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Aktuelle Seite: „Käthe, die Gescheitere“
0060 | 17. MÄRZ 2022    TEXT: LILLI BAUER & WERNER T. BAUER

„Käthe, die Gescheitere“

Am 17. März 1942 wird Käthe Leichter in der NS-Tötungsanstalt Bernburg in Sachsen-Anhalt ermordet.

Die 1895 geborene Marianne Katharina Pick entstammt dem Milieu des liberalen Wiener Bürgertums. Der Vater kommt aus einer Familie deutsch-böhmisch-jüdischer Textil­fabrikanten, ist „Hof- u. Gerichts-Advokat“ und ermöglicht seinen Töchtern eine gute Ausbildung. Die Mutter pflegt die beiden Mädchen mit den Worten vorzustellen: „Vally ist die Schönere und Käthe die Gescheitere.“

Käthes späterer Mann, Otto Leichter, erinnert sich an den ungewöhnlichen Reichtum einer Frau, die vielleicht die Letzte in der alten Sozialdemokratie war, die in ihrer Erziehung und in ihren Neigungen alle guten Elemente der österreichischen Kultur und des Humanismus des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts verkörperte…

Das Recht auf höhere Bildung muss sich allerdings auch Käthe Pick erst erkämpfen, denn die Universität Wien bleibt den Frauen noch verschlossen. Sie klagt ihre Zulassung bei Gericht ein und beginnt 1914 mit dem Studium der Staatswissenschaften. Aufgrund der heimischen Rechtslage legt sie die Abschlussprüfung 1918 im deutschen Heidelberg bei Max Weber, einem der Gründerväter der deutschen Soziologie, ab und wird sub auspiciis zum Doktor der Philosophie promoviert.

Kein Verhältnis zur Frauenbewegung

An der Universität Wien beginnt Käthe Pick, sich mit Frauenrechten zu beschäftigen, hört Vorträge von Rosa Mayreder und Therese Schlesinger. Ihre Beziehung zur Frauenbewegung bleibt dennoch eher distanziert: Ihr Kampf bestand darin, Reformkleider zu tragen und bei dem Wort Mann" mitleidig zu lächeln, schreibt Käthe Leichter in ihren Lebenserinnerungen. Sie jubelten, wenn irgendwo in der Welt eine Frau Professor oder Ministerialrätin wurde oder sonst irgendeine Leistung vollbrachte. Daß es nicht nur um die Heraushebung einzelner Bevorrechteter, sondern um die Hebung der so schlecht gestellten Frauenarbeit überhaupt ging, übersahen sie.

Nach dem Ersten Weltkrieg schließt Käthe sich der Rätebewegung an; der Kreis der „Neuen Linken“ tritt vehement gegen ein Zusammengehen mit den „Bürgerlichen“ und für die Einheit der Arbeiterbewegung ein. Hier lernt sie auch ihren späteren Mann, Otto Leichter, kennen; die beiden heiraten 1921.

Ab 1919 arbeitet Käthe Leichter bei Otto Bauer als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Staatskommission für Sozialisierung, ein Vorhaben, das nach Zusammenbruch der Großen Koalition zum Scheitern verurteilt ist. Ein wirkungsvoller Sozialisierungsversuch müsse, so ist Käthe überzeugt, bei der Schwerindustrie und bei den Banken ansetzen: Jede großzügige Sozialisierung ist undenkbar, solange nicht an die Sozialisierung der Banken geschritten werden kann.

Ein Referat für Frauenarbeit

Privat wohnt das Ehepaar Leichter ab 1921 in der Eßlinggasse in der Inneren Stadt. Als Sohn Heinz 1924 zur Welt kommt, plagen die junge Familie bereits finanzielle Existenzsorgen. Otto Bauer nimmt das – eigentlich freudige – Ereignis zum Anlass, in der Arbeiter-Zeitung einen Leitartikel zum Thema „Schutz der Ungeborenen oder der Geborenen?“ zu verfassen – ein Umstand, auf den Käthe zeitlebens stolz sein wird.

Bauer fordert in dem Artikel nicht weniger als die heutige Kinderbeihilfe. Denn es sei Barbarei, arme werdende Mütter mit der Drohung von Kerkerstrafen zum Gebären zu zwingen, ihnen aber, wenn sie geboren haben, jede Hilfe zur Aufziehung ihrer Kinder verweigern. Ein Staat, der an dem Mutterschaftszwang festhält, kann die Kinderversicherung nicht verweigern.

Leichters Vertrag als Referentin der Sozialisierungskommission wird 1925 auf ihren Wunsch hin aufgelöst. Sie erhält eine Anstellung bei der Arbeiterkammer, um dort ein neues Referat aufbauen, das sich mit den Problemen der Frauenarbeit beschäftigt.

Mit Käthes Anstellung und Otto Leichters Stelle als Redakteur der Arbeiter-Zeitung verbessert sich die Situation des Ehepaars, das schließlich nach Mauer übersiedelt. 1930 wird Sohn Franz geboren. In seinen Erinnerungen beschreibt Heinz Leichter das Zusammenleben seiner Eltern als sehr harmonisch: Die zwei oder drei Auseinandersetzungen meiner Eltern, die ich gehört habe, sind mir deshalb in Erinnerung geblieben, weil es eben nur zwei oder drei waren.

