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Aktuelle Seite: „Jeder Mensch hat ein Anrecht auf Fürsorge.“
0024 | 30. JUNI 2021    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Jeder Mensch hat ein Anrecht auf Fürsorge.“


Am 30. Juni 1921, vor 100 Jahren, legt Stadtrat Julius Tandler dem Gemeinderat seine Grundsätze vor. Unter anderem heißt es da: „Die Gesellschaft ist verpflichtet, allen Hilfsbedürftigen Hilfe zu gewähren“. Am selben Tag wird das neue Wohlfahrtsamt gegründet – die Geburtsstunde des Fürsorgewesens im Roten Wien.

Die Gesellschaft ist verpflichtet, allen Hilfsbedürftigen Hilfe zu gewähren.

Schon dieser erste Punkt markiert den grundlegenden Gesinnungswandel der neuen Gemeindeverwaltung: weg von Almosen und „regelloser Wohltäterei“, hin zur verpflichtenden öffentlichen Aufgabe und zum Rechtsanspruch jedes Einzelnen, der ja „ungefragt in die menschliche Gesellschaft kommt“.

Wohltätigkeit oder Fürsorge?

Der Wohltäter beschenkt jemand und tritt dadurch zu ihm in ein rein individuell menschliches Verhältnis, das dem einen eine gewisse Genugtuung, dem anderen Dankesschuld bringt. […] Ganz etwas anderes ist der Fürsorger. Er ist ein Beauftragter der Gesellschaft, daher der Gesellschaft verantwortlich in seinem gesamten Tun und Lassen, schreibt Tandler 1925 in „Wohltätigkeit oder Fürsorge?“. Er steht zum Befürsorgten nicht im Verhältnis von Dank, sondern Fürsorger und Befürsorgter befinden sich zueinander in einem Rechts- und Pflichtenverhältnis, denn jeder in einem Gemeinwesen lebende Mensch hat ein Anrecht auf Fürsorge, die Allgemeinheit die Pflicht der Fürsorge.

Die Fürsorge beginnt schon beim Embryo.
Robert Danneberg, 1929

In den folgenden Jahren errichtet die Gemeinde Wien ein dichtes Netz von Fürsorgestellen. Die Fürsorge erfasst die Menschen von der Zeugung bis zum Tod und reicht weit in andere Lebensbereiche hinein – von den Infrastruktur­einrichtungen in den neuen Wohnbauten über die Errichtung von Sportstätten und Bädern bis hin zur Arbeitslosenunterstützung.

„Neue Menschen“ für eine neue Welt

Die finanziellen Voraussetzungen dafür schafft eine zunächst zwei-, später vierprozentige Fürsorgeabgabe, mit der folgerichtig auch Teile des Wiener Wohnbauprogramms finanziert werden.

Man beschreibt die ungeheuren Leistungen unserer Verwaltung auf dem Gebiet des Finanzwesens, man bildet sie ab die neuen Wohnhäuser und Wohlfahrtseinrichtungen, man spricht von den Fortschritten des Verkehrs, deutet da und dort die Wandlungen unserer Kultur an, man spricht aber nicht von dem neuen Geist, der die Verwaltung dieses neuen Wien beseelt, schreibt Tandler 1927 und präzisiert die Vorstellungen dieses „neuen Wien“: Die Menschen, die in unseren neuen Häusern wohnen, sind neue Menschen, leben und atmen nicht nur in neuen Räumen, sondern fühlen und denken auch anders.

Ein Wissenschaftler von Weltruf

Julius Tandler wird 1869 in Mähren geboren. Die Familie zieht nach Wien und wohnt in der Leopoldstadt, dem bevorzugten Viertel der ärmeren Juden. Kulturell ist Tandler vom traditionellen Judentum geprägt – religiös ist er nicht.

Im Alter von 20 Jahren inskribiert Tandler an der Wiener Universität. Emil Zuckerkandl, Leiter des Anatomischen Instituts und Ehemann der Schriftstellerin und Salonière Berta Zuckerkandl, wird zu seinem Mentor. Nach Zuckerkandls Tod im Jahr 1910 tritt Tandler dessen Nachfolge an.

Als Lehrer ist Tandler ein strenger, aber väterlicher Freund seiner Studenten. Er organisiert Stipendien und Heimplätze, ist ein entschiedener Befürworter des Frauenstudiums und stellt als einer der ersten Professoren eine weibliche Assistentin an.

Tandler zieht es in die Politik. 1919 wird er als Unterstaatssekretär Leiter des Volksgesundheitsamtes. Nach dem Wahlsieg der Christlich­sozialen im Oktober 1920 scheidet Tandler aus der Bundesregierung aus und erhält im Roten Wien ein neues Betätigungsfeld.

Sein Aufgabengebiet als Stadtrat für das Wohlfahrtswesen umfasst das Jugendamt, die Armenpflege, die Wohlfahrtsanstalten, die Invalidenfürsorge und die Gemeindefriedhöfe.

Niemals hat es im Menschenleben ein Geschlecht gegeben, das mit Stock und Schießwaffe erzogen und aus dem etwas Ordentliches geworden ist.

Tandlers Hauptaugenmerk gilt der Kinder- und Jugendfürsorge. Sinn und Zweck des Daseins einer Generation könne nur die Sorge um die nächste sein. Diese gelte es zu „besseren Menschen“ zu erziehen.

Viele seiner Maßnahmen werden von der „bürgerlichen“ Opposition vehement attackiert. Besonders umstritten ist die Einführung des Säuglingswäschepakets im Wahljahr 1927. Diese Erstaus­stattung für alle Wiener Kinder wird von den Christlichsozialen als „Wahlwindeln“ diffamiert – es gibt sie in Form des Wickelrucksacks bis heute.

