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Aktuelle Seite: „Eine Gruppenangelegenheit“
0116 | 26. JUNI 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Eine Gruppen­angelegenheit“

Im Juni 1933 erscheint die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein sozio­graphischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit“ im Leipziger Verlag von S. Hirzel.

Marienthal ist kein Ort, sondern der Name einer Fabrik und der dazugehörigen Arbeiter­siedlung in der Marktgemeinde Gramatneusiedl, etwa 30 km südöstlich von Wien.Im Jahr 1820 richtet der Kärntner Erfinder Franz Xaver Wurm hier eine erste „Flachs- und Werg-Spinnfabrik“ in einer alten Mühle ein. 1830 erwirbt der Wiener Bankier Hermann Todesco die zwischenzeitlich stillgelegte Fabrik und errichtet die „K.k. priv. Marien­thaler Baumwoll-Gespinnst und Woll-Waaren-Manufactur-Fabrik“. Fünf Jahre später zählt der Betrieb 286 Beschäftigte in der Spinnerei und 73 in der ersten mit Wasserkraft betriebenen Baumwoll­weberei Österreichs. Die Arbeiter rekrutieren sich anfangs über­wiegend aus Einheimischen, bald siedeln sich vermehrt Zuwanderer aus Böhmen und Mähren an.

Todesko [sic!], Herr der Fabrik und zugleich Herr des Ortes, fühlte sich für dessen Geschick verantwortlich. Zwischen ihm und seiner Arbeiterschaft herrschte ein patriarchalisches Verhältnis. Freilich waren die Löhne knapp, und schon die Kinder mußten in drei Schichten acht Stunden am Tag arbeiten; aber niemand in der Welt kannte es damals anders.

Einförmig wie die Gegend ist der Ort.

1833 lässt Hermann Todesco für die Kinder „seiner Arbeiter“ eine Fabrikschule einrichten, ein Lehrer aus Gramatneusiedl unterrichtet sie in zwei Schichten täglich jeweils zwei Stunden in Lesen, Schreiben und Rechnen; an Sonn- und Feiertagen erteilt der Pfarrer von Moosbrunn Unterricht in Religion. Ebenfalls auf Initiative Hermann Todescos wird 1844 eine „Kinderbewahranstalt“ für die Kleinsten eröffnet.

1845 übernimmt Todescos ältester Sohn Max (1813–1890) den Betrieb. Die Anbindung an das Eisenbahnnetz bringt der Fabrik einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. 1864 fusioniert sie mit der nahen Baumwoll­spinnerei Trumau zur „Marienthaler und Trumauer Actien-Spinn-Fabriks-Gesellschaft“. In den folgenden Jahren entstehen in dem kleinen Industrieort eine beinahe städtische Infrastruktur und ein reges Vereinswesen.

Die Arbeit in Spinn- und Webereibetrieben ist ungesund. Der Staub greift die Atmungsorgane an, der ohrenbetäubende Lärm der Maschinen zerrüttet die Nerven. Die Belegschaft solcher Betriebe ist ständig tuberkulosegefährdet; in Marienthal waren es nach Angabe des Arztes früher 90 Prozent.

Der kluge Kapitalist schaut auf seine Arbeiter

Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts richtet die Direktion einen Unter­stützungsfonds für die Arbeiter sowie ein erstes Krankenzimmer ein. Das 1864 entstandene Fabrikspital verfügt neben Krankensälen über eine Bade­anstalt mit Wannen, Brausen und Dampfbad, eine eigene Apotheke sowie Wohnräume für den Arzt und die Krankenwärterin.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht die „Arbeitersiedlung Marienthal“ mit 140 Wohnungen. Weitere Arbeiterwohnungen werden rund um die Fabrik errichtet, zum Teil auch in ehemaligen Fabrik­gebäuden. 1864 initiiert der damalige Generaldirektor der Fabrik sogar die Gründung eines Consum-Vereins, der in ein eigenes Gebäude an der Hauptstraße einzieht. Verwaltung und Leitung befinden sich in den Händen der Arbeiterschaft. Die Lebensmittel­preise im Consum liegen um bis zu 25 Prozent unter den ortsüblichen.

