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0159 | 31. JULI 2024    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Ein vergebliches Opfer

Am 31. Juli 1914 wird der französische Sozialist und Pazifist Jean Jaurès in Paris ermordet. Tags darauf erklärt Deutschland Russland den Krieg. 

Der 1859 im südfranzösischen Castres in eine kleinstädtisch-bürgerliche Familie geborene Jean ist ein brillanter Schüler und erhält daher die Möglichkeit, an der Elitehochschule École normale supérieure in Paris zu studieren, die er 1881 mit dem prestigeträchtigen Staatsexamen abschließt.

Er ist als Lehrer in Albi, anschließend als Dozent in Toulouse tätig und heiratet 1886 Louise Bois, die Tochter eines Großhändlers, mit der er zwei Kinder haben wird. Sein 1898 geborener Sohn Louis wird wenige Monate vor Kriegsende in der zweiten Marneschlacht sterben.

Jüngster Abgeordneter

Seine politische Karriere beginnt Jaurès als linksliberaler Kandidat der „Republikaner“ im Lager des prononciert laizistischen Befürworters der französischen Kolonialpolitik Jules Ferry. 1885 wird er als jüngster Abgeordneter in die Nationalversammlung gewählt. Den radikalen Sozialisten, die die Anwendung von Gewalt befürworten, begegnet er mit Misstrauen, die „Gemäßigten“ erscheinen ihm zu gleichgültig gegenüber dem realen Elend der Arbeiterschaft. Den Aufstieg des populistischen und autoritären Georges Boulanger, der auch in linken Milieus reussiert, bekämpft Jaurès nach Kräften.

1889 verliert Jean Jaurès seinen Sitz gegen den monarchistischen Gegenkandidaten, nimmt seine Lehrtätigkeit an der Universität in Toulouse wieder auf, wo er 1892 auch promoviert, arbeitet bei der Zeitung „La Dépêche du Midi“, später beim „Midi Socialiste“, widmet sich ganz der Lokalpolitik und nähert sich mit der Zeit dem sozialistischen Lager an. 1893 tritt er bei den Wahlen als „unabhängiger Linker“ an und zieht mit rund weiteren 50 Sozialisten wieder in die Nationalversammlung ein.

Vom Republikaner zum Sozialisten

1892 treten die Minenarbeiter von Carnaux in den Streik. Auslöser ist die Entlassung des sozialistischen Gewerkschafters Jean-Baptiste Calvignac, der zum Bürgermeister des Ortes gewählt und von dem Minenunternehmen wegen seiner ständigen „Absenzen“ sanktioniert worden war. Am Ende des langan­dauernden Ausstandes, bei dem die Regierung, die sogar Soldaten in Marsch gesetzt hatte, nachgeben muss, ist aus dem bürgerlichen Republikaner Jaurès ein Sozialist geworden.

1895 unterstützt er die Streik­bewegung der Glaserzeuger von Albi, die schließlich in der Gründung einer selbst­verwalteten Arbeiter-Glasfabrik mündet, dem ersten großen Unternehmen dieser Art.

Leidenschaftlich ergreift Jaurès auch Partei für den zu Unrecht des Hochverrats angeklagten Alfred Dreyfus, eine 12 Jahre andauernde „Affäre“, die das gesamte Land spaltet. Während viele Linke sich lange Zeit weigern, den „bürgerlichen Offizier“ zu verteidigen, argumentiert Jaurès, Dreyfus sei, würde er zu Unrecht verurteilt, „weder Offizier noch Bürger“. Die ihm widerfahrene Gesetz­widrigkeit habe ihn vielmehr jeder Klassenzugehörigkeit „entkleidet“. Durch sein Engagement in der Dreyfus-Affäre wird Jaurès endgültig zu einem Politiker mit nationalem Einfluss.

Ein „Gründervater“

1902 gehört er zu den Mitbegründern des Parti socialiste français (PSF); zwei Jahre später ruft er gemeinsam mit dem späteren Ministerpräsidenten Aristide Briand die Zeitung „L'Humanité“ ins Leben, die er bis zu seinem Tod auch leiten wird.

