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0124 | 4. SEPTEMBER 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Eins werden und trotzdem zwei bleiben

Am Vormittag des 4. September 1963 sind im Hof des „Vorwärts-Verlages“ zwei Särge aufgestellt. Davor Blumen und Kränze. Man nimmt Abschied von Oscar und Marianne Pollak, deren Leben schicksalhaft miteinander, aber auch untrennbar mit dem Haus verbunden waren.

Oscar Pollak und Marianne Springer entstammen unterschiedlichen Milieus: Pollak ist der 1893 in Wien geborene Sohn eines aus Ungarn zugezogenen, wohlhabenden jüdischen Kaufmanns. Er studiert Rechtswissenschaften an der Universität Wien, ist im Ersten Weltkrieg als Offizier an der Balkanfront im Einsatz, promoviert nach Kriegsende zum Dr. jur. und legt 1922 die Rechtsanwaltsprüfung ab. Dann wendet er sich dem Journalismus zu.

Die um zwei Jahre ältere Marianne hingegen kommt aus einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie, der Vater ist Vertreter. Marianne ist zwar begabt, für eine „höhere Schulbildung“ fehlen jedoch die Mittel. Nach dem Besuch der Bürgerschule wird sie Sprachlehrerin für Englisch und Französisch.

1910 begegnen sich die beiden auf einem Tennisplatz bei Pressbaum. Der erst 17-jährige Oscar nimmt Marianne zu politischen Veranstaltungen mit. Die Vorträge und Reden von Otto Bauer faszinieren sie. Als am 19. März 1911 im Rahmen des ersten Internationalen Sozialistischen Frauentags 20.000 Frauen über die Ringstraße ziehen und für das Frauenwahlrecht und Gleichberechtigung kämpfen, erlebt Marianne ihren „politischen Erweckungsmoment“.

Karriere in der Arbeiterbewegung

Bevor Oscar Pollak 1914 zum Kriegsdienst einrücken muss, verloben sie sich. Marianne tritt im selben Jahr der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpartei bei und engagiert sich bei den Kinderfreunden. Beide sehen einander so oft wie möglich. Wenn Oscar keinen Heimaturlaub bekommt, reist sie zu ihm, sogar bis nach Cattaro, dem heutigen Kotor in Montenegro. 1915 wird geheiratet. 1918 treten beide aus der jüdischen Gemeinde aus, Religion spielt für sie keine Rolle.

Ab 1919 lehrt Marianne Pollak neben so prominenten Kollegen wie Alfred AdlerMax AdlerJosef Luitpold Stern, Anton Tesarek und Karl Kautsky an der Schönbrunner Erzieher­schule der Kinderfreunde und beschäftigt sich mit der Einbindung der Kinderfreunde­bewegung in die sozialistische Erziehungslehre, als deren wichtigste Aufgabe sie die Vermittlung einer „demokratischen Solidarität“ betrachtet.

Oscar ist derweil Kommunal- und Sportreporter bei der Arbeiter-Zeitung. Wohl aufgrund ihrer guten Sprachkenntnisse arbeitet Marianne ab 1921 als Sekretärin in der von Friedrich Adler geleiteten Internationalen Arbeitsgemein­schaft Sozialistischer Parteien (IASP).

1923 folgen die Pollaks Friedrich Adler ins Sekretariat der neu gegründeten Sozialistischen Arbeiter-Internationale nach London, Oscar ist zugleich als London-Korrespondent für die Arbeiter-Zeitung tätig.

1926 kehren beide nach Wien zurück. Oscar Pollak wird außenpolitischer Redakteur der Arbeiter-Zeitung, Marianne findet eine Anstellung als Redakteurin im Kleinen Blatt, wo sie zunächst die Frauen- und die Kinderseiten betreut.

Der Tagesablauf ist klar strukturiert. Vormittags sitzen beide in ihren Redaktionen, zum Mittagessen fährt man in die Wohnung nach Hietzing, danach geht es zurück zur Arbeit. Der auf den ersten Blick bürgerliche Lebenswandel täuscht jedoch. Politisch zählen beide zu den „Linken“ innerhalb der Sozialdemokratie.

