Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Franz Schuhmeier. Volkstribun aus Ottakring
0100 | 11. FEBRUAR 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Franz Schuhmeier. Volkstribun aus Ottakring


Bei seiner Rückkehr von einer Wahlkundgebung in Stockerau wird Franz Schuhmeier am Abend des 11. Februar 1913 in der Ankunftshalle des Wiener Nordwestbahnhofs von Paul Kunschak, dem Bruder des christlich-sozialen Abgeordneten Leopold Kunschak, abgepasst und niedergeschossen.

Der Metallarbeiter Kunschak gibt beim Verhör an, er sei „wegen der ständigen Verfolgung durch die Sozialdemokraten“ eineinhalb Jahre lang arbeitslos gewesen und habe sich durch diese Tat an der Partei rächen wollen. Die Beerdigung des Arbeiterführers am Ottakringer Friedhof gerät zu einer beispiellosen Massenkundgebung mit mehr als einer Viertel Million Trauernden.

Der überaus populäre Franz Schuhmeier wird am 11. Oktober 1864 als Sohn eines Bandmachergesellen und einer Wäscherin in Wien Mariahilf geboren. Sein älterer Bruder kommt im Alter von nur 13 Jahren bei einem Arbeitsunfall zu Tode, ein prägendes Erlebnis und ein wesentlicher Grund dafür, dass Schuhmeier später den Kampf gegen Kinderarbeit zu einer seiner Hauptaufgaben machen wird.

Auch der kleine Franz muss bereits als Kind schwerste Arbeiten verrichten. Im Alter von nur sechs Jahren kommt er zu seinem Onkel, einem Fiaker, nach Matzleinsdorf in „Kost und Logis“. 1877 beginnt er eine Lehre als Ziseleur, muss diese aber wegen einer durch einen Metallsplitter verursachten Augenverletzung bald wieder abbrechen.

Der „Gescheitere“

In den folgenden Jahren ist Schuhmeier als Hilfsarbeiter in einer Buchbinderei beschäftigt und begibt sich schließlich auf Wanderschaft nach Schlesien, wo er einige Zeit bei seiner Großmutter verbringt. 1882 kehrt er nach Wien zurück und tritt in die Buntpapierfabrik Goppold & Schmiedel in Gumpendorf ein – damals ein Zentrum der jungen Arbeiterbewegung. Hier lernt er den Hausknecht Albert Sever kennen und kommt mit der Sozialdemokratie in Kontakt. 

Schuhmeier liest alles, was er in die Finger bekommt, und erweist sich, so Sever später, bei politischen Debatten stets als der „Gescheitere“. Zunächst selbst der radikalen Richtung zugehörig, übernimmt er zusehends reformistische Positionen und wird zu einem engagierten Verfechter der Parteieinheit.

1886 heiratet Franz Schuhmeier seine Arbeitskollegin Cilli Ditz; mit ihr wird er insgesamt sieben Kinder bekommen – nur drei davon sind bei Schuhmeiers Tod noch am Leben.

Raucherklub und „Rote Bretze“ 

Da wegen des seit 1884 herrschenden Ausnahmezustands politische Vereine nur getarnt existieren können, gründet Schuhmeier den „RaucherklubLassalle“, der im Dezember 1888 von der Polizei ausgehoben wird. Nach siebenwöchiger Untersuchungs­haft erhält Schuhmeier eine Arreststrafe von 24 Stunden. Insgesamt wird er im Laufe seines Lebens 25 Mal angeklagt und 12 Mal verurteilt werden.

Wenn wir das ganze liebe Jahr arbeiten, um die Polypen zu erhalten, die an jedem Bissen Brot hängen, dann verlangen wir von der korrupten Gesellschaft auch, daß sie uns Rechte gibt!

Nach seiner Haftentlassung tritt der mittlerweile arbeitslose Franz Schuhmeier in die Verwaltung der Arbeiter-Zeitungein und gründet den nächsten Raucherklub, Apollo. Diesmal legt er der Polizei jedoch Statuten zur Gründung eines Arbeiterbildungsvereins vor, die nach einigen Änderungen schlussendlich sogar genehmigt werden.

Aus dem „Arbeiterbildungsverein Apollo“, der seinen Sitz in der „Roten Bretze“ in Neulerchenfeld hat, wird schließlich die sozialdemokratische Bezirksorganisation in Ottakring hervorgehen.

Volkstribun und Volkstribüne

Am 19. Oktober 1891 erscheint die von Franz Schuhmeier mitbegründete und später von ihm herausgegebene Volkstribüne zum ersten Mal.

Die neue 14-tägig erscheinende Zeitung ist, wie es in der ersten Nummer heißt, „volksthümlich geschrieben und leicht verständlich“, also das genaue Gegenteil der Arbeiter-Zeitung, und erreicht mit 60.000 Stück bald das Vierfache von deren Auflage.

Ab dem 1. November 1894 erscheint die Volkstribüne drei Mal wöchentlich und ab Jahresbeginn 1900 sogar täglich.

Im „wilden Westen“ Wiens

Schuhmeier, der von 1894 bis 1896 als Obmann der Wiener Allgemeinen Arbeiter­krankenkasse und von 1896 bis 1898 als Reichsparteisekretär fungiert, wird im Jahr 1900 in den Wiener Gemeinderat gewählt – er und der spätere Wiener Bürgermeister Jakob Reumann sind somit die ersten sozialdemokratischen Gemeinderäte Wiens.

Schuhmeier ist wegen seiner im Wiener Dialekt vorgetragenen Schlagfertigkeit gefürchtet und schrammt dabei oft hart an der Grenze zur Demagogie vorbei. Als begnadeter Rhetoriker liefert er sich legendäre Wortgefechte mit dem ebenso redegewandten Bürgermeister Karl Lueger und avanciert bald zum „bestgehassten Sozial­demokraten“ Wiens.

