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Aktuelle Seite: Mehr als nur ein Leben – Stefan Wirlandner
0001 | 4. Januar 2021    Text: Lilli Bauer & Werner T. Bauer

Mehr als nur ein Leben – Stefan Wirlandner

Hutmacher-Lehrling, Laufbursche im Bankhaus Castiglioni, Buchhalter am Theater in der Josefstadt, Statistiker der Wiener Arbeiterkammer, Sendungs­gestalter für Radio Wien, Geheimagent in Istanbul, linker Nationalökonom und einer der „Väter“ der österreichischen Sozialpartnerschaft auf Arbeitnehmerseite – gleich zu Beginn unseres neuen Blogs gedenken wir eines jener zu Unrecht „Vergessenen“. Halten Sie sich fest!

Stefan Wirlandner wird am 11. Dezember 1905 als Sohn eines Handwebers in Wien geboren. Seine unveröffentlicht gebliebenen Erinnerungen zeichnen das Bild einer Zeit, die uns heute unfassbar fern erscheint.

Mein Vater wurde, sobald er das zwölfte Lebensjahr erreicht hatte, an den Webstuhl gestellt. Ein Handweber muß mit drei Gliedmaßen tätig sein, d.h. mit seinen beiden Händen und dem rechten Fuß, mit dem er das Trittbrett bedient, während er am linken Fuß stehend den Körper im Gleichgewicht halten muß. Da mein Vater frühzeitig zu dieser Arbeit angehalten wurde, ergab sich, daß sein rechter Fuß […] eher im Wachstum gefördert wurde, der linke Fuß aber […] zurückblieb. Das führte dazu, daß er zeit seines Lebens leicht hinkte, was allerdings wieder dazu führte, daß er vom Kriegsdienst befreit, den Ersten Weltkrieg überlebte.

Der Vater, der sicher nie Marx gelesen hatte, aber ein glühender Verehrer des später ermordeten Arbeiterführers Franz Schuhmeierwar, vermittelte dem Sohn Bausteine eines Weltbildes, die ihn in die Lage versetzten, eine Weltanschauung zu entwickeln.

Meine Eltern hatten zahlreiche Geschwister. Da die Kinder­sterblichkeit groß war, wechselten sich in beiden Familien Hebammen und Leichenbestatter in regelmäßigem Rhythmus ab.

Die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Familie sind, genauso wie die der meisten Familien, überaus trist: Meine Eltern hatten zahlreiche Geschwister. Da die Kindersterblich­keit groß war, wechselten sich in beiden Familien Hebammen und Leichenbestatter in regelmäßigem Rhythmus ab. Da die Frauen ihre Kinder in diesen Werkstätten-Wohnungen zur Welt brachten, gab es auch unter den Frauen eine hohe Sterblichkeitsrate. [...] An meine Mutter kann ich mich nicht erinnern. Da mir die Dokumente fehlen, kann ich nur aus meiner Erinnerung sagen, daß sie vermutlich im Jahr 1907/08 an Lungentuberkulose starb. Ich war damals also etwa zwischen zwei und drei Jahre alt.

Stefan Wirlandner wächst bei einer Pflegefamilie auf, besucht bis zu seinem 14. Lebensjahr die „Bürgerschule“ und tritt 1920, da das Geld für eine Fachschule für Elektrotechnik bald nicht mehr reicht, als Lehrling in die Hutfabrik Pollak & Bruder ein. Ich wurde also Hutmacher, und zwar im wesentlichen deshalb, weil der Gatte meiner Zitherlehrerin in diesem Betrieb Werkmeister war und einen Lehrling suchte. Mir blieb nichts anderes übrig, als diese ‚Berufung‘ zu akzeptieren. Im selben Jahr tritt er, der offenbar sehr rasch eine Weltanschauung entwickelt hatte, der Sozialistischen Arbeiterjugend in Rudolfsheim bei und gründet bald darauf eine eigene Fachgruppe unter den jugendlichen Hutmachern und Strohhutnäherinnen.