Nach dem plötzlichen Tod des legendären Chefredakteurs der Arbeiter-ZeitungFriedrich Austerlitz setzt sich Oscar Pollak in der Nachfolgefrage gegen Julius Braunthal, den Chefredakteur des Kleinen Blatts, durch. Unter seiner Ägide wird die häufig als zu „intellektuell“ und „elitär“ beschriebene Parteizeitung „volkstümlicher“, um, wie Pollak argumentiert, eine größere politische Wirkungsmächtigkeit zu entfalten.  

Und wie sieht es in den Wohnungen selbst aus? [...] Fast kein Fenster ist blumenfrei. Die Loggien mit den roten Pelargonien, die Reinlichkeit, die oft sehr geschmackvollen Einrichtungen…Marianne Pollak, Arbeiter-Zeitung, 1928

Marianne ist weiterhin für verschiedene sozialdemokratische Zeitungen und Zeitschriften tätig, verfasst unzählige – lebendig und oft blumig geschriebene – Reportagen und engagiert sich in der sozialdemokratischen Frauenbewegung.

Flucht und Exil

In den frühen Morgenstunden des 12. Februar 1934 läutet bei den Pollaks das Telefon. Am Apparat ist Otto Leichter, Oscars engster Mitarbeiter. Alle, die verständigt werden können, versammeln sich im Vorwärts-Verlag. Beim Eintreffen der Exekutive entkommen sie durch eine Hintertür.

Oscar wird einer der Mitbegründer der Revolutionären Sozialisten und organisiert, gemeinsam mit Otto Leichter und Karl Hans Sailer, den Widerstand gegen das austro­faschistische Regime.

Da Oscar polizeilich gesucht wird, ist es an Marianne, Kontakte aufrecht zu erhalten und Nachrichten zu überbringen. Sie selbst bezeichnet sich zu dieser Zeit als „Briefträger Oscar Pollaks“.

Im März 1935 übersiedeln die Pollaks nach Paris, ab 1936 arbeiten die beiden im Sekretariat der Sozialistischen Internationale in Brüssel und betei­ligen sich an der Gründung der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten (AVOES), deren Zeitschrift Internationale Information Oscar Pollak herausgibt. Nach dem Tod Otto Bauers geht es 1938 zurück nach Paris. Oscar wird Herausgeber der Zeitschrift La lutte Socialiste, dem Nachfolgeorgan der Arbeiter-Zeitung.

Schwierige Jahre

1940 besetzen deutsche Truppen Frankreich. Mit Unterstützung von Freunden aus der Labour Party gelingt Marianne und Oscar Pollak die Flucht nach London, wo sie sich im Austrian Labour Club engagieren.

Oscar arbeitet quasi rund um die Uhr. In den Nächten recherchiert er für den britischen Geheimdienst, hört deutsche Sender ab und übersetzt die Informationen. Tagsüber ist die Presseagentur Reuters sein Arbeitgeber. 1941 übernimmt er gemeinsam mit Karl Czernetz die Leitung des London Bureau of the Austrian Socialists in Great Britain.

Dieses ist neben der von Friedrich Adler in New York geführten Auslandsvertretung der österrei­chischen Sozialisten die zweite Parteizentrale im Exil. In der Frage der Wiederherstellung eines unabhängigen österreichischen Staates bleibt das Londoner Büro bis zuletzt ambi­valent. Die Losung lautet: „Ein sozialistisches Österreich in einem sozialistischen Europa“.

Ihr eigener Alltag ist von Warten und unfreiwilliger Untätigkeit, drückender Geldnot und ärmlichen Unterkünften geprägt.

Die Zeitung, die sich was traut

Oscar Pollak gelangt am 18. September 1945 mit einer britischen Militärmaschine nach Wien. Er findet das Vorwärts­gebäude von den Alliierten besetzt vor. Unter schwierigsten Bedingungen leitet er die Wiederbelebung der Arbeiter-Zeitung ein, deren Chefredakteur er abermals wird. Unter seiner Führung erwirbt sich das Blatt großes Ansehen, es wirbt mit dem Slogan „Die Zeitung, die sich was traut“.

Mariannes Heimreise gestaltet sich komplizierter. Und das, obwohl der Parteivorstand dem Ehepaar ein Nationalratsmandat in Aussicht stellt. Diesmal steckt Oscar zurück und überlässt Marianne den Vortritt. Daneben übernimmt sie die redaktionelle Leitung der Zeitschrift Die Frau, die unter ihrer Leitung zur meistgelesenen Frauenzeitschrift Österreichs avanciert.