Das 1905 beschlossene Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat – bis heute einer der Grundpfeiler der französischen Republik – geht in weiten Teilen auf seine Initiative zurück. Im selben Jahr ist Jaurès einer der wichtigsten Proponenten bei der Gründung der Section française de l'Internationale ouvrière (SFIO), die die konkurrierenden sozialistischen und sozial­demokratischen Bewegungen des Landes eint. Mit seiner reformistischen Position gerät er allerdings immer wieder in Opposition zur revolutionären marxistischen Linken.

Ein leidenschaftlicher Pazifist

In seinen letzten Lebensjahren widmet Jean Jaurès den größten Teil seines politischen Engagements der Verhinderung eines großen Kriegsausbruches, den er aufgrund des europaweiten Anstiegs des Nationalismus bereits vorhersieht. Bei Friedens­demonstrationen und im Parlament tritt er für eine politische Verständigung mit Deutschland ein, was ihn bei der politischen Rechten verhasst macht. Er wird als „Verräter“ denunziert; im Paris-Midivom 17. Juli 1914 ruft der Journalist Maurice de Waleffe gar dazu auf,„dem Bürger Jaurès aus nächster Nähe jenes Blei zu verpassen, das ihm im Hirn fehlt“.

Bricht der Krieg aus, dann wird er sich gleich einer Seuche verbreiten und zum schrecklichsten Völkermord seit dem Dreißigjährigen Krieg führen.

Noch am 31. Juli 1914 unternimmt Jean Jaurès, zunächst im Abgeordnetenhaus, dann im Außenministerium, alles, um eine Kriegserklärung Frankreichs zu verhindern. Am späten Nachmittag verfasst er einen flammenden Friedensappel für die Humanité und trifft sich abends mit seinen Mitarbeitern im Café du Croissant in Montmatre. Hier wird Jaurès gegen halb zehn Uhr abends vom Nationalisten Raoul Villain erschossen.


Paradoxerweise führt Jaurès’ Tod dazu, dass sich die französische Linke schließlich der „heiligen Union“ der Kriegsbefürworter anschließt. Gustave Hervé, bis dahin Kriegsgegner, schreibt am 1. August: „Sie haben Jaurès ermordet, wir werden Frankreich nicht ermorden!“ Die Zeitung „Le Bonnet rouge“ titelt„Zu den Waffen, Bürger!“ und greift die Parole der Französischen Revolution auf: „Frieden den Völkern! Krieg den Königen!“

Jaurès Mörder Raoul Villain wird 1919 freigesprochen, Jaurès’ Witwe zur Übernahme der Prozesskosten verurteilt.

Jean Jaurès sterbliche Überreste werden am 23. Dezember 1924 von Albi ins Pariser Panthéon überführt. Kurt Tucholsky schreibt in der „Weltbühne“: Am 31. Juli 1914 hat ein Leser der französischen Lokalanzeiger im Café du Croissant der Rue Montmartre den großen Sozialisten Jean Jaurès ermordet. Der war noch am Morgen dieses Tages ins Parlament gestürzt, die Nachricht von der Verkündigung des ‚Kriegsgefahr­zustands‘ in der Tasche, hatte die genaue Bedeutung des Wortes im Lexikon nachgeschlagen und in unverwüstlichem Glauben ausgerufen ‚Ce n'est pas encore la guerre!‘ Das ist noch nicht der Krieg!

In zahlreichen französischen Kommunen sind Straßen und Plätze, in Paris, Lille und Toulouse auch U-Bahn-Stationen nach Jean Jaurès benannt. Mehrere hundert Schulen tragen seinen Namen, seit 2014 auch die Universität von Toulouse. Im Roten Wien wird die Jaurèsgasse im Jahr 1919 und wenige Jahre später eine Wohnhausanlage in Favoriten Jean-Jaurès-Hof benannt.

Literatur: Heinz Abosch, Jean Jaurès. Die vergebliche Hoffnung, 1986; Jost Meyen, Jean Jaurès. Ein Leben für den Frieden, 2018.

Sonderausstellung im Waschsalon Karl-Marx-Hof 2014/15

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