Zum Inhalt springen
Aktuelle Seite: Gegen die Trunksucht
0084 | 7. OKTOBER 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Gegen die Trunksucht

Im Oktober 1922 wird in der Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien Am Steinhof eine Abteilung für „heilbare Alkoholiker“ eröffnet. Sie ist der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt angegliedert und in dieser institutionellen Verbindung die erste ihrer Art in Europa.

Leiter ist der aus Brünn stammende Physiologe Rudolf Wlassak (1865–1930), der bereits 1905 in Favoriten den Arbeiter-Abstinentenbund in Österreich als Zentralverband der bereits bestehenden Arbeiter-Abstinenten­vereine mitgegründet hatte und auch deren Zeitschrift „Der Abstinent“ herausgibt. Als Instrument im Kampf gegen den unter der Arbeiterschaft weit verbreiteten Alkoholmissbrauch erlangt der Verein große Bedeutung innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie.

Der denkende Arbeiter trinkt nicht und der trinkende Arbeiter denkt nicht.Victor Adler, zugeschrieben

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts ist man sich in Fachkreisen darüber einig, dass sogenannte „Trinker“ behandelt werden müssten, statt sie als „Gewohnheitssäufer“ zu inhaftieren oder in psychiatrischen Anstalten wegzusperren, wo sie mit bis zu 19 Prozent einen relativ hohen Anteil der Insassen ausmachen, ohne allerdings eine zweckmäßige Behandlung zu erhalten.

Von Gesetzes wegen ist für „Trunksüchtige“ nach der „Entmündigungsordnung“ von 1916 zudem die beschränkte Vormundschaft vorgesehen. Diese Form des teilweisen Entzugs der Vollrechtsfähigkeit kann auch in Form einer Androhung ausgesprochen werden: Wenn „zu erwarten ist“, dass der zu Entmündigende „sich bessern werde“, kann dieser Beschluss mit der Auflage einer mindestens sechs Monate dauernden Heilbehandlung in einer Entwöhnungsanstalt vorläufig ausgesetzt werden.

Krankheit, nicht Laster

Im 1920 erlassenen Kranken­anstaltengesetz wird der Alkoholismus erstmals als eine regelrechte Erkrankung definiert. Trinkerheilanstalten unterliegen nun dem medizinischen Bereich, behandlungswillige „Trunksüchtige“ sind in gesonderten Anstalten und ohne Zwangsvorschriften therapeutisch zu betreuen, „heilbare“ von „nicht heilbaren Alkoholikern“ zu separieren.

In der neuen Einrichtung wird der Alkoholismus nicht mehr als „lasterhafte Willensschwäche“ verurteilt, sondern als behandlungsbedürftige Krankheit therapiert. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider; bis 1925 steigt der Anteil der Alkoholiker in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof auf knapp 36 Prozent.

Zu Beginn wird der Großteil der Patienten zwangseingewiesen, im Laufe der Jahre nimmt die Anzahl der freiwilligen Aufnahmen zu, obwohl die Patienten die Kosten selbst tragen müssen. Die Behandlung besteht primär aus Abstinenz und Erziehung. Stationär behandelt werden zunächst nur Männer, da nach damaliger Vorstellung eine Heilung alkoholabhängiger Frauen so gut wie ausgeschlossen ist. Für den Erfolg der Behandlung der männlichen Patienten sei allerdings die Einbindung der Ehefrauen von großer Bedeutung, weshalb auch von diesen strenge Abstinenz verlangt wird.

Insgesamt werden an der neu etablierten Trinkerheilstätte jedes Jahr etwa hundert Alkoholkranke aufgenommen – quantitativ nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Aufnahmewilligen müssen sich verpflichten, sechs Monate auf der Station zu bleiben, eine Zeitspanne, die zwar unterhalb der international üblichen Dauer liegt, aufgrund der Übernahme der Verpflegungskosten durch die Stadtverwaltung aber als Kompromiss betrachtet wird.

Ordnung und Disziplin

Als ungeeignet für eine Entziehungskur werden Patienten angesehen, die älter als 55 Jahre alt sind, Personen, die als Autisten eingestuft werden, an einer psychischen Erkrankung leiden sowie „schizoide Alkoholiker“. Aus sozialen Gründen ungeeignet scheinen außerdem Personen, die aus extrem zerrütteten Verhältnissen stammen, getrennt lebende und alleinstehende Männer, aber auch „uneinsichtige“ Ehefrauen, da von ihnen ja „seelischer Beistand“ erwartet wird. Personen, die beruflich mit Alkohol zu tun haben, werden nur dann aufgenommen, wenn sie sich bereit erklären, ihre Tätigkeit zu wechseln.

Für die Beurteilung, ob ein Trinker heilbar ist oder nicht, gibt es einige Anhaltspunkte, die leider nicht verlässlich sind, so daß man sich im Allgemeinen bei der Stellung der Voraussage hauptsächlich auf den allgemeinen Eindruck, den der Trinker macht, und auf das eigene Gefühl verlassen muß. Ernst Gabriel, 1931

Die Patienten müssen vor allem bereit sein, sich einer strengen Hausordnung und Disziplin zu unterwerfen. Um die Möglichkeit der Beschaffung von Alkohol zu verhindern, wird jeder Kontakt zwischen den Patienten der unterschiedlichen Abteilungen unterbunden. Ziel ist es, die Alkoholkranken an eine geregelte Beschäftigung und eine geordnete Lebensführung zu gewöhnen. Auch die Arbeits- und Freizeittherapie – leichte Gartenarbeit, Tätigkeiten in der eigens eingerichteten Tischlerei sowie der Aufenthalt an der frischen Luft – erfolgt streng getrennt von den übrigen Kranken.