Zeitgleich entstehen in dem kleinen Industrieort zahlreiche Geschäfte und Gewerbebetriebe. 1881 lässt die Fabrikleitung sogar einen eigenen Tanz- und Theatersaal errichten, in dem der Dilettanten-Verein Thalia, später Arbeiter-Theater-Section Marienthal, für kulturelles Leben sorgt. Ab 1894 rundet ein Musik­pavillon mit Kegelbahn im „Herrengarten“ das Freizeit­angebot ab. Fast schon eine Kleinstadt...

[…] jeder Marienthaler, der etwas auf sich hielt, fuhr mindestens einmal in der Woche mit seiner Frau nach Wien, ging ins Theater oder sonst wohin. […] Aber auch Marienthal selbst war von Leben erfüllt: Feiern und Veranstaltungen, besonders zur Karnevalszeit, haben dem Ort in der ganzen Umgebung das Renommée besonderer Lebenslust gebracht; Marienthal war sogar das maßgebende Modezentrum für die umliegenden Dörfer.

Arbeiterbewegung in Marienthal

1890 kommt es in der Fabrik zu einem ersten Lohnstreik; ein Jahr später gründet sich der Verein der Textilarbeiter Marienthals, der jedoch bald darauf von den Behörden aufgelöst wird. 1906 wird auf Initiative zweier Arbeiter eine Ortgruppe der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpartei (SDAP) gegründet – die beiden landen daraufhin prompt auf einer „schwarzen Liste“. Es hilft alles nichts: Ein Jahr später wählen bereits drei Viertel der Marienthaler Männer die SDAP.

In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg leidet die Fabrik unter dem Verlust der Absatz­märkte, aber auch unter Rohstoffmangel. Die Arbeitslosigkeit im Ort erreicht im Jahr 1924 erstmals 44 Prozent. 1925 übernimmt die „Vereinigte Österreichische Textil-Industrie Mautner Aktien­gesellschaft“ von Isidor Mautner die Aktienmehrheit.

Im selben Jahr erwirbt eine auf Initiative von Bürgermeister Josef Bilkovsky gegründete Genossenschaft ein Grundstück zur Errichtung eines eigenen Arbeiterheims, das der Orts­gruppe der SDAP als Vereinslokal dienen und Raum für Versammlungen, Vorträge, Theater­aufführungen und Konzerte bieten soll. Die zur Errichtung nötigen Mittel werden durch die Ausgabe von Anteilsscheinen („Bausteine“) sowie durch freiwillige Spenden aufgebracht. Die ebenfalls hier beheimatete und 1.300 Bände umfassende Arbeiterbibliothek geht im Bürger­krieg 1934 verloren.

Aus 1300 Arbeitern wurden 1300 Arbeitslose.

Ende der 1920er Jahre besteht die Fabrik aus drei Hauptbetrieben: Spinnerei, Weberei und Druckerei. Dazu kommen noch Färberei, Wäscherei und Bleiche sowie zwei Appreturen, in denen die Stoffe einer veredelnden Behandlung unterzogen werden. Zusätzlich gibt es im Ort eine Reihe von Handwerks­betrieben für den eigenen Bedarf der Bevölkerung – Schmiede, Schlosserei, Eisendreherei, Tischlerei und Zimmerei.

1929 erreicht der Betrieb mit 1.200 Arbeiterinnen und Arbeitern sowie 90 Angestellten seinen Beschäftigtenhöchststand. Dann trifft die Weltwirtschafts­krise auch das kleine Marienthal mit voller Wucht.

Im Juni 1929 wird die Spinnerei geschlossen, im Juli die Weberei, bald darauf folgen die Druckerei, die Bleiche und die Appretur. Am 12. Februar 1930 stellt die Firma ihren Betrieb ein. In den folgenden Monaten wird ein Teil der Anlagen abgetragen, der Großteil der Maschinen verkauft. In der Fabrik ist es still geworden. Irgendwo hört man über die leeren Höfe hin einen klingenden Hammer alte Ziegeln aus der Mauer schlagen. Das ist die letzte Arbeit, die die Fabrik zu vergeben hat.

Die Marienthal-Studie

1931 plant der aus einer bekannten großbürgerlichen Familie stammende und in Mathematik und Physik graduierte Paul Felix Lazarsfeld eine Studie über das „Freizeitverhalten“ der Wiener. Parteichef Otto Bauer findet dieses Vorhaben – angesichts der Massen­arbeits­losigkeit – jedoch „albern“ und regt seinerseits eine wissenschaftliche Studie über das Phänomen der Arbeits­losigkeit an.

