Am 4. Mai 1919 finden in Wien die ersten Gemeinderatswahlen nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht statt. Die Sozialdemokraten erringen einen fulminanten und in dieser Höhe nicht erwarteten Sieg und erhalten 100 der 165 zu vergebenden Mandate.
Die Christlichsozialen kommen auf 50, die Tschechoslowakische Partei (PSDČ) auf acht, die Großdeutschen auf zwei, die liberale Vereinigte Demokratische Partei auf zwei und die zionistische Jüdischnationale Partei auf drei Sitze.
Das auf Gemeindeebene bis 1919 geltende undemokratische Kurienwahlrecht, das überdies auf Männer beschränkt war, hatte dazu geführt, dass der Gemeinderat und damit auch der Wiener Bürgermeister nur von wenigen Prozent der männlichen Wiener Bevölkerung gewählt worden waren. Die Abgeordneten wurden bis dahin in drei, ab 1900 in vier Wahlkörpern (Kurien) mit höchst unterschiedlicher Stimmgewichtung gewählt, weshalb die Christlichsozialen auch nach dem Tod des populären Bürgermeisters Karl Luegers im Jahr 1910 den Bürgermeister stellten, obwohl die Sozialdemokraten längst eine Stimmenmehrheit in der Stadt erzielen konnten.
Im Wahlkampf des Jahres 1919 spielen die Christlichsozialen wie gewohnt die Antisemitismuskarte aus. „Laßt euch Euren gesunden Wiener Sinn durch verhetzende Schlagworte und jüdische Verdrehungen nicht trüben! Angesichts der großartigen Leistungen der christlichsozialen Gemeindeverwaltung liegt es in Eurem und Eurer Kinder Interesse, daß diese volksfreundliche Tätigkeit im Wiener Rathaus keine verhängnisvolle Unterbrechung erleidet“, heißt es in einem Flugblatt der CS. Die SDAP hingegen fordert eine „Abrechnung mit dem profithungrigen Kapitalismus und der Herrschaft der Christlichsozialen“.
Denen ist vor allem das allgemeine und gleiche Wahlrecht ein Dorn im Auge. Ihr Zentralorgan, die Reichspost, hetzt noch am Tag der Wahl gegen den „Galizier, der vorgestern auf dem Nordbahnhof landete“, gegen den Analphabeten, „der irgendwo aus einem Huzulenwalde hereingeschneit kommt“ und gegen „die zahllosen Glücksritter und Schmarotzerexistenzen des Großstadtlebens“, denen der „bodenständige Wiener“ gegenübergestellt wird, dessen Heimat nun „zu verdorren“ droht.
Am Tag nach der Wahl bemüht sich die Reichspost verzweifelt, eine Niederlage der Sozialdemokratie herbeizuschreiben: Die Sozialdemokratie hat die Mehrheit im Wiener Gemeinderat und im Landtage errungen, wie es nach der Einführung dieses schrankenlosen Wahlrechtes […] zu erwarten war. Und dennoch ist dieser Sieg eine Niederlage. […] Dem Sieger von gestern sitzt schon der Tod im Hause…
Die bürgerliche Neue Freie Presse hingegen ist sich der Tragweite dieses Wahlergebnisses wohl bewusst: London, Paris, Berlin und Newyork, keine einzige von den führenden Millionenstädten der großen Völker hat eine sozialistische Mehrheit. Wien ist darin eine Ausnahme. Die Bedeutung dieses Ereignisses herabsetzen […], wäre ein Fehler. Und die Jüdische Korrespondenz, das Wochenblatt für jüdische Interessen, resümiert: Wien, die viertgrößte Stadt Europas, ist von der Schande befreit, von einer blutrünstigen Hetzpartei beherrscht zu werden.
Der neu gewählte Gemeinderat wird am 22. Mai angelobt. Von den 100 Mandaten der SDAP gehen 16 an Frauen, u.a. an Adelheid Popp, Anna Boschek, Gabriele Proft und Emmy Freundlich. Als die tschechischen Mandatare vor der deutschen Gelöbnisformel eine tschechische sprechen, kommt es zu heftigen Protesten der Deutschnationalen und der Konservativen.
Die christlichsoziale Hinterlassenschaft ist entsetzlich: die Kassen der Gemeinde sind leer.Arbeiter-Zeitung
Jakob Reumann wird zum ersten sozialdemokratischen Bürgermeister Wiens gewählt und Wien damit die erste Millionenstadt der Welt mit einer sozialdemokratisch geführten Verwaltung. Und diese hat es zu Beginn gar nicht leicht.
Dennoch werden in Reumanns Amtszeit die Grundlagen des Roten Wien gelegt – der Beginn des kommunalen Wohnbaus, die Einleitung der großen Schul- und Sozialreformen und die ersten Schritte zur Schaffung von neuen Grünanlagen und modernen Freizeiteinrichtungen.
Der neue Gemeinderat wählt vorerst einen 30-köpfigen Stadtrat als Exekutivausschuss. Ab 1. Juni 1920 wird daraus ein aus zehn amtsführenden und drei nicht amtsführenden Stadträten bestehenden Stadtsenat. Mit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung am 10. November 1920 konstituiert sich der Wiener Gemeinderat als Landtag und beschließt in seiner ersten Sitzung die Wiener Stadtverfassung, die die Funktionsweise der politischen Organe Wiens in seiner Eigenschaft als Gemeinde und als Bundesland regelt. Die vollständige Trennung Wiens von Niederösterreich wird mit dem „Trennungsgesetz“ vom 29. Dezember 1921 vollzogen.
Georg Emmerling, Vizebürgermeister und Landeshauptmannstellvertreter, übernimmt in der Landesregierung das Ressort Städtische Unternehmungen, Hugo Breitner das Finanzwesen, Quirin Kokrda die Ernährungs- und Wirtschaftsangelegenheiten, Karl Richter die Allgemeinen Verwaltungsangelegenheiten, Franz Siegel die Technischen Angelegenheiten, Paul Speiser die Personalangelegenheiten und die Verwaltungsreform, Julius Tandler das neugeschaffene Ressort Wohlfahrtseinrichtungen, Jugendfürsorge und Gesundheitswesen, Julius Grünwald, dem 1922 Anton Weber folgen wird, die Sozialpolitik und das Wohnungswesen. Die vier christlichsozialen Vertreter im Stadtsenat erhalten keine Ressorts.
Der Wiener Gemeinderat wird 1923 auf 120 Abgeordnete verkleinert, 1932 auf 100. Die SDAP wird bei den Wahlen 1923 ihr Ergebnis auf nahezu 56% steigern, 1927 mit über 60% ihr bestes Ergebnis erzielen und auch 1932, als die NSDAP erstmals antritt und auf Anhieb 17,4% erhält, immerhin noch 59% erreichen.