ über die „Verfassung dieses neuen Wien, dessen Finanzpolitik, über das Schul- und Bildungswesen, das Wohlfahrtswesen, über die städtischen Unternehmungen sowie über die Angestellten der Gemeinde Wien“. Parallel dazu widmet die Illustrierte Der Kuckuck am 19. Mai den Errungenschaften der vergangenen zehn Jahre eine Doppelseite – wie immer glänzt die von Siegfried Weyr gestaltete Zeitschrift mit ihren Fotocollagen.
Es gibt wohl keine Stadt, über die in den letzten Jahren so viel gelogen worden ist wie über Wien. Es war als ein bolschewistisches Zentrum verschrien, als eine Stadt, die von ihren Verwaltern zugrunde gerichtet wird. […] Heute erscheinen im Wiener Rathaus Städtevertreter vom ganzen Erdenrund, um aus der Tätigkeit der sozialdemokratischen Stadtverwaltung zu lernen, schreibt Robert Danneberg in seinem Vorwort vom Oktober 1928.
Damals wie heute interessieren sich vor allem deutsche Kommunen dafür, was hier in Wien so passiert. Eine erste Darstellung erscheint bereits 1924 in der Berliner Zeitschrift Die Gesellschaft und wird als Sonderdruck unter dem Titel „Die sozialdemokratische Gemeindeverwaltung in Wien“ vom Verlag J.H.Dietz herausgebracht. Eine französische Übersetzung erscheint in Paris, eine englische in London. „Sie waren bald vergriffen.“
Es folgt eine gekürzte Ausgabe in ungarischer Sprache, „eine in tschechischer Sprache wird vorbereitet.“ Schließlich diene das „Aufbauwerk“ Wiens „nicht nur den Industriestädten Österreichs als Beispiel […], sondern lenkt die Aufmerksamkeit der Fachleute und Politiker vieler Länder auf sich“.
Der Verwaltungsexperte Danneberg erläutert die Finanz- und Steuerpolitik der Gemeinde Wien, die eine Reihe neuer Abgaben beinhaltet: Eine „Lustbarkeitsabgabe“, Abgaben auf Nahrungs- und Genußmittel, auf den „Verbrauch von Bier“, auf Kraftwägen und Hauspersonal, auf das Halten von Pferden und Hunden, sowie Fürsorge- und Fremdenzimmerabgaben. Hinzu kommen Boden- und Mietsteuern, vor allem aber die Wohnbausteuer, die von jedermann zu entrichten ist, „der im Gebiete der Stadt Wien vermietbare Räumlichkeiten in Gebäuden innehat“.
„Soweit nur irgend möglich, mußte jede Art von Luxus besteuert werden, schon aus sozialen Gründen, um in einer Zeit, in der Hunderttausende verelendeten, den kleinen Kreis neuer Reicher, der ein üppiges Leben führte, wenigstens dabei auch für die Allgemeinheit tributpflichtig zu machen.“ Robert Danneberg
Danneberg zieht auch Bilanz über die Jugendfürsorge, die Zahl der Geburten in den Wiener Entbindungsheimen und Gebärkliniken, die Sachbeihilfen der Jugendämter und die Einrichtungen der Jugendpflege, also die städtischen Horte und Tagesheimstätten. Der kommunalen „Armenhilfe“ der Gemeinde misst er besondere Bedeutung bei, da „in Österreich noch keine Invaliden- und Altersversicherung besteht.“ In der Gesundheitspflege legt er das Augenmerk auf die „Zahnpflege in den Schulen“ und die städtischen Zahnambulatorien, in denen allein im Jahr 1927 fast 25.000 Plomben gesetzt wurden.
Für 2000 Kinder hat Wien 7 große Tageserholungsstätten im Wienerwald eingerichtet, 31 Kinderspielplätze wurden geschaffen und 13 Eislaufplätze. Der Kuckuck
Bildung hat im Roten Wien seit jeher einen hohen Stellenwert. Dem Schulwesen komme, so Danneberg, „naturgemäß“ eine „außerordentliche Sorgfalt“ zu: „Ein Stück Schulreform besteht darin, daß das Bildungsprivileg der besitzenden Klassen abgebaut wird.“
Im Kapitel „Wohnungswesen“ widmet er sich der Wohnbausteuer und der „neuen Wohnkultur“, deren Grundsatz es sei, „möglichst gesunde und praktisch eingerichtete Wohnungen zu schaffen“. Das „Wohnhaus mit eingebauten Möbeln“ von Anton Brenner und das „Einküchenhaus“ in der Pilgerimgasse stehen für die Bereitschaft, „mit verschiedenen Wohnungstypen“ zu experimentieren.
Das Neue Wien hat in den ersten zehn Jahren auch die Erneuerung der Straßen in Angriff genommen, die Pflasterung zur „Bekämpfung der Staubplage“, die Modernisierung der Kehrichtabfuhr und die Beleuchtung der Straßen. „Der einst gefürchtete Straßenkehrer, der mit einem langen Besen in den Straßen hohe Staubwolken aufgewirbelt hat, ist in diesen zehn Jahren verschwunden“, schreibtDer Kuckuck. Und Danneberg ergänzt: „Die technischen Aufgaben der Gemeinde sind deshalb so groß, weil Wien vor dem Kriege vielfach rückständig war.“
Es wurden errichtet: 25 neue Badeanstalten, 20 Kinderfreibäder, 18 neue Gartenanlagen. Der Kuckuck
Neu eingerichtet und ausgestaltet werden auch die städtischen Bäder, die Parkanlagen und die Wiener Märkte. Zum Erhalt der „Volksgesundheit“ ist die Gemeinde auch an der Wiener öffentlichen Küchenbetriebsgesellschaft (Wök) beteiligt, die Kindergärten und Schulen „mit etwa 20.000 Portionen Essen täglich“ beliefert.
Modernisiert wurden auch die Straßenbahnen sowie die Gas- und Elektrizitätswerke. „Gas und elektrisches Licht sind erst durch die sozialdemokratische Verwaltung den breiten Massen zugänglich gemacht worden.“
„Künftige Geschlechter werden diesen Tag, da das arbeitende Volk die Geschicke unserer Stadt in die Hände nahm, als den Beginn der großen Wende feiern, da ein Neues, Großes Besitz von dieser Erde nahm“, heißt es am Ende des Kuckuck-Artikels nicht ohne Pathos.
Danneberg geht es nüchterner an: „Der Kapitalismus kann nicht von den Rathäusern aus beseitigt werden. Aber große Städte vermögen schon in der kapitalistischen Gesellschaft ein tüchtiges Stück sozialistischer Arbeit zu leisten.“