Am 20. Juni 1909 wird die nach Plänen der Architekten Franz und Hubert Gessner errichtete Hammerbrotfabrik in Schwechat nach nur einjähriger Bauzeit feierlich eröffnet.
Brot ist zur Jahrhundertwende das Hauptnahrungsmittel der breiten Massen, der Brotpreis deshalb ein Politikum. Bei den unteren Einkommensschichten verschlingen die Ausgaben für die Ernährung bis zu 65 Prozent des Familieneinkommens, bei den etwas besser gestellten Facharbeitern immer noch bis zu 50 Prozent. Eingedenk weiterer Ausgaben, etwa für Kleidung und Wäsche, steht für einen darüber hinaus gehenden Konsum oder andere Bedürfnisse wie Bildung oder Gesundheit kaum Geld zur Verfügung.
Für die Konsumgenossenschaften der Arbeiterbewegung ist Brot deshalb das wichtigste Erzeugnis in der Eigenproduktion. Seit den frühen 1890er Jahren beliefert die „Erste Wiener Arbeiter-Bäckerei“ einige Konsumvereine mit Brot, kann den Bedarf allerdings bei weitem nicht abdecken. 1898 beschließt die Generalversammlung des Ersten Niederösterreichischen Arbeiter-Konsumvereins deshalb die Errichtung einer eigenen Bäckerei in der Karl-Löwe-Gasse in Meidling, die jedoch der steigenden Nachfrage auch nicht gewachsen ist. 1908 wird die Anlage deshalb von den Brüdern Gessner um Zubauten erweitert werden.
Die Errichtung einer eigenen genossenschaftlichen Großbäckerei bleibt ein vorrangiges Ziel der Arbeiterbewegung und ein Symbol für den Aufstieg und die Stärke der proletarischen Verbrauchergenossenschaften – vor allem angesichts der häufigen Tarifkonflikte und der „Wucherpreise“ der meist in Favoriten angesiedelten kommerziellen Großbäckereien.
Die Politisierung des ursprünglich der Selbsthilfe dienenden Konsumgenossenschaftswesens wird in Wien von Funktionären des parteinahen Konsumvereins Vorwärts und der neu gegründeten Großeinkaufsgesellschaft für österreichische Consumvereine GÖC betrieben. Im Herbst 1906 stellt der Journalist und Friedensaktivist Benno Karpeles schließlich sein ehrgeiziges Projekt der „Nährmittelwerke“ vor, die auf modernste Weise große Mengen von leistbarem Brot und Weißgebäck herstellen sollen.
Die mit dem Kleingewerbe verbundene christlichsoziale Fraktion im Wiener Gemeinderat läuft gegen das „Karpeles-Projekt“ Sturm und kann den Bau zunächst verhindern. Erst eine Beschwerde der Sozialdemokraten beim Verwaltungsgerichtshof führt zu einer Aufhebung des negativen Gemeinderatsbescheides. Die Brotfabrik darf gebaut werden, allerdings nicht wie geplant in Favoriten, sondern knapp jenseits der Wiener Stadtgrenze in Schwechat – was die zusätzliche Errichtung einer eigenen Mühle erforderlich macht und zu Mehrkosten von 1,6 Millionen Kronen führt.
Mit der Planung werden Hubert Gessner, der in den folgenden Jahren noch mehrere Großbäckereien in Liberec (Reichenberg), in Mühlau bei Innsbruck, in Prag, in Mährisch-Ostrau und in Linz errichten wird, und dessen jüngerer Bruder Franz beauftragt. 1909 ist die Fabrik auf dem früheren Gelände der Österreichischen Alpinen Montangesellschaft, die von 1870 bis 1902 hier ein Hüttenwerk betrieben hatte, fertiggestellt.
Die Schwechater Brotfabrik ist eine Anlage der Superlative, modern, hygienisch und menschenfreundlich. Alle Wände sind verfliest, die Sanitäranlagen mit Duschen ausgestattet. Der Kornsilo fasst 250 Waggons Getreide, die Mühle kann zehn Waggons Getreide pro Tag verarbeiten, und in der Brotfabrik gibt es Knetmaschinen für eine Tagesleistung von 75.000 Kilogramm Teig.
Für die rot lackierten Lieferfahrzeuge mit dem markanten Emblem, einem von einem Ährenkranz eingerahmten Hammer, steht eine fabrikseigene Tankstelle zur Verfügung.
Doch der Bau ist nicht nur zweckmäßig, sondern, gemäß der Forderung des Parteigründers Victor Adler, auch schön. Und Hubert Gessner beweist mit der phantasievollen Dekoration der Gebäude, dass es möglich ist, diese vermeintlich unterschiedlichen Zielsetzungen selbst bei einer Fabrikanlage zu vereinen.