Die Netzwerkerin

Die Frauenarbeit wurde immer differenzierter: qualifizierte, angelernte und ungelernte Arbeiterinnen in der Industrie, neue Typen weiblicher Angestellter, Heimarbeiterinnen, Hausgehilfinnen… Käthe Leichter

Als parlamentarische Mitarbeiterin von Anna Boschek, der ersten Gewerkschafterin im Nationalrat, liefert sie die wissenschaftlichen Grundlagen für parlamentarische Anträge und Gesetzesvorlagen und ist damit maßgeblich an den frauenpolitischen Aktivitäten der Freien Gewerkschaften und der Arbeiterkammer beteiligt.

Die Arbeiterkammer steht im Dienst der Gewerkschaften, das Frauenreferat der Kammer im Dienst der gewerkschaftlichen Frauensektion. Seine Erhebungen, seine Materialsammlungen und sozialpolitischen Anregungen sollen den Gewerkschaften und ganz besonders ihren Funktionärinnen Hilfsmittel in ihrem Kampf um die vollständigere Erfassung und um die Hebung der Lebenshaltung der arbeitenden Frauen geben, schreibt Leichter im „Handbuch der Frauenarbeit in Österreich“, 1930.

Fragen der Frauenarbeit waren bis zu diesem Zeitpunkt noch niemals systematisch erforscht worden. Unermüdlich sammelt Käthe Leichter Zahlenmaterial, wertet Statistiken der Krankenkassen, der industriellen Bezirkskommissionen, der Arbeiterkammern und der Gewerkschaften aus und studiert Berichte von Gewerbeinspektoren.

Wie leben die Wiener Hausgehilfinnen?

Unter diesem Titel veröffentlicht das Referat für Frauenarbeit 1926 die Ergebnisse seiner ersten Erhebung, bei der 2.831 Fragebögen beantwortet worden waren. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass zwei Drittel der Hausgehilfinnen länger als die gesetzlich festgesetzte Maximalarbeitszeit von 13 Stunden arbeiten müssen. 45 Prozent können nicht über die vorgeschriebene Freizeit verfügen, 12 Prozent erhalten keinen Urlaub.

Die Heimarbeit ist vor allem Frauenarbeit.Käthe Leichter

In einer weiteren Studie beschäftigt sich Käthe Leichter mit den Arbeits- und Lebensverhältnissen von tausend Wiener Heimarbeiterinnen. Abgebaute Fabrikarbeiter, proletarisierte Meister, durch die Geldentwertung verarmte Mittelstandsfrauen boten ein schier unerschöpfliches Reservoir gefügiger Kräfte für die Heimarbeit. Die Angst, auch diese Arbeitsgelegenheit zu verlieren, ließ sie vor der Beanspruchung ihrer gesetzlichen Rechte zurückschrecken, schreibt Käthe Leichter.

Die 1928 vorgelegte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass 95 Prozent der Heimarbeiter eigentlich Heimarbeiterinnen sind, und dass ihre tägliche Arbeitszeit oft länger als 11 Stunden dauert. Zeitverlust durch häufige Lieferungswege, Mitarbeit der Familienmitglieder, […] häufige Arbeitslosigkeit und als Normalwohnung die Zimmer-Küche-Wohnung ergänzen das Bild.

So leben wir…

1930 erscheint das „Handbuch der Frauenarbeit in Österreich“, in dem ausgewählte Funktionärinnen der Arbeiterbewegung zu Wort kommen. Käthe Leichter untermauert diese Schilderungen in einem nächsten Schritt mit einer breit angelegten Untersuchung. Besonderes Augenmerk legt sie dabei auf die Dreifachbelastung der Arbeiterinnen durch Berufsarbeit, Haushaltsführung und Mutterschaft. Im Sommer 1931 versendet das Referat für Frauenarbeit 4.000 Fragebögen an Arbeiterinnen verschiedener Industriezweige. Etwa ein Drittel der Fragebögen wird ausführlich beantwortet und kann in die Auswertung einbezogen werden. Parallel dazu werden auch persönliche Gespräche und Interviews mit Arbeiterinnen geführt. Für die „Chemische Industrie“ ist übrigens Rosa Jochmann zuständig.

Es muß nicht sein…

Die Erhebung liefert einige interessante Erkenntnisse. So gehen fast 60 Prozent der Industrie­arbeiterinnen auch nach ihrer Eheschließung weiterhin einer Arbeit nach; dies wird um so begreiflicher, wenn man erfährt, daß fast 42 Prozent der Arbeiterinnen arbeitslose Männer haben.