Den entscheidenden Anstoß zur Wahl Marienthals gibt wohl eine Reportage im Kleinen Blatt: Gramatneusiedl. Schnellzüge rollen donnernd vorüber. Kommend aus Athen, Belgrad, Budapest. Rasen nach Wien, Genf, Paris. Kaum zehn Sekunden lang blicken die Schornsteine der Textilfabrik, das Turmkreuz der Kirche, die von Eiszapfen übersäten Dächer und der unscheinbare Bahnhof durch die breiten, spiegelblanken Waggonfenster. […] Aber hinter dieser ewig gleichen Kulisse wohnen Menschen. Hinter ihr spielt sich die Tragödie einer Industriegemeinde ab […] Aus 1300 Arbeitern wurden 1300 Arbeitslose.

Lazarsfeld, der seit 1927 mit der Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda verheiratet ist, gründet die Österreichische Wirtschafts­psychologische Forschungsstelle und wird Initiator sowie organisatorischer und konzeptioneller Leiter der Studie.

Durchgeführt wird sie von einem siebzehn Personen umfassenden Team, dem u.a. Marie Jahoda, ihre Cousine Clara und ihre Schwägerin Hedwig, der Journalist Ludwig Wagner und seine Frau Gertrude, Hans Zeisel und seine Schwester Ilse, Lotte Schenk-Danzinger, die Ärztin Josefine Stross und der Arzt Paul Stein sowie die ehemalige Gemeinderätin Marie Kramer-Deutsch und der spätere Diplomat Walter Wodak angehören. Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, daß kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte, sondern daß sich jeder durch irgendeine, auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben natürlich einzufügen hatte.

Denn was zwischen den drei Orientierungspunkten Aufstehen – Essen – Schlafengehen liegt, die Pausen, das Nichtstun ist selbst für den Beobachter, sicher für den Arbeitslosen schwer beschreibbar. Er weiß nur: Einstweilen wird es Mittag.

Unter anderem werden ein Schnittzeichenkurs und ein Turnkurs für Mädchen durchgeführt; es gibt kostenlose ärztliche Beratung und Behandlung sowie Beratungsangebote in Fragen der Erziehung und Haushaltsführung. Der Großteil der Erhebungen geht auf Lotte Danzinger zurück, die in ihrer Funktion als Leiterin der Winterhilfsaktion engen Kontakt zur Bevölkerung knüpft.

Methoden werden entwickelt

Wegweisend an der Marienthal-Studie ist die Kombination der angewandten Methoden, von denen viele überhaupt erst im Laufe der Erhebungen entwickelt werden. Das Forscherteam erstellt Statistiken und legt Katasterblätter an, führt Befragungen durch, notiert Lebensläufe, analysiert Zeitverwendungsbögen und misst – auf Anregung von Hans Zeisel – sogar die Gehgeschwindigkeiten.

[…] charakteristischerweise zeigen viele Wunschaufsätze von Marienthaler Kindern eine Sonderbarkeit: fast ein Drittel von ihnen ist im Konjunktiv geschrieben. [...] Ein 11jähriger Hauptschüler schreibt: „Wenn die Eltern Geld gehabt hätten, hätte ich mit gewünscht: eine Geige, einen Anzug, Plakatfarben, einen Pinsel, ein Buch, Schlittschuhe und einen Rock. Ich bekam einen Winterrock.

Das Team sammelt die Lebens­geschichten von 32 Männern und 30 Frauen und legt Wert darauf, daß über ganze Lebensläufe berichtet wird. Auch die Kinder des Ortes werden in die Forschung einbezogen. Sie schreiben Aufsätze über Themen wie „Mein Lieblingswunsch“, „Was will ich werden“ oder „Was ich mir zu Weih­nachten wünsche“.

Analysiert werden selbst die bei der Gendarmerie eingegangenen „Anzeigen von Marien­thalern gegen Marienthaler“ – sie geben Aufschluss über die Stimmung im Ort. Wenn Katzen oder Hunde verschwinden, fällt es den Besitzern gar nicht mehr ein, Anzeige zu erstatten: man weiß, daß sie von irgend jemandem gegessen wurden und forscht nicht nach dem Namen.