1927 enthält das Säuglingswäsche­paket vierundzwanzig Tetrawindeln, sechs gewirkte Jäckchen mit Ajourabschluß, ein großes Frottierbadetuch, sechs praktische Hemdchen, ein Badetuch, zwei Nabelbinden, ein Tragkleidchen aus Pikee, eine lichtblaue Flanelldecke und zwei Kautschukeinlagen – es fehlt wirklich nichts. Auch an Seife, Creme und Hautpuder, das Dreigestirn der Säuglingspflege, ist gedacht.

Wir erziehen in ihnen die Väter und Mütter der nächsten Generation

Auf Tandlers Initiative hin wird die Zahl der Kindergärten im Roten Wien mehr als verdoppelt – 1930 eröffnet Bürgermeister Karl Seitz in Sandleiten persönlich den einhundertsten. Hauptaufgabe der Kindergärten sei die Weckung des sozialen Fühlens und Handelns. Ausstattung und Betreuung werden modernisiert, mehr als 10.000 Kinder erhalten im Kindergarten Frühstück, Mittagessen und eine Nachmittagsjause, drei Viertel von ihnen unentgeltlich.

Der Weg von der Baracke zum Palast, er ist ein Symbol der Fürsorge der Gemeinde Wien.

Regelmäßige schulärztliche Untersuchungen sind ebenfalls Teil des neuen Fürsorgesystems – und auch auf die richtige Mundhygiene wird geachtet. In 15 Schulzahn­kliniken werden Tausende Volksschulkinder regelmäßig untersucht und wenn nötig behandelt. Neu ist auch der „Zahnbürsten-Unterricht“. Stolz berichtet Tandler im Gemeinderat, es gebe Eltern, die von den Kindern gelernt hätten, dass man sich die Zähne putzen soll.

Ein schreckliches Wahrzeichen der kapitalistischen Gesellschaft!

1925 wird in der Lustkandlgasse die Kinderübernahmsstelle, das spätere Julius-Tandler-Heim eröffnet. Es ist die erste Einrichtung dieser Art in Europa und die größte weltweit.

Die Kinderübernahmsstelle wird zur zentralen Drehscheibe für in Not geratene Kinder. „Abgegeben“ werden sie in der Regel von den Bezirksjugendämtern, aber auch von ihren Eltern oder der Polizei. Im Gründungsjahr sind es 6.229 Kinder – 2.169 wegen Mittellosigkeit der Eltern, 1.260 wegen Obdach­losigkeit, der Rest ist verwaist, verwahrlost oder wurde ganz einfach verlassen.

Da kommt eine Mutter mit ihrem Neugeborenen, weil sie obdachlos ist, dort eine andere, weil der Vater ein Säufer ist, eine dritte, weil der Mann arbeitslos ist […] kurz; die ganze bedrängte kleine Menschheit drängt tagaus, tagein in die Kinderübernahmestelle. Ein furchtbares Bild des Kinderelends, ein schreckliches Wahrzeichen der kapitalistischen Gesellschaft!

Die erziehliche Beeinflussung der Mutter …

Ab 1923 wird in Wien auch ein Netz an Mutterberatungsstellen errichtet; viele davon befinden sich in Gemeindebauten. Beraten werden die Mütter hier in allen Fragen der Säuglings- und Kindespflege, über die Art der Ernährung, über die Mahlzeiten des Kindes, über die Milchbereitung und die Beikost, aber auch über Kleidung, Wäsche, Schlafzeiten […] und die vielen Kleinigkeiten, die immerhin für die Pflege und Wartung des Kindes von großer Bedeutung sind.

Fürsorge ist Erziehung nicht nur des einzelnen, sondern des gesamten Volkes.

Damit nicht genug, installiert Julius Tandler eine Eheberatungsstelle zur medizinischen Untersuchung und Beratung heiratswilliger Personen, eine Beratungsstelle für „Nerven- und Gemütskranke“, eine eigene Trinkerfürsorgestelle sowie die Trinkerheilstätte „Am Steinhof“. Zur Bekämpfung der weitverbreiteten Tuberkulose richtet er den modernen TBC-Pavillon in Lainz sowie Tuberkulosen-Fürsorgestellen in ganz Wien ein – niederschwellig ebenfalls in Gemeindebauten untergebracht.

Jeder dieser Fürsorgestellen sind Ärzte zugeteilt, die Nachbetreuung der Patienten liegt in den Händen von Fürsorgerinnen. Sie sind es, die die Menschen in ihren Wohnungen aufsuchen, über Wohnungshygiene, Belüftung, Reinlichkeit und Körperpflege informieren, und für die Isolierung der infektiösen Kranken innerhalb der Wohnung sorgen – mittels Beistellung von Betten und Wäsche.

Im Krankenhaus Lainz – Tandler nennt es gerne „sein Spital“ – werden bereits Ende der 1920er Jahre Abteilungen für Stoffwechsel­erkrankungen und die damals noch ganz neue Strahlentherapie zur Krebsbehandlung eingerichtet.

1931, zwei Jahre bevor sich Julius Tandler aus der Politik zurückzieht, formuliert er noch einmal seine große Vision: Wir alle, Ärzte, Sozialbeamte, Schwestern und Fürsorgerinnen, Helfer und Helferinnen auf allen Gebieten menschlicher Not, wir haben alle daran zu arbeiten, uns selbst überflüssig zu machen.

JULIUS TANDLER

Sonderausstellung im Waschsalon 2016/17

Fuss ...