Schuhmeier, der von seinen Gegnern oft als „Hutschen­schleuderer“ und „Demagoge“ verunglimpft wird, eckt mit seiner „derb-proletarischen“ Art auch innerhalb der eigenen Partei an, besonders bei Victor Adler, der Schuhmeiers „Radau-Opportunismus“ außerhalb von „Wildwest“, den westlichen Wiener Arbeitervorstädten, „ganz unmöglich“ findet.

So wie Engelbert Pernerstorfer oder Adler selbst gehört auch Schuhmeier dem deutschnationalen Flügel der Sozialdemokraten an. Sein Antikapitalismus mischt sich gelegentlich mit einem „volkstümlichen“ Antisemitismus, einer, wie sein Parteifreund Wilhelm Ellenbogen meint, „Koketterie mit dem Antisemitismus“.

Was die Sozialdemokraten von der Kommune fordern!

Auf dem Grazer Parteitag der Sozialdemokraten legt Franz Schuhmeier im September 1900 seine „Grundsätze für das Wirken der Sozialdemokraten in der Gemeinde“ vor. Das 18-Punkte-Programm umfasst u. a. die Forderung nach einem staatlich finanzierten Bildungswesen, kommunalen Gesundheitsämtern, Versorgungsbetrieben für Fleisch und Brot sowie Arbeiterwohn­häusern. Deren Errichtung hatte Schuhmeier bereits 1896 in der Arbeiter-Zeitung eingemahnt: Die Kommune hat ihr Grundeigenthum [sic!] durch Erwerbung noch unverbauter Grundstücke in großem Maßstabe zu vermehren und darauf systematisch Häuser mit billigen Wohnungen zu errichten.

Bücher haben uns in die Sklaverei gebracht, Bücher werden uns befreien. Franz Schuhmeier, 1910

In einem Akt der Selbsthilfe baut Schuhmeier 1901, gemeinsam mit dem Historiker und Universitäts­professor Ludo Hartmann, die erste Volkshochschule, das Volksheim Ottakring auf. Sein Verhältnis zur Bildung formuliert er 1910 anlässlich der Eröffnung der Ottakringer Jugendbibliothek: Das Wissen der Besitzenden imponiert mir nicht: Es bedeutet nichts gegenüber dem Wissen, das sich der Arbeiter unter harter Mühe aus eigener Kraft erwirbt. Wie viele Talente verkümmern, wie viele edle Anlagen verwahrlosen, weil die Armut sie erdrückt. [...]  Wie viele Menschen bleiben das, als was sie geboren worden sind: die Knechte der anderen; nur deshalb, weil es in ihrer Jugend an der Anleitung fehlte, sie geistig vorwärts und geistig aufwärts zu bringen. 

Letzte Erfolge

Für die Mordskultur werden ungeheure Summen geopfert, daß für die wahre Kultur, für die Schulen, dem Staat kein Geld bleibt. Man möge nicht glauben, daß die Sozialdemokratie den Staat seiner Wehrhaftigkeit berauben wolle, um eines Tages über die bürgerliche Gesellschaft herzufallen. Diese Arbeit wird der kapitalistische Staat selbst vollbringen…

Im Reichsrat, dem Schuhmeier seit 1901 angehört, setzt er den Neunstundentag für Bergarbeiter durch; als parlamentarischer Wehrexperte seiner Partei zieht der deklarierte Pazifist gegen die Misshandlungen der Soldaten zu Felde und erreicht, dass deren Familien finanziell unterstützt werden und der verantwortliche Minister Julius Latscher von Lauendorf 1907 zurücktreten muss.

Schuhmeiers letzter großer politischer Erfolg fällt in den Dezember 1912: Nachdem er dem christlich-sozialen Bürgermeister Josef Neumayer Korruption und Vetternwirtschaft nach­weisen kann, muss auch dieser demissionieren.

Ermordet ist unser Schuhmeier worden!

Am Tag nach Schuhmeiers Ermordung widmet ihm die Arbeiter-Zeitung die ersten zwei­einhalb Seiten: Vom ersten Tage seines parlamentarischen Wirkens an war er wohl der beliebteste und gefürchtetste der sozialdemo­kratischen Redner: der beliebteste wegen seines wienerischen Humors, wegen seines gutmütigen Spottes, wegen seines beißenden Witzes […]; der gefürchtetste wegen der wuchtigen Hiebe, die er dem Feinde zu versetzen wusste.

Schuhmeiers Mörder wird im Mai 1913 zum Tode verurteilt. Aufgrund eines Gnadengesuches, dem sich sogar die Witwe anschließt, wird das Urteil in 20 Jahre Kerkerhaft umgewandelt. Im Zuge der allgemeinen politischen Amnestie wird Paul Kunschak nach dem Ersten Weltkrieg begnadigt.

Nach dem Arbeiterführer werden der Schuhmeierplatz im 16. Bezirk, die Franz-Schuhmeier-Gasse im 23. Bezirk und der Schuhmeierhof in der Pfenninggeldgasse 6–12 benannt. Anlässlich seines einhundertsten Todestages zeigte der Waschsalon Karl-Marx-Hof 2013 eine Sonderschau über den „Volkstribun aus Ottakring“.
Literatur
Robert Maximilian Ascher: Der Schuhmeier. Roman, 1933; Helga Schmidt und Felix Czeike, Franz Schuhmeier, 1964; Wolfgang Maderthaner, Schuhmeier Franz. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 11, 1999.

FRANZ SCHUHMEIER. VOLKSTRIBUN AUS OTTAKRING

Sonderausstellung 2013

Fuss ...