Es ist, als hätte Ottakring ein Kind bekommen... Die neue Wohnkolonie auf der Sandleiten, die nahezu zehntausend Menschen beherbergt, ist eine Sehenswürdigkeit, wie sie kaum eine andere Stadt der Welt aufzuweisen hat. So euphorisch beschreibt der Ottakringer Bezirksrat und Schriftsteller Robert Ascher in seinem Artikel in der Arbeiter-Zeitung vom 3. November 1928 die neue Wohnhausanlage auf der Sandleiten.
Die Sandleiten, so Ascher weiter, war lange Zeit die Mistkiste von Wien, wo der Müll, der Staub und Schmutz der Straßen und tausender Wohnungen, Werkstätten, Fabriken, sowie die Abfälle menschlicher Arbeit und Nutzung, kurz alles, was man in den Mist wirft, abgelagert wurden.
Die Gemeinde Wien erwirbt die ehemaligen Sandgruben in Ottakring bereits während des Ersten Weltkriegs. Ein geeigneter Verbauungsplan ist allerdings nur schwierig zu erstellen, da das Gelände „von Süden nach Norden um 26 Meter“ ansteigt. Und: Es herrscht Krieg...
Nach Kriegsende wird von der – mittlerweile sozialdemokratisch verwalteten – Gemeinde ein Wettbewerb unter mehreren Architektengemeinschaften ausgeschrieben, bei dem etwa Ernst Lichtblau das Projekt einer kreisförmigen Verbauung einreicht. Die Jury kürt schließlich den Entwurf der Gemeinschaft Emil Hoppe, Otto Schönthal und Franz Matuschek zum Siegerprojekt und weist ihnen den größeren Teil der Verbauung südlich der Rosenackerstraße zu.
Der nördliche Teil in offener Bauweise wird zwei anderen Gemeinschaften zugesprochen, nämlich Siegfried Theiß und Hans Jaksch, den späteren Architekten der Reichsbrücke und des ersten Wiener Hochhauses in der Herrengasse, bzw. Franz Krauß, dem Architekten der Wiener Volksoper, und seinem Partner Josef Tölk. Der Auftrag zur Errichtung des Kindergartens und der Bücherei geht an Erich Leischner, die Gesamtprojektleitung liegt bei Oberstadtbaurat Josef Bittner.
Die Planung der Anlage ist auf 5.000 bis 6.000 Bewohnerinnen und Bewohnern angelegt. Laut Vorgabe sollten die Architekten auf große Binnenhöfe für Spielplätze und Grünflächen besonderen Bedacht nehmen. Die Bauarbeiten beginnen 1924, 1928 ist die Anlage fertiggestellt.
Im Laufe der vierjährigen Bauzeit sind bis zu 2.000 Arbeiter beschäftigt, das Baumaterial wird von der Station der Vorortelinie in Hernals per Schleppbahn zur Baustelle gebracht – bis zu 100 Waggons täglich. Verbaut werden 28,5 Prozent der Gesamtfläche, der Rest entfällt auf Gartenanlagen, Spielplätze und Verkehrsflächen. Mit 1.576 Wohnungen ist Sandleiten die größte Wohnanlage des Roten Wien der Ersten Republik.
So waren zum Beispiel 4300 Stück Fenster, 8000 Stück Türen, 18.000 m Stufen erforderlich.
Errichtet werden in erster Linie Kleinwohnungen im Ausmaß von 35 m2 mit Wohnküche und Zimmer bzw. von 45 m2 mit Küche, Zimmer und Kammer. Angesichts der Infrastruktur dieser „Stadt in der Stadt“ gerät Robert Ascher in seiner Reportage ins Schwelgen: Da ist die Apotheke und das Postamt, der Konditor, der Friseur, der Pferdefleischhauer, der Feinkosthändler, da findet man den Kürschner, Uhrmacher, Kleiderhändler, Drechsler, die Modistin, ein Schnittwarengeschäft, den Konsumverein, das Kaffeehaus, das auch auf der Ringstraße stehen könnte, [...] den Theatersaal, in dem Kino- und Theatervorstellungen abwechseln, die Restauration mit ihren fast luxuriös ausgestatteten Klub- und Extrazimmern.
Insgesamt beherbergt der Hof 75 Geschäftslokale, ein Gast- und Kaffeehaus, drei Ateliers, 58 Werkstätten, 71 Magazine, eine Kehrichtsammelstelle, drei Bade- und Wäschereianlagen, eine elegant eingerichtete Volksbibliothek, ein modernes Kindergartengebäude mit großem Planschbecken und mehrere Kinderhorte. Der Kino- und Theatersaal ist für 600 Personen ausgelegt. Und in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wohnhausanlage werden der Kongresspark und das legendäre Kongressbad errichtet.
Ottakring hat alle Ursache, auf dieses städtebauliche Doppelgeschenk stolz zu sein.
Im Unterschied zu anderen großen Wohnhausanlagen des Roten Wien handelt es sich beim Sandleitenhof um keine geschlossene Randbebauung, sondern um eine nach allen Seiten hin offene Anlage. Im unteren Teil, in dem auch das emblematische „Hochhaus“ nicht fehlen darf, dominiert eine Blockverbauung. Gassennnamen erinnern hier an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Das Zentrum bildet der Matteottiplatz mit seinem repräsentativen Brunnen – eine bauliche Reminiszenz an italienische Plätze. Eine zweite Brunnenanlage führt zum erhöht gelegen Teil mit einer villenartigen Verbauung, kleinen Plätzen, Treppengiebeln und expressiven Ornamenten.
Die Architekten, zum überwiegenden Teil Otto-Wagner-Schüler, haben hier ganz offensichtlich die städtebaulichen Überlegungen von dessen Rivalen Camillo Sitte übernommen. In seinem Buch „Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ schreibt der Verfechter des „malerischen Städtebaus“ und Gegner der Moderne 1889: Das Streben nach Symmetrie ist bis zur Modekrankheit aufgewuchert. Heute ist der Begriff des Symmetrischen schon jedem Mindergebildeten geläufig und dünkt sich Jeder berufen, in so schwierigen Kunstfragen, wie die des Städtebaues, ein Wort mitzureden, denn die allein ausschlaggebende Regel hat auch er im kleinen Finger – die Symmetrie.
Der deutsche Architekturhistoriker Gert Kähler merkt in seiner vergleichenden Studie der Modelle sozialen Wohnens in Hamburg, Frankfurt und Wien zum Sandleitenhof an: Die gesamte Anlage wirkt, auch in der Architektur der Bauten, in der vergleichsweise reichen Ornamentik und dem plastischen Schmuck, wie der Versuch, über städtebauliche und formale Elemente das Lebensgefühl der mittelalterlichen Stadt auf den mehrgeschossenen Gemeindewohnungsbau zu übertragen...
Die eigentliche Eröffnung der Wohnhausanlage Sandleiten muss, wie die Arbeiter-Zeitung am 5. November 1928 meldet, wegen starken Regens verschoben werden und findet schließlich am 2. Dezember statt.
Literatur
Das Neue Wien. Die städt. Wohnhausanlage Sandleiten, 1928; Josef Bittner, Die Wohnhausanlage Sandleiten. Garten- und Bäderanlage am Kongreßplatz im 16. Bezirk, Wien 1928; Gert Kähler: Wohnung und Stadt, Hamburg, Frankfurt Wien. Modelle sozialen Wohnens in den zwanziger Jahren, Wiesbaden 1985.