Intensive Erziehung

Nach dem Abklingen der schlimmsten Entzugserscheinungen setzt die „psychische Behandlung“ der Patienten ein, um sie an eine völlige Abstinenz zu gewöhnen und Rückfälle zu vermeiden. Die „intensive Erziehung im Sinne der Alkoholgegnerschaft“ erfolgt einzeln und in Gruppen; an den Wochenenden finden im Festsaal der Anstalt Vorträge zu dem Thema statt.

In den ersten zwei Monaten ihrer Therapie dürfen die Patienten die Trinkerheilstätte nicht verlassen. Anschließend werden „bei ordnungsgemäßer Führung“ zwölf Ausgangsstunden pro Woche gewährt, ab dem vierten Monat können diese Ausgänge auf 20, im letzten Monat auf 36 Stunden verlängert werden. Kommt ein Patient alkoholisiert zurück, werden die Freigänge gestrichen.

Nach ihrer Entlassung sollen die vom Alkohol Entwöhnten einem Abstinenzverein beitreten, zumindest aber in Kontakt zur Heilstätte bleiben und die regelmäßig stattfindenden Veranstaltungen besuchen. 1926 gründet Wlassak den Abstinenz­verein „Zukunft“, über den ehemalige Patienten einander kennen lernen und unterstützen sollen, um ein alkoholfreies Leben führen zu können.

Nahezu aussichtslos

Als „geheilt“ gelten diejenigen, die mindestens zwei Jahre lang völlig abstinent leben; es sind etwa 30 Prozent. 15 Prozent sind soweit „gebessert“, dass sie nach der Entziehungskur wieder ihrem Beruf nachgehen können. Die mit über 50 Prozent größte Gruppe ist allerdings jene der „Rückfälligen“.

Auf Anregung Rudolf Wlassaks wird 1925 eine städtische Trinkerfür­sorgestelle zur ambulanten Betreuung im städtischen Gesundheitsamt in der Rathaus­straße eingerichtet. Hier versehen, ähnlich wie in anderen Fürsorge- und Beratungseinrichtungen der Stadt, ein Arzt und eine Fürsorgerin zweimal wöchentlich Dienst. Auf deren Vorschlag hin kann der Magistrat beim zuständigen Gericht die beschränkte Entmündigung von Personen beantragen, die wegen gewohnheitsmäßigen Mißbrauches von Alkohol sich oder ihre Familie der Gefahr des Notstandes preisgeben. Daneben gibt es eine Reihe privater Einrichtungen, jene des Arbeiter-Abstinentenbundes, aber auch katholische und international tätige Vereinigungen.

Der Kampf gegen die Inhaltlosigkeit des Daseins

Ein erbitterter Gegner des Alkohols ist auch Stadtrat Julius Tandler. Unter dem Eindruck seiner ersten Amerikareise bezeichnet er in der Arbeiter-Zeitung vom 17. Januar 1930 die Prohibition als eine der größten Kulturtaten aller Zeiten.In seinem eigenen Einflussbereich verbietet Tandler den Alkohol­konsum wo nur möglich, natürlich in sämtlichen Heil- und Pflegeanstalten, aber auch im Praterstadion. Doch der Kampf gegen den Alkohol scheint aussichtslos. Dieser sei in erster Linie ein Kampf gegen die Trinksitten und gegen die tief im Volksbewußtsein eingewurzelte Wertschätzung der geistigen Getränke, schreibt der Oberphysikus der Stadt Wien, Viktor Gegenbauer, 1931 in den „Blättern für das Wohlfahrtswesen“.  

Tandler setzt deshalb auf Aufklärung und Behandlung. In der Studie „Die Sozialbilanz der Alkoholikerfamilie“schreibt er 1936: […] nicht Verbote oder Gebote, sondern Ausmerzung des Gefühlsinhaltes durch Erweckung anderer, viel mehr in der Phantasie der Jugend verankerbarer Gefühls- und Willensmomente sind notwendig, beispielsweise durch die Förderung des Sports. Der einzig gangbare Weg zur Bekämpfung der Alkoholsucht sei der Kampf gegen die Inhaltlosigkeit des Daseins,gegen Entfremdung des Arbeitsprodukts vom Arbeiter durch Industrialisierung und Mechanisierung.

Trink' ma noch a Flascherl...

Nach Wlassaks Tod im Jahre 1930 wird die stationäre Einrichtung Am Steinhof vorübergehend gesperrt und nach ihrer Wiedereröffnung auch Frauen zugänglich gemacht. Die Anzahl der stationären Betten wird von 45 auf 61 erhöht.

Während des austrofaschistischen Regimes kommen die Bemühungen um die „Trinkerrettung“ nahezu zum Versiegen. Der Arbeiter-Abstinentenbund wird als Teilorganisation der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpartei verboten.

1938 muss die Trinkerheilstätte Am Steinhof ihren Betrieb ganz einstellen. Die verbliebenen Abstinenzvereine werden den Organisationen der Nationalsozialisten angegliedert.  

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird der Verein Trinkerheilstätte 1954 neu gegründet und 1956 in das Kuratorium Stiftung Genesungsheim überführt, dessen Präsident Sozialminister Anton Proksch ist. 1961 eröffnet das „Genesungsheim Kalksburg“, Vorgänger des späteren Anton Proksch Instituts.

Literatur
Sophie Ledebur (2015): Das Wissen der Anstaltspsychiatrie in der Moderne. Zur Geschichte der Heil- und Pflegeanstalten Am Steinhof in Wien.

Sonderausstellung im Waschsalon 2016/17

Fuss ...