Die Eröffnung der Hammerbrotfabrik gerät zu einer pompösen, propagandistischen Veranstaltung. Die Arbeiter-Zeitung widmet dem Ereignis am 20. Juni 1909 sogar ihren Leitartikel: Das Hammerbrot wird das Brot des Wiener Arbeiters werden, und das Unternehmen, das wir morgen einweihen, wird blühen, wachsen und gedeihen: Der Arbeiterschaft zum Nutz, ihren Feinden zum Trutz. Im Inneren des Blattes gibt es eine vierseitige Reportage Max Winters.
Beim feierlichen Ereignis ist, wie die Parteizeitung tags darauf zu berichten weiß, die gesamte Parteiprominenz zugegen – Victor Adler, Ferdinand Hanusch, Wilhelm Ellenbogen, Karl Renner, Karl Seitz, Albert Sever, Therese Schlesinger, Ferdinand Skaret und noch viele andere. In seiner Festrede betont Victor Adler, dass „diese Brotkammer eine Waffenkammer“ des österreichischen Proletariats sei, und dass man von Schwechat aus Wien erobern werde. Wir werden Wien belagern mit Brotlaiben!
Die Genossen Bäcker waren am Werke, die Geschosse zu fabrizieren, mit denen von heute ab Wien bombardiert werden soll. Arbeiter-Zeitung, 21. Juni 1909
Das auf Expansion ausgerichtete Projekt mit seiner aggressiven Werbe- und Verkaufsstrategie ist natürlich in erster Linie eine Kampfansage an die „kapitalistischen“ Großbäckereien. Bald entstehen eigene Verkaufsstellen, zudem ist das Brot der Hammerbrotwerke in allen Filialen des Konsumvereins Vorwärts erhältlich. Insgesamt beliefern die roten Orion-Autos schließlich an die tausend Verkaufsstellen – zum großen Missfallen der übrigen Arbeiter-Consum-Vereine. Namentlich der traditionsreiche und wirtschaftlich solide Erste Niederösterreichische Arbeiter-Consum-Verein zeigt sich von der Konkurrenz des Parteiunternehmens wenig erfreut.
Bald zeigen sich die finanziellen und infrastrukturellen Probleme, die ein solches Großprojekt mit sich bringt. Vor allem der Transport von Schwechat nach Wien erweist sich als kostenintensiv. Und der mit den Hammerbrotwerken eng verbundene Konsumverein Vorwärts – ein Zusammenschluss kleinerer und wirtschaftlich schwacher Konsumvereine – gerät nach zu rascher Expansion in erhebliche Schwierigkeiten.
Es ist eine seltsame Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet die sozialdemokratischen Hammerbrotwerke vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs profitieren, als der Betrieb mit der Produktion von Militär-Zwieback beginnt und erstmals wieder schwarze Zahlen schreibt. Zur Deckung des gestiegenen Bedarfs pachten die Hammerbrotwerke während des Krieges 24 kleinere Bäckereien in Wien und nehmen in ihren Filialen auch den Handel mit Nahrungsmitteln auf.
1919 eröffnet das Unternehmen eine zweite Großbäckerei in Floridsdorf, deren Kapazität jene in Schwechat noch übertrifft und für deren Errichtung wieder der Architekt Hubert Gessner verpflichtet wird. Wenig später folgt ein drittes Werk im ehemaligen „Militärverpflegungsetablissement“ in der Oberen Donaustraße in der Leopoldstadt.
1923 erfolgt die Umwandlung der Hammerbrotwerke mit ihren mittlerweile 30 Filialen und rund 1.400 Mitarbeitern in eine Aktiengesellschaft. Die Wirtschaftskrise der späten 1920er Jahre trifft auch die Hammerbrotwerke mit voller Wucht: Die Belegschaft geht auf rund 700 Beschäftigte zurück
Nach dem Zweiten Weltkrieg und mehrfachem Besitzerwechsel gelangen die Hammerbrotwerke an die Schoeller-Gruppe, die die Produktion 1959 im Floridsdorfer Werk konzentriert und zehn Jahre später eine Fusion mit der ebenfalls von ihr kontrollierten Ankerbrotfabrik durchführt; 1972 schließt der Betrieb in Floridsdorf, das architektonisch beindruckende Fabriksgebäude wird abgerissen. An seiner Stelle wird in den Jahren 1979 bis 1986 eine genossenschaftliche Wohnhausanlage errichtet.
Die seit langem leerstehende bzw. als Lager genutzte Fabrik in Schwechat wird 2018 an die Soravia Group verkauft, die hier „unter Berücksichtigung des Denkmalschutzes“ Wohnungen errichten möchte. Im Februar 2021 kommt es auf dem Gelände zu einer Brandstiftung, wodurch die ohnedies desolaten Gebäude noch weiter in Mitleidenschaft gezogen werden. 2023 zieht sich Soravia aus dem Projekt zurück. Anfang April 2024 bricht erneut ein Großbrand in der Hammerbrotfabrik aus. Cui bono?
Literatur: Helge Zoitl, Gegen den Brotwucher! Die Gründung der Wiener Hammerbrotwerke. Zeitgeschichte, 1988 / 16, 3; Markus Kristan, Hubert Gessner. Architekt zwischen Kaiserreich und Sozialdemokratie 1871–1943, 2011.