Das Kapitel „Im Hause“ zeigt, dass fast die Hälfte aller Arbeiterinnen keine eigene Wohnung besitzt. Die meisten wohnen natürlich in überfüllten Kleinwohnungen, nur ein geringer Prozentsatz in den Wohnhausbauten der Gemeinde Wien, berichtet Die Frau 1932. Und noch krasser tritt dieses Leid der arbeitenden Frauen im Kapitel „Die Familienerhalterin“ hervor. Fast 83 Prozent aller Arbeiterinnen sind Selbst- oder Familienerhalterinnen […].

„So leben wir… 1320 Industrie­arbeiterinnen berichten über ihr Leben“ erscheint 1932. Die daraus abgeleiteten Forderungen formuliert Käthe Leichter am Schluss des Buches: es muß nicht sein, daß die Arbeiterinnen für die gleiche Arbeitsleistung weit schlechter entlohnt werden als die Männer; es muß nicht sein, daß Frauen, die den ganzen Tag schwer arbeiten, kein Zuhause haben oder eine überfüllte Wohnung, in der kein Schlafraum, oft kein Bett ihnen gehört; es muß nicht sein, daß für viele Arbeiterinnen der Begriff „Freizeit“ überhaupt nicht existiert…

Neben ihrer Forschungsarbeit ist Käthe Leichter auch als Vortragende tätig und publiziert regelmäßig in diversen Zeitschriften; 1933 etwa verfasst sie in „Arbeit und Wirtschaft“ die erste Rezension der bahnbrechenden Studie Die Arbeitslosen von Marienthal.

In der Illegalität

Nach dem Februar 1934 engagiert sich das Ehepaar Leichter bei den Revolutionären Sozialisten. Sogar der zehnjährige Heinz weiß Bescheid, wo illegales Material versteckt ist – in den unaufgeschnittenen Seiten der Stresemann-Biographie. Im Frühjahr 1938 wird die Situation allerdings lebensbedrohend, Otto Leichter gelingt die Flucht in die Schweiz. Mein Vater hat damals jeden Tag intensiver aus dem Ausland gedrängt, sie solle doch um Gottes willen alles stehen lassen und über die Grenze gehen. Darauf hat sie gesagt: ‘Ich verstehe den Otto überhaupt nicht, man darf doch nicht die Nerven verlieren, berichtet Heinz Leichter.

Käthe Leichter wird am 30. Mai 1938 von der Gestapo verhaftet und zunächst ins Hotel Metropol am Morzinplatz, später ins Wiener Landesgericht gebracht, wo sie mehrere Monate in Einzelhaft verbringt. Hier schreibt sie ihre Erinnerungen nieder und widmet diese ihren Söhnen – Heinz und Franz gelangen mit Hilfe von Freunden ins sichere Ausland und werden später in den USA Karriere machen, Heinz als Rechtsanwalt und Franz als Politiker der Demokraten; 1974 wird er Senator des Bundesstaates New York.

Frieda Nödl gelingt es, Käthe Leichters Erinnerungen aus dem Gefängnis zu schmuggeln, heute befinden sie sich im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes.

Das Ende

Heute noch sehe ich Käthe auf dem Lastwagen sitzen in der bitteren Kälte, die blauen Augen auf uns gerichtet. Winkend fuhr sie ab. Wir sahen sie nie wieder.Rosa Jochmann

Im Januar 1939 wird Käthe Leichter in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, wo sie auf Rosa Jochmann trifft. Diese erinnert sich 1984: Sie war nicht mutlos und veranstaltete alle möglichen Gedenkfeiern. Zum 1. Mai, am 12. November, am 15. Juli. Alles war gut getarnt und flog nie auf.

Im März 1942 wird Leichter zusammen mit 1.500 jüdischen Häftlingen in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg an der Saale abtransportiert, wo sie im Zuge des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms „Aktion 14f13“ getötet wird. 

Die Nachricht von Käthe Leichters Ermordung geht um die Welt. Die Austrian Labor Information in New York publiziert einen ausführlichen Lebenslauf sowie Wilhelm Ellenbogens Gedenkworte: Es entspräche nicht der Würde und nicht dem Charakter Käthe Leichters, an ihrem Grabe weibisch zu klagen. Sie ist ein Held gewesen [...] Ihr Bild vor Augen gehen wir frohen Mutes an die harte Arbeit der Gegenwart, um unseren Anteil an dem geschichtlichen Aufbauwerk der Zukunft zu leisten.

Links
ÖsterreicherInnen im KZ Ravensbrück
Käthe Leichter im DÖW
Gedenkstätte für Opfer der NS-„Euthanasie“ Bernburg
Literatur
Wie leben die Wiener Hausgehilfinnen, 1926
Wie leben die Wiener Heimarbeiter? Eine Erhebung über die Arbeits- und Lebensverhältnisse von tausend Wiener Heimarbeitern“, 1928
Handbuch der Frauenarbeit in Österreich, 1930
So leben wir… 1320 Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben, 1932
Rosa Jochmann, Zeitzeugin, 1984
Käthe Leichter. Leben, Werk und Sterben einer österreichischen Sozialdemokratin, herausgegeben von Herbert Steiner, 1997

110 Jahre Verein „Einigkeit“

Verband der Hausgehilfinnen

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