Fleiß und rasche Auffassungsgabe erleichtern einen bescheidenen beruflichen Aufstieg. Wirlandner wechselt als „Laufbursche“ ins Bankhaus des Spekulanten Camillo Castiglioni, kann auf Firmenkosten Kurse an der Wiener Handels­akademie besuchen und avanciert bald zum „Hilfsbeamten der Buchhaltung“. Nach dem Zusammenbruch des skandalumwitterten Bankhauses und einem kurzen „Gastspiel“ als Buchhalter am Theater in der Josefstadt, findet er eine Anstellung bei der Lehrlingsfürsorgeaktion des Bundesministeriums für soziale Verwaltung.

Der Weg in die Arbeiterbewegung

Doch schon bald kündigt sich eine weitere Wende in seiner beruflichen Laufbahn an. Am 14. August 1926 wurde mir durch den Leiter der Arbeiterhochschule, Josef Luitpold Stern, mitgeteilt, daß meine Aufnahme bewilligt sei. Die Schuldauer währte vom 3. Oktober 1926 bis Ende März 1927. Ich erhielt in der Schule Wohnung, Versorgung, Bücher und allmonatlich ein Taschengeld von S 50.-. […] Otto Bauer unterrichtete Nationalökonomie und ich entdeckte sehr bald meine Vorliebe für diesen Gegenstand. Zwei- oder dreimal hatte ich die Chance, vor Otto Bauer Kurzreferate aus diesem Wissensgebiet zu halten, und ich glaube, daß auch mein Abschlußreferat [...] einen guten Eindruck hinterließ. In den letzten Tagen unseres Schulbesuchs ließ mich Otto Bauer wissen, er werde sich für meine Aufnahme in die Volkswirtschaftliche und Statistische Abteilung der Wiener Arbeiterkammer einsetzten. Tatsächlich wurde ich wenige Wochen nach Verlassen der Schule von dem damaligen Leiter dieser Abteilung, Dr. Benedikt Kautsky, gerufen, der mir einen Beamtenposten in der Kammer anbot. [...] Benedikt Kautsky verwendete mich auch zum Korrekturlesen des jährlich erscheinenden „Wirtschafts­statistischen Jahrbuches der Wiener Arbeiterkammer“ und Anton Proksch, der spätere Generalsekretär des ÖGB, veranlasste mich, Beiträge für die Halbmonatszeitschrift des damaligen Bundes freier Gewerkschaften, „Arbeit und Wirtschaft“, zu schreiben.

Zum „Bürohengst“ wird Stefan Wirlandner deshalb aber nicht. Regelmäßig referiert er in den Lehrlingssektionen der freien Gewerkschaften – etwa über Themen wie „Wege zur Arbeitsbeschaffung“ oder – welch Ironie – „Der Nationalsozialismus in der Krise“. Und auf Radio Wien sammelt er als Gestalter der wöchentlichen Sendung „Stunde der Arbeiterkammer“ erste Erfahrungen mit dem neuen Medium.

Als Mitglied der Sozialistischen Jungfront ist er auch regelmäßig auf der Straße zu finden: Zu einer neuerlichen Konfrontation mit der Polizei kam es [...] 1933 gelegentlich einer Protestdemonstration der ‚Jungen Front‘ [sic!] in Schönbrunn. Diese Demonstration verlief an sich harmlos, die Polizei ging allerdings mit Verhaftungen vor […]; ich wurde zu einer Polizeistrafe von acht Tagen Arrest oder Erlegung eines bestimmten Strafbetrages verurteilt. Im Berufungswege wurde die Haftzeit auf 24 Stunden reduziert und die habe ich auch abgesessen.

Es folgt der Februar 1934: Durch den Verrat des Bezirkskommandanten kam der Fünfhauser Schutzbund nicht zum Einsatz und deshalb blieb unser Bezirksteil von militärischen Auseinandersetzungen verschont. Nachdem in der Arbeiterkammer mein politisches Vorleben bekannt war, erfolgte Ende Februar meine fristlose Entlassung.

Wie viele junge Genossen engagiert sich Wirlandner im Widerstand gegen das „System Dollfuß“, gibt eine Wochenzeitung heraus und nimmt an „konspirativen Treffen“ teil. Lange kann das nicht gut gehen. Ich wurde [Ende 1935, Anm.] im Zusammenhang mit der Brünner Konferenz der Revolutionären Sozialisten verhaftet, erhielt zunächst eine Polizeistrafe von sechs Monaten, wurde aber noch vor Ablauf dieser Frist in das Landesgericht I unter dem Verdacht des Hochverrats eingeliefert.

Der Alltag im Polizeigefangenenhaus

Es gab sowohl im Polizeigefangenen­haus als auch im Landesgericht Möglichkeiten, mit „Komplizen“ Kontakte herzustellen, um die Aussagen aufeinander abzustimmen. Im Polizeigefangenenhaus wurde die Technik des ‚Schnürlziehens‘ angewendet. Drei oder vier übereinander gelagerte Zellen schufen durch das Auf- und Abziehen einer besonders präparierten Schnur die Möglichkeit, Kassiber (geheimeMitteilungen, Anm.) von einem Stockwerk zum anderen zu bringen. Von diesen „Poststellen“ in jedem Stockwerk wurde das Material gelegentlich des Spazierganges oder des Waschens von einer Zelle zur anderen geschmuggelt […]. Im Landesgericht hatten die Häftlinge bald herausgefunden, daß durch das totale Ausschöpfen des WC’s in den übereinander gelagerten Zellen ein perfektes Sprechsystem eingerichtet werden kann […].All diese Verständigungsversuche hätten scheitern müssen, wenn die Gefängnisaufseher systemtreu gewesen wären. Das waren sie aber nicht. Unter ihnen gab es immer welche, die ihrer Überzeugung nach den Gefangenen näherstanden als dem Regime und deshalb bereit waren zu kooperieren.

Als Mitglied der illegalen Revolutionären Sozialisten ist Stefan Wirlandner, gemeinsam mit dem jungen Bruno Kreisky, einer der Angeklagten im Sozialistenprozess von 1936. Er wird freigesprochen, heuert als Textilarbeiter an und betätigt sich in der illegalen Gewerkschaftsorganisation. Dabei lernt er auch den späteren Wiener Bürgermeister Felix Slavik kennen, der in einer benachbarten Kleiderfabrik beschäftigt ist.

Im März 1938 wurde Österreich besetzt […]. Da unsere Firmeninhaber jüdischer Abkunft waren, drohte uns die Betriebsschließung. In diesen Tagen bemühte ich mich, die beiden Firmeninhaber zu überzeugen, daß ihnen nur rascheste Flucht ins Ausland Leben und etwas Vermögen sichern könne. […] Tatsächlich gelang es ihnen, eine Ausreisebewilligung zu erhalten. […] Noch ehe das Geschwisterpaar Sachs-Kirchberger Wien verließ, vereinbarte ich für den Notfall, daß sie sich für mich und meinen Vater um eine Arbeitsbewilligung im britischen Homeoffice bemühen würden. Der mit ihnen in vorsichtiger Weise geführten Korrespondenz konnte ich im Sommer 1938 entnehmen, daß dafür eine Chance bestand. […] Ich hatte bald herausgefunden, daß mein Vater ohne besondere Schwierigkeiten einen Reisepaß und die Bewilligung für eine Reise nach Großbritannien erhalten könnte. Für mich war das wesentlich schwieriger.

Auf der Flucht

Vater und Sohn Wirlandner reisen nach England, müssen Mitte des Jahres 1939 allerdings aus privaten Gründen nach Wien zurückkehren und erhalten wie durch ein Wunder – die deutsche Gründlichkeit hatte versagt – eine neuerliche Reisegenehmigung.

Nach Kriegsbeginn wird Stefan Wirlandner als „feindlicher Ausländer“ festgenommen, zunächst in ein Internierungslager in der Nähe von Bristol und anschließend mit einigen hundert anderen Österreichern nach Kanada verbracht. Er meldet sich freiwillig zum Kriegsdienst, darf nach Großbritannien zurückkehren und wird Anfang 1941 tatsächlich in die britische Armee aufgenommen.Ich hatte während meiner Haft im Landesgericht Wien „Schwejk“ gelesen und ich versuchte, dieser Figur in der britischen Armee nachzuleben. Ich drückte mich vor jedem Drill und nahm jede Anweisung in Kauf, die mir Gelegenheit bot, in Frieden die Stunden zu verbringen.

Im Herbst 1941 wird er nach London bestellt und dort wurde mir der Auftrag gegeben, mich bei unserem Londoner Clubobmann Dr. [Oscar, Anm.]Pollak zu einem Informationsgespräch zu melden. […] Die Verantwortlichen im War-Office hatten sich zu diesem Zeitpunkt offenbar entschlossen, den sogenannten „psychologischen“ Krieg einzuleiten. […] Den österreichischen Sozialisten wurde die Chance geboten, über eine eigene Station Sendungen nach Österreich abzuwickeln. Durch die Büroleitung, zu deren einflussreichen Leuten damals auch Karl Czernetz gehörte, hatte man für diese Tätigkeit ein Team, bestehend aus Mitzi Jahoda, Walter Wodak und mir vorgeschlagen. Mit Marie Jahoda und Walter Wodak, zwei Mitarbeitern der berühmten Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“, gestaltet er nun täglich eine achtminütige Radiosendung für Österreich.

Es hat sich ausgeschwejkt…

Im Februar 1943 tritt Wirlandner einer Spezialtruppe österreichischer Exilanten bei und erhält einen sechswöchigen Crashkurs in der Handhabung von Feuerwaffen, im Umgang mit Sprengmitteln und im Fallschirmspringen. Erster Einsatzort ist Kairo, von dort geht es mit der Bahn nach Istanbul, wo er geheimdienstlich tätig ist, offiziell aber als Engländer in den Diensten der „United Kingdom Commercial Corporation“ steht. Über Kairo gelangt er nach Süditalien, wo die Alliierten mittlerweile gelandet sind. Im Frühjahr 1945 ist Wirlandner im bereits befreiten Lyon, über die Schweiz kann er sich mit Hilfe der Amerikaner auf abenteuerliche Weise nach Wien durchschlagen.

Natürlich bot sich die Idee an, dort fortzusetzen, wo ich im März 1934 aufgehört hatte […]. Ich begann mich also um die Arbeiterkammer zu kümmern und mit [Josef, Anm.]Staribacher, dessen Bekanntschaft ich über Bruno Pittermann gemacht hatte, begab ich mich in das alte Kammergebäude in der Ebendofer­straße 7, um uns einmal klar zu werden, wie die Wiederbelebung dieser Institution in die Wege zu leiten wäre.

Als Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung und Kammeramts­direktor-Stellvertreter ist Stefan Wirlandner, der „so nebenbei“ noch ein Studium der Sozialwissen­schaften an der Universität Wien absolviert, einer der Hauptunterhändler der Währungsreform und der fünf Preis- und Lohnabkommen. Er beeinflusst eine ganze Generation von Nationalökonomen der „linken Reichshälfte“ und gilt als einer der „Väter“ der österreichischen Sozialpartnerschaft auf Arbeitnehmerseite.

Ich hatte in der Zwischenzeit das parlamentarische Getriebe kennengelernt und mir war klar, daß man ohne „Hausmacht“ sich kaum in der politischen Bewegung unangefochten halten kann.

In die Politik drängt es ihn nicht mehr. Ich hatte in der Zwischenzeit das parlamentarische Getriebe kennengelernt und mir war klar, daß man ohne „Hausmacht“ sich kaum in der politischen Bewegung unangefochten halten kann. Aber der Aufbau einer solchen Hausmacht verlangt viel Zeit und oftmals sorgsames Lavieren zwischen Blöcken. Ich hatte auch meine Stellung als Experte recht interessant gefunden, hatte mich eingearbeitet und hätte nunmehr den größten Teil dieser Tätigkeit aufgeben müssen. Ich lehnte deshalb ab.

Stefan Wirlandner, der auch noch nach seiner Pensionierung in unterschiedlichen Positionen aktiv bleibt, stirbt am 4. Januar 1981, heute vor 40 Jahren, in Wien.

Seine Tochter Susanne überließ der Ausstellung „Das Rote Wien im Waschsalon Karl-Marx-Hof“ die Schutzbundjacke ihres Vaters als Leihgabe und stellte eine Reihe von Dokumenten zur Verfügung.

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