Mit den neuen Verhältnissen tut sich Marianne schwer. Ihre Freunde im amerikanischen Exil, Otto Leichter und Jacques Hannak, warnt sie 1945 vor den „Anderen“ – das sind „vor allem [Adolf] Schärf und [Oskar] Helmer, diese beiden auch bewußte Antisemiten, die beiden mit ihrer Rührigkeit und ihrem Ehrgeiz auch sehr darauf aus, keine Talente hereinzubekommen. […] Meiner Meinung nach sollt ihr je eher, je lieber kommen. […] Aber ihr sollt gleichzeitig wissen, daß Ihr Euch werdet durchkämpfen müssen.“ (zit. nach Helmut Konrad, der die Kritik an Schärf als „zu harsch“ einstuft).

Die Menschlichkeit fordert, [...] daß das Schicksal der Frau von der Frau selbst bestimmt wird. Jeder Menschenkörper ist Eigentum dieses selbst!

Mariannes politisches Engagement gilt der Modernisierung des Familienrechts, der Kinder- und Jugendpolitik, der Freigabe der Abtreibung und dem Kampf für die Gleichberechtigung der Frauen in Beruf und Gesellschaft. Damit stößt sie auch innerhalb der Partei auf Widerstand. 1959 – im Alter von 68 Jahren – legt sie ihr Abgeordneten­mandat zurück und verlässt das Vorwärtshaus.

... bis in den Tod

Auch Oscar hat zu kämpfen. Innerhalb der Redaktion der Parteizeitung schwelt ein Generationenkonflikt. Er hadert mit dem „modernen Stil“ und weigert sich, Konzessionen an den Boulevard zu machen.

Ende 1961 tritt er als Chefredakteur zurück. Sein Nachfolger wird Franz Kreuzer. Pollak selbst leitet bis zu seinem Tod die Zeitschrift Die Zukunft, die er zu einem offenen und oftmals unbequemen Diskussionsforum gestaltet. Unbequem bleibt er auch privat: Seine Ausgabe der Arbeiter-Zeitung sendet er, redigiert mit rotem Stift, per Post ins Vorwärtshaus zurück…

Am 28. August 1963 erliegt Oscar Pollak während eines Urlaubs­aufenthaltes in Hinterstoder einem Herzinfarkt. Marianne nimmt sich zwei Tage Zeit, um sämtliche Angelegenheiten zu regeln, trifft Verfügungen und schreibt Abschiedsbriefe an Freunde und Weggefährten.

„Nimm Dir von meinem Schmuck, was Dir gefällt. […] Und hättest Du nicht gerne unseren Fernsehapparat? Von dem Bargeld zahl bitte vorerst die Rechnungen.“Brief an die Vertraute Grete Helfgott

Umsichtig, wie sie ihr ganzes Leben lang war, bringt Marianne Pollak an der Küchentür noch einen Warnhinweis an, um die Haushälterin nicht zu gefährden: „Achtung, Gas!“

Gemäß ihrem Wunsch werden Marianne und Oscar Pollak gemeinsam eingeäschert und im Urnenhain der Feuerhalle Simmering beigesetzt – in unmittelbarer Nähe zur Grabstelle von Friedrich Austerlitz.


Der in den frühen 1960er-Jahren errichtete Marianne-und-Oscar-Pollak-Hof in Floridsdorf erinnert an das Ehepaar. Im Jahr 2011 wird eine Verkehrsfläche im Gebiet des neuen Hauptbahnhofs in Favoriten Marianne-Pollak-Gasse benannt.

Werke (Auswahl)
Gegen den „inneren Nazi“, 1946; Der neue Humanismus. Geist und Gesellschaft an der Zeitenwende, 1962; Oscar Pollak. Kämpfer für Freiheit und Recht. Eine Auswahl seiner Aufsätze, herausgegeben von Karl Ausch, 1964.

Literatur
Michaela Schneider, Schreiben für den „neuen Menschen“. Die sozialdemokratische Journalistin und Politikerin Marianne Pollak, 1891–1963, 2000; Brigitte Lehmann: Marianne & Oscar Pollak. Die Geschichte zweier Leben, 2004; Helmut Konrad,Das Private ist politisch. Marianne und Oscar Pollak, 2021.

PRESSE UND PROLETARIAT

Sozialdemokratische Zeitungen im Roten Wien

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