Die Autorin

Die Erhebungen in Marienthal stehen unter ständiger Beobachtung durch die örtliche Gendarmerie. In einem Bericht des Postenkommandos Gramatneusiedl an die Bezirks­hauptmannschaft Mödling vom 19. Dezember 1931 heißt es: Seit November 1931 betreiben angeblich Studierende des Psychologischen-Institutes der Wiener Universität unter der arbeits­­losen Bevölkerung von Marienthal angeblich Studien…

Die Feldforschung dauert bis Mai 1932, die Auswertung des Materials erfolgt im Frühsommer in der Wirtschaftspsycho­logischen Forschungsstelle. 

Im Sommer zieht sich Marie Jahoda mit dem Material in die Berge zurück und verfasst dort innerhalb weniger Wochen den Haupttext der Studie. Die literarische Qualität des Textes ist Jahodas Verdienst – sie versteht sich zu dieser Zeit auch als Schriftstellerin.

Der ganze Stil der Produktion von Marienthal war eine Gruppen­angelegenheit. Paul Lazarsfeld zum Beispiel hat nicht ein einziges Wort an dem Buch geschrieben. [...] Wir hatten regelmäßige Gruppen­zusammenkünfte, wo jeder, der in Marienthal war, berichtet hat – Anekdoten, Eindrücke, Ideen, wie man quantifizieren könnte –, und Lazarsfeld war der leitende Einfluß, der das kristallisierte, berichtet Marie Jahoda 1979.

Erschienen..., und vergessen

Bei der Veröffentlichung der Arbeit in einem Leipziger Verlag nur wenige Monate nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland werden die Autoren namentlich nicht genannt – wahrscheinlich wegen der „jüdischen Herkunft“ einiger Mitarbeiter und ihrer Verbindung zur Sozialdemokratie. Im Vorwort der Erst­ausgabe heißt es: Da der Text, wie er hier vorliegt, immer wieder umgearbeitet wurde, läßt sich der Anteil der Autoren und des Herausgebers an ihm nicht trennen.

In den USA, in Frankreich, Holland, Italien und Belgien erscheinen einige wohlwollende Rezensionen, und auch in Deutschland, wo das Thema Arbeitslosigkeit eine zentrale Rolle spielt, wird die Studie lobend besprochen. In Österreich wird sie hingegen kaum wahrgenommen, nur die Leiterin des Referats für Frauenarbeit in der Wiener Arbeiterkammer, Käthe Leichter, erkennt ihre Bedeutung: […] mit ihrem erschütternden Tatsachenmaterial, mit ihrer methodischen Neuartigkeit und Gründlichkeit, mit ihrer packenden Darstellung [ist sie, Anm.] das B e s t e, was bisher über die Wirkung der Arbeitslosigkeit geschrieben wurde.

Marienthal ist an der Arbeitslosigkeit erkrankt. […] Die Marienthaler Textilarbeiter, die so viel Wäsche für andere erzeugt haben, besitzen jetzt bald selbst kaum mehr ein paar ganze Hemden.Der Kuckuck, Nr. 27, 1933

Späte Anerkennung

Mit dem Krieg gerät die bahnbrechende Studie in Vergessenheit. Erst die Neuausgabe im Jahr 1960 macht sie einem größeren Leserkreis zugänglich. Und mit der englischsprachigen Ausgabe wird „Marienthal“ 1971 endgültig zum Klassiker der empirischen Sozialforschung.

Unter den Schlussfolgerungen der Marienthal-Studie ist jene der „müden Gemeinschaft“ von besonderer Brisanz. Sie steht in diametralem Gegensatz zu der – auch unter Linken – weitverbreiteten Vorstellung vom Arbeitslosen als „revolutionärem Subjekt". Marie Jahoda bringt es 1981 auf den Punkt: Arbeitslosigkeit führt zur Resignation, nicht zur Revolution.

Im originalgetreu wiedererrichteten Gebäude des ehemaligen Consum-Vereins ist seit 2011 das von der Marktgemeinde Gramatneusiedl eingerichtete und vom Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich gestaltete Museum Marienthal zu besichtigen.

Literatur
Arbeit und Wirtschaft Nr.7, 1933; Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit, 1933 /1960/1975; Mathias Greffrath, „Ich habe die Welt nicht verändert.“ Gespräch mit Marie Jahoda, in: Die Zerstörung einer Zukunft, 1979; Reinhard Müller, Marienthal. Das Dorf – Die Arbeitslosen – Die Studie, 2008.

DIE ARBEITSLOSEN VON MARIENTHAL

Sonderausstellung im Waschsalon 2013/14

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