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Aktuelle Seite: Kämpfer der Zukunft
0101 | 23. FEBRUAR 2023    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

Kämpfer der Zukunft

Am 23. Februar 1908 gründet der gelernte Tischler und spätere Redakteur der steirischen Parteizeitung Arbeiterwille, Anton Afritsch, gemeinsam mit gleich­gesinnten Eltern in Graz den „Arbeiterverein Kinderfreunde“.

In Graz wachsen mehrere Tausend Kinder heran, ohne das Notwendigste für ihren Lebensweg mitzubekommen. Sie sind Kinder der Straße, auf der Straße groß geworden und die Straße ist ihr Heim geblieben.

Gemäß seiner Statuten ist der Verein „ein nichtpolitischer und stellt sich zur Aufgabe, das geistige und leibliche Wohl der Kinder zu fördern." Afritsch veranstaltet Lichtbildabende, regt die Kinder und Jugendlichen zu sportlicher Betätigung an, unternimmt ausgedehnte Wanderungen in die nähere Umgebung und organisiert bald auch erste Ferienlager.

Im Jahr darauf entsteht eine erste Ortsgruppe in Kärnten, im Februar 1910 eine weitere in Wien Floridsdorf. 1911 erfolgt die Gründung eines nieder­österreichischen Landesvereins durch Alois Appel und 1912 die der Vereinszeitschrift Der Kinderfreund.

1913 organisiert der Verein zur Bekämpfung der Tuberkulose in der Steiermark die erste Kinderferien­kolonie in Gratkorn. Im selben Jahr entstehen weitere Ortsgruppen der Kinderfreunde in Niederösterreich, Kärnten und Salzburg, aber auch in Böhmen, Mähren und Ungarn. 1914, bei Kriegsbeginn, umfasst die Organisation 4.350 Mitglieder in 18 Ortsgruppen. 1915 wird die erste Erholungsstätte der Kinderfreunde auf dem Schafberg in Wien eingerichtet.

Am 25. Februar 1917 konstituiert sich der Reichsverein Kinder­freunde, dem als führende FunktionärInnen neben Anton Afritsch auch Robert Danneberg, Adelheid Popp und Gabriele Proft angehören. Bei Kriegsende zählt der Verein 9.735 Mitglieder in mehr als 30 Ortsgruppen. Obmann wird der Wiener Stadtrat Max Winter, Anton Afritsch sein Stellvertreter.

Hilfe für die Bedürftigsten

In den Tagen, da die Broschüre „Was wollen die Kinderfreunde?“ [1918, Anm.] erschien, ließ ich eine solche auf meinem Schreibtisch in der „Arbeiter-Zeitung“ liegen. Als ich am nächsten Tag wieder kam, fand ich auf das Titelblatt der Broschüre […] von einem Kollegen geschrieben das Wort: „Schnorren“.Max Winter 

Eine erste große Bewährungsprobe haben die Kinderfreunde nach dem Ersten Weltkrieg zu bestehen. Der Krieg hat verheerende Auswirkungen auf das Leben der Kinder, viele sind unterernährt und in einem katastrophalen Gesundheitszustand.

1927 beschreibt Max Winter die Lage rückblickend: Als das Weizen- und Kornbrot im ersten Winter aufgegessen war, hatten sie uns wissenschaftlich bewiesen, dass man auch von Maisbrot leben könnte […]. Als das Fett knapp wurde, da sagten die Gelehrten zuerst: 'Brauchen wir Fett, solange wir Zucker haben?', und als der Zucker knapp wurde, sagte man uns, der wichtigste Stoff, der im Zucker ist, sei auch in der Kartoffel […]. Aber unsere Kinder kamen immer mehr und mehr herunter.

Nach Ausrufung der Republik requiriert Max Winter, mittlerweile Vizebürgermeister der Stadt, handstreichartig Teile des Hauptgebäudes von Schloss Schönbrunn für die Kinderfreunde, insgesamt nicht weniger als 84 Räume. Platz genug, um ab November 1919 die von Otto Felix Kanitz geleitete Schönbrunner Erzieherschule des Vereins unterzubringen. 

Ein Jahr später, im Dezember 1920, wird auf Vorschlag Max Winters die Aktion Kinderheller eingeführt, eine freiwillige wöchentliche Abgabe von allen gewerkschaftlich organisierten Arbeiterinnen und Arbeitern. Die Idee dazu stammt von einer Solidaritätsaktion in der Hirtenberger Munitionsfabrik, wo die Arbeiter einen Heller pro Lohnkrone an den Hilfsfonds der Kinderfreunde eingezahlt hatten.

Diese zusätzlichen Einnahmen ermöglichen den Kinderfreunden eine Intensivierung ihrer Arbeit, etwa die Durchführung größerer Ferienaktionen. Der Erfolg ist messbar: Zu Beginn der 1920er-Jahre zählen die Kinderfreunde bereits 55.776 Mitglieder in 182 Ortsgruppen.

Moderne Erziehung

Die Kinderfreunde lindern nicht „nur“ das akute Elend der Kinder, sie treten auch für eine demokratische und sozial gerechte Schule sowie für eine freie Erziehung ein. 1921 erscheint die erste Nummer der programmatischen Zeitschrift „Sozialistische Erziehung“, deren Chefredakteur bis 1934 Otto Felix Kanitz ist.

Im selben Jahr gründen die Kinderfreunde eine Reichsbücher­stelle, die ausgesuchte Kinder- und Jugendliteratur sowie pädagogische Fachliteratur herausgibt. Aus ihr wird 1923 der Verlag Jungbrunnen hervorgehen.

1921 erfolgt die Eingliederung des Vereins in die Parteiorganisation. Die Kinderfreunde sind nun mit dem Sozialistischen Schulverein „Freie Schule“ zur gemeinsamen Organisation „Freie Schule – Kinderfreunde“ vereinigt. Der Kampf für eine Reform des Schulwesens und für den Aufbau einer modernen und säkularen Erziehung wird zu einer ihrer Hauptaufgaben.

Kampf gegen Mühlsteine

Die Kritik der Kinderfreunde an kirchlichen Einrichtungen, in denen die Prügelstrafe noch gang und gäbe ist, ihr Eintreten für Koedukation und die Wochenend­ausflüge, die dem Besuch des Sonntagsgottesdienstes entgegenstehen, erregen bald den Unmut konservativer und klerikaler Kreise. Im Fastenhirtenbrief der österreichischen Bischöfe von 1922 heißt es: Dagegen warnen wir euch ebenso dringend, eure Kinder teilnehmen zu lassen an Veranstaltungen gewisser Vereine, die es ausgesprochen darauf abgesehen haben, die Kinder immer mehr der Religion und Kirche zu entfremden […]. Diese Vereine veranstalten gemeinsame Ausflüge, Turnübungen und Tänze von Knaben und Mädchen und bereiten ihnen so die größten sittlichen Gefahren.

Der Franziskanerpater Zyrill Fischer stellt 1926 seinem Pamphlet „Sozialistische Erziehung“ das Bibelwort „des göttlichen Kinderfreundes“ aus Mt. 18, 4–6 voran: Wer aber einem dieser Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, dem wäre es besser, es würde ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er in die Tiefen des Meeres versenkt.

Dem gelernten Journalisten Max Winter gelingt ein frühes „Reframing“. Er initiiert die Sammelaktion „Mühlstein“ und richtet mit den Spenden „Mühlsteinbüchereien“ in ganz Österreich ein.


Im Februar 1934 werden die Kinderfreunde aufgelöst, ihr gesamtes Vermögen mitsamt allen Einrichtungen wird beschlagnahmt – 475 Kinderheime und Horte, in denen 380 PädagogInnen mehr als 122.000 Kinder und Jugendliche betreut hatten. Viele Aktivisten setzen trotz des Verbots und selbst unter den besonders erschwerten Bedingungen während der NS-Zeit die illegale Arbeit fort. Bücher, Sportgeräte und andere Materialien wie etwa Zeltausrüstungen werden als private Leihgaben deklariert und somit dem offiziellen Bestand entzogen.

Am 19. Juni 1945 wird auf einer Sitzung des Parteivorstandes der neuen Sozialistischen Partei auch die Neugründung der Kinderfreunde beschlossen, die schließlich am 14. Oktober desselben Jahres unter Mitwirkung von Theodor Körner, Paul Speiser und Josef Holaubek, dem späteren Obmann der Wiener Kinderfreunde, erfolgt. Und am 14. Dezember beschließt der erste Parteitag, dass der Verein „Freie Schule – Kinderfreunde“ künftig die Erziehungsarbeit für die Partei leisten solle.

Zur Jahreswende 1945/46 verzeichnen die Kinderfreunde 36.019 Mitglieder in 286 Ortsgruppen. Ende des Jahres 1946 gibt es wieder 76 Heime; ein Jahr später betreuen 142 PädagogInnen insgesamt 6.594 Kinder in 86 Heimen. 1947 beschließt die Landesorganisation Wien der SPÖ, dass jedes Parteimitglied zugleich Mitglied der Kinderfreunde ist.

Literatur
Josef Ackerl, Bernd Dobesberger, Gernot Rammer (Hrsg.): Bilder der Freundschaft. 100 Jahre Kinderfreunde 1908–2008, 2008;Jakob Bindel (Hrsg.): 75 Jahre Kinderfreunde: 1908–1983 Skizzen, Erinnerungen, Berichte, Ausblicke, 1983; Otto Felix Kanitz:Kämpfer der Zukunft, 1929.ders.,Das proletarische Kind in der bürgerlichen Gesellschaft, 1925;Anton Tesarek, Die Österreichischen Kinderfreunde und Roten Falken 1908 bis 1958, 1958; Heinz Weiss, Das Rote Schönbrunn. Der Schönbrunner Kreis und die Reformpädagogik der Schönbrunner Schule, 2008.

OTTO FELIX KANITZ

Sonderausstellung im Waschsalon